Stadtzentrum, an der Kreuzung von Decumanus und Cardo, Beginn der elften Stunde
[17:20 h]
Der Festzug wollte kein Ende nehmen. Wagen reihte sich an Wagen, Ross an Ross, Kohorte an Kohorte. Das Pflaster hallte wider vom Marschtritt der Legionäre, vom Stampfen der Pferde, vom Geklimper der Kupfermünzen, die allenthalben unters Volk gestreut wurden. Im Mittelpunkt standen jedoch die Soldaten. Sie waren es, die dem Schauspiel den Stempel aufdrückten, allen voran die Palasttruppen, unter denen sich Einheiten aus aller Herren Länder befanden. Kein Landstrich, der hier nicht vertreten war, angefangen bei Söldnern aus Britannien, rothaarig, bärtig und mit heller Haut, welche die Schaulustigen um Haupteslänge überragten, über jene aus den Wäldern rechts des Rheins, muskulös, hünenhaft und mit Knoten im blonden Haar, bis hin zu den Bogenschützen, von denen ein Großteil aus dem Orient und hier wiederum aus Syrien stammte. So vielfältig ihre Herkunft, so zahlreich waren auch die Feldzeichen, welche die Standartenträger präsentierten. Schlange und Wolf, Adler, Löwe und Stier, Sonne, Mond, Sterne und Siegeskränze, auch hier kein Emblem, das nicht vertreten, keine Trophäe, die der zu Tausenden zählenden Menge nicht präsentiert wurde.
Spektakel dieser Art standen hoch im Kurs, und der Imperator gab, wonach das Volk verlangte. Do, ut des!, lautete das Motto, und obwohl das Gerücht umging, der Kaiser leide an einem Fieber, war er dennoch allgegenwärtig. Schautafeln auf Tragestangen, von jeweils vier Legionären getragen, kündeten von seinen Taten, rühmten seine Mildtätigkeit, priesen seine Tugenden. Breiten Raum nahm dabei die Schlacht bei Saxa Rubra ein, eine wichtige, wenn nicht gar die wichtigste Tat, welche Konstantin in den vergangenen sieben Jahren vollbracht hatte. Zwischen ihm, dem Sohn einer Stallmagd, und der Alleinherrschaft stand jetzt nur noch sein Rivale Licinius, und jeder rechnete damit, dass die Tage, in denen jener über die Osthälfte des Imperiums herrschte, gezählt waren.
Doch war dies nicht die Stunde, um düstere Gedanken zu hegen. Dies war ein Festtag – und ein höchst denkwürdiger dazu. Wagen mit Beutewaffen durften da natürlich nicht fehlen, gefolgt von Feinden, die den Römern in die Hände gefallen waren. Die Schaulustigen sahen es mit Genugtuung, übergossen die Gefangenen, welche einer unsicheren Zukunft entgegengingen, mit ätzendem Hohn. Nicht genug damit, machten Spottlieder die Runde, Beleidigungen, Fußtritte und Hiebe inbegriffen. Hie und da flogen sogar Abfälle durch die Luft, von Gesten, die unter gesitteten Menschen verpönt waren, nicht zu reden.
Wenig Aufmerksamkeit und noch weniger Applaus wurden dagegen den Magistraten zuteil, im Volk, das die Prachtstraße säumte, nicht sonderlich beliebt. Aus Anlass des Regierungsjubiläums durfte eine Abordnung des römischen Senats nicht fehlen, gefolgt von Günstlingen, deren Rangordnung genau festgelegt war. Zuerst kamen die ›Clarissimi‹, zu denen unter anderem die Provinzstatthalter und Senatoren gehörten. Dann die ›Spectabiles‹ und nach ihnen wiederum die ›Illustres‹, also die Konsuln, Patrizier, hohe Militärs und obersten Hofbeamten. Erst danach und in gebührendem Abstand folgte eine Abordnung der Stadt Treveris, argwöhnisch beäugt von den Schaulustigen, welche nicht jedem der Ratsmitglieder mit Sympathie begegneten. Das Gleiche galt für die Priesterschaft, der die Opfertiere, unter ihnen ein weißer Stier, auf dem Fuße folgten.
