XXIII

Töpferviertel, eine Viertelstunde später

[17:40 h]

Der Junge fiel Varro sofort auf. Er war höchstens sieben, trug eine verschlissene Tunika und saß einsam und verlassen an der Straßenkreuzung, auf die Probus und er zusteuerten. Im Moment, zwei Stunden vor Sonnenuntergang, herrschte dort dichtes Gedränge, und es schien, als nehme kein Mensch Notiz von ihm.

Der Anwalt verlangsamte seinen Schritt. Herumtreiber, Bettler und Kinder, um die sich niemand kümmerte, waren keine Seltenheit. Hier, eine halbe Meile vom Forum entfernt, traten sie jedoch in Massen auf. Schmutz und Elend waren allgegenwärtig, und wer nicht aufpasste, war seine Geldbörse los. Statt Villen, die es nördlich des Decumanus dutzendweise gab, traf man auf heruntergekommene Mietskasernen, statt Prachtbauten auf Lehmziegel, enge Gassen und den Geruch, der aus den Tuchwalkereien ins Freie drang. Leute wie Varro, die über die Geschicke der Stadt bestimmten, traf man hier selten, dafür aber Fuhrleute, Eseltreiber, Lastenträger, Lumpensammler, Sackträger und all jene, die von der Hand in den Mund lebten. Die Werkstätten der Färber grenzten an Wollwäschereien, Gerbereien an Imbissstuben, Hinterhöfe, auf denen Matten geflochten wurden, an Mietställe, aus denen einem der Geruch von Pferdemist entgegenwehte.

Besonders streng, um nicht zu sagen infernalisch, roch es jedoch vor den Tuchwalkereien. Kein Römer, der etwas auf sich hielt, würde in einen der steinernen Bottiche steigen, gefüllt mit Wasser, Walkerde, Soda und Urin. Das sah nicht nur nach Schwerstarbeit aus, das war es auch, eine Plackerei, bei der hauptsächlich Sklaven eingesetzt wurden. Das roch nicht nur, das stank zum Himmel.

Überhaupt – der Gestank. Und dazu dieser Lärm, der zwischen den Häuserwänden hin und her wogte. Das Rumpeln der Wagenräder, das Geschrei der Fischverkäufer, das Gebell der Hunde, das Gezänk zweier Matronen, die einander mit Schimpfwörtern überhäuften und nicht zuletzt auch die Lockrufe zweier Liebesdienerinnen, die vor einem Lupanar auf Kundschaft warteten. Varro seufzte gequält. Anstatt einen Fall zu lösen, der sich als äußerst kompliziert erwies, hätte er jetzt in seinem Studierzimmer sitzen, die Annalen des Tacitus studieren und an seiner Kriminalgeschichte arbeiten können. Warum, in der Götter Namen, tat er sich das an? Warum hetzte er kreuz und quer durch Treveris und legte sich mit Leuten an, denen man besser aus dem Weg ging? Weshalb arbeitete er an einem Fall, bei dem man keine Lorbeeren ernten, dafür aber jede Menge Scherereien einheimsen konnte? Und warum kümmerte er sich um Dinge, die ihn nichts angingen, um Kinder, die mutterseelenallein am Straßenrand hockten?

Er wusste es nicht.

»Hier soll sich mal einer auskennen«, grummelte Probus und sah sich Hilfe suchend um. »Nach Myrons Beschreibung müssten wir längst da sein.«

»Halb so wild«, antwortete Varro, machte eine beschwichtigende Geste und steuerte auf den Jungen zu. »Wir können ja jemanden fragen.«

Auf sich selbst konzentriert, würdigte ihn dieser zunächst keines Blickes. Stattdessen hantierte der Knabe an einer selbstgebastelten Schleuder herum, zielte auf einen Spatzen und zog den Lederriemen, in dem sich ein Kieselstein befand, bis zum Anschlag durch. Dann aber, offenbar aus Überdruss, ließ er die Waffe sinken.

Ohne ihn anzusprechen, blieb Varro stehen und ließ den Blick auf der schmächtigen Gestalt ruhen. Seine Haut war dunkel, dunkler, als es bei den Treverern üblich war. Das Gleiche galt für das Haar, gelockt, pechschwarz und allem Anschein nach kaum zu bändigen. Die Augen hingegen waren blau, die Stirn hoch, und der Blick, mit dem er Varro musterte, so abgeklärt, dass sich der Eindruck aufdrängte, er habe es mit einem Erwachsenen zu tun. »Kennst du dich hier aus?«, brach der Anwalt schließlich das Schweigen, bemüht, einen freundlichen Ton anzuschlagen. »Ich glaube, mein Freund und ich haben uns verlaufen.«

Keine Antwort. Anstatt etwas zu erwidern, ließ der Junge den Blick auf Probus und danach auf dem sichtlich verdutzten Anwalt ruhen, gerade so, als habe er zum ersten Mal einen Mann mit einer weißen Toga gesehen.

»Hier, das ist für dich.« In seiner Not kramte Varro ein paar Kupfermünzen hervor und machte Anstalten, sie dem Jungen in die Hand zu drücken. Wie zuvor zeigte der jedoch keinerlei Reaktion. Mehr noch, er zog die Hand, welche auf seinem Knie ruhte, blitzschnell zurück. »Warum so abweisend? Vor mir brauchst du keine Angst zu haben.«

Weiterhin Schweigen.

»Antworte, oder bist du taub?«

»Muss das sein, Probus?« Um Schlimmeres zu verhüten, schob Varro den Medicus beiseite, ging in die Hocke und sah dem Jungen in die Augen. Es waren schöne Augen, blau wie ein Gebirgssee im Morgenlicht. »Wie gesagt«, flüsterte er, nachdem er Probus einen missbilligenden Blick zugeworfen hatte, »vor mir und diesem Hitzkopf von einem Medicus brauchst du keine Angst zu haben. Wir meinen es gut mit dir.«

»Wirklich?« Die Antwort kam ebenso schnell wie überraschend. »Ihr Erwachsenen seid doch alle gleich!«

»Findest du?« Varro