Doch dann, geraume Zeit später, brandete erneut Jubel auf, untermalt vom Schmettern der Fanfaren, dem Wirbel der Trommeln und den Lobpreisungen der Claqueure, die sich auf Geheiß des Prätorianerpräfekten unters Volk gemischt hatten. Der Triumphwagen des Kaisers nahte, auch er beladen mit Beutegut, Bergen von Schmuck, kostbaren Vasen, schimmernden Rüstungen und fremdartigen Feldzeichen. Mittelpunkt des Gepränges war das Bildnis des Kaisers, überlebensgroß und mit einem Rahmen aus purem Gold. Im Vergleich dazu nahm sich dasjenige der Kaiserin fast schon kümmerlich aus, und es gab nicht wenige, die sich ihren Teil dachten.
Darüber zu reden, ziemte sich freilich nicht. Außerdem war es viel zu gefährlich, konnte man doch nie sicher sein, dass kein Spitzel in der Nähe war. Besser, nicht unangenehm aufzufallen, und noch besser, nicht laut über das Kaiserhaus nachzudenken. So lautete das Gebot der Stunde.
Kein Wunder also, dass nicht alle Treverer in Feierlaune waren. War es doch ungewöhnlich, ja geradezu alarmierend, dass der Kaiser dem Spektakel ferngeblieben war. Und das ausgerechnet an einem solchen Tag. Was, fragten sich nicht nur Skeptiker, war eigentlich passiert? Weshalb nahm der Imperator nicht an den Festlichkeiten teil? Wozu die vielen Aufpasser, die sich unters Volk gemischt hatten? Und wozu die waffenstarrende Phalanx, die vor dem Palastareal in Stellung gegangen war?
Fragen über Fragen, aber am besten, man hielt sich mit Spekulationen zurück. Das tat auch Gaius Aurelius Varro, wenngleich aus gänzlich anderem Grund. Der Kasus, an dem er sich die Zähne auszubeißen drohte, ließ ihm keine Ruhe und war der Grund, weshalb er kaum etwas mitbekam. Sehr spät erst, als sein Blick den Prunkwagen mit dem Kaiserbildnis streifte, schreckte er aus seinen Gedanken auf, die Augen bald auf dem Porträt, bald auf seinem eigenen Ring mit der auffälligen Gravur.
Varro runzelte die Stirn. Treue!, durchfuhr es ihn, welch nobles Wort. Treue zu einem Mann, der nicht zögern würde, seine Gegner mundtot zu machen. Loyalität zu einem Herrscher, dessen wahres Gesicht hinter einer Mauer aus Pomp, Prunk und Drohgebärden verschwunden war.
Treue dem Kaiser – und wozu?
»Und was jetzt?« Es war Probus, der ihn wieder in die Gegenwart holte, einer der wenigen, auf die er sich verlassen konnte. »Du willst doch nicht etwa den Fall hinschmeißen, oder?«
»Wo denkst du hin!«, rief Varro und ließ den Blick über die Köpfe der Menge schweifen. Von Aspasia, die sich auf den Weg in die Villa Aurelia gemacht hatte, war jedoch nichts mehr zu sehen. »Jetzt erst recht!«
Probus, dem wieder einmal nichts entging, quittierte es mit einem Schmunzeln. »Keine Angst, sie findet den Weg auch allein.«
»Deine anzüglichen Bemerkungen kannst du dir sparen!«, blaffte Varro, knallrot im Gesicht. »Sag mir lieber, was du herausbekommen hast.«
»Tja, wie heißt es doch gleich: Amor vincit omnia.«
»Was nuschelst du da in deinen Bart?«
»Ich? Nichts – überhaupt nichts.« Da er es nicht auf einen Streit ankommen lassen wollte, machte Probus eine entschuldigende Geste, zog Varro beiseite und eskortierte ihn zu einer Laube, an der er zwei Becher Wein bestellte. »Hier, nimm – ich geb einen aus.«
Varro zögerte. »Dein Gemüt wollte ich haben!«, seufzte er, nahm dann aber doch einen Schluck. »Einen Anlass zum Feiern gibt es ja wohl kaum.«
»Doch.«
»Und welchen?«
Der Medicus trank aus, schloss die Augen und schnalzte genüsslich mit der Zunge. »Kopf hoch, alter Junge!«, munterte er Varro auf, »noch ist nicht aller Tage Abend. Nachdem er verarztet war, hat mein Patient tabula rasa gemacht. Und alles brühwarm ausgeplaudert.«
»Da bin ich aber gespannt.«
»Kann ich mir denken!«, versetzte Probus, bestellte sich einen weiteren Becher und dämpfte den Ton. »Halt dich fest, alter Junge. Es gibt Neuigkeiten.«
»Und die wären?«
»Niger wurde erpresst.«
»Erpresst? Und von wem?«
»Na von wem wohl, denk doch mal nach! Von Maximinus. Gesetzt den Fall, der Retiarius ließe seinen Gegner nicht gewinnen, würde es seine Familie zu spüren bekommen. Das waren seine Worte.«
Der Advocatus horchte auf. »Familie?«, rief er aus. »Habe ich da eben richtig …«
»Hast du, Herr Anwalt, hast du.« Probus grinste breit. »Niger war in festen Händen. Und Vater.«
»Beim Bacchus, da bleibt einem glatt die Spucke weg!«
»Da staunst du, was?« Kaum gefüllt, war der Becher des Medicus auch schon leer. »Das Interessante daran: Nach dem Kampf hat sich der Liebling der Massen aus dem Staub gemacht. Guck nicht so, auch Gladiatoren haben ihre Bedürfnisse! Im Ernst – ohne Bestechung geht auch bei denen nichts. Bedeutet: Er hat die Wachen geschmiert und ist abgehauen. Rate mal, wohin – aber nur dreimal.«
»Moment mal, willst du damit andeuten, er war …«
»Tut mir leid, da muss ich dich enttäuschen. Verheiratet war er nicht. Das ändert aber nichts daran, dass er ein Kind in die Welt gesetzt hat.«
»Niger? Bist du dir da auch ganz sicher?«
»Hahaha, der Herr Anwalt hat einen Witz gemacht – sag du mal was über mich!« Der Medicus spendete spöttisch Applaus. »Wie gesagt: Verheiratet war er zwar nicht, aber das will ja nicht viel heißen.«
»Trevererin?«
Probus nickte. »Lebt in einer Insula, zusammen mit ihrem Sohn. Wovon, weiß keiner so genau. 24 Jahre alt, blond und Myron zufolge ansehnlich, um nicht zu sagen attraktiv – ich denke, wir sollten der Dame einen Besuch abstatten.«
»Ganz deiner Meinung!«, entgegnete Varro und trieb seinen Freund zur Eile an. »Auf geht’s, oder willst du hier Wurzeln schlagen?«
»Gemach, Bücherwurm, gemach. Das war noch nicht alles.«
Im Gehen begriffen, hielt Varro inne. »Ich höre?«
»Myron sagt, Niger habe sich ihm gestern Abend anvertraut. Und jetzt halt dich fest: Man wollte ihn nötigen, den Secutor gewinnen zu lassen.«
»Jetzt haut es mich aber gleich um!«
»Was mich betrifft, war ich genauso überrascht wie du.« Der Medicus runzelte die Stirn. »Nötigen ist anscheinend noch untertrieben. Schenkt man Myron Glauben, muss ihn der Lanista regelrecht erpresst haben. Tenor: Entweder du verlierst oder du bist die längste Zeit Familienvater gewesen. Friss oder stirb, Niger – eine andere Möglichkeit gibt es nicht!«
Zu verdutzt, um einen Kommentar abzugeben, ließ sich Varro nachschenken. »Na warte, Freundchen!«, murmelte er, »jetzt geht’s dir an den Kragen!«
»Falls du auf Maximinus anspielst – ich denke, der ist bei Syphax in guten Händen. Zumindest vorübergehend.« Probus klopfte seinem Freund auf die Schulter. »Gute Idee, das mit dem Hausarrest. Stell dir vor, man würde das bei allen Gaunern machen, dann wäre hier viel weniger los!«
»Wie gesagt: Dein Gemüt wollte ich haben.«
»Und ich deinen Stock, wenn ich zu viel intus habe.« Probus grinste vergnügt. »Jetzt guck nicht so, man wird doch wohl einen Scherz machen dürfen, oder?«
»Wenn’s sein muss«, versetzte Varro, trank aus und bedeutete dem Medicus, ihm zu folgen. »Nur fürchte ich, dass uns das Lachen noch vergehen wird.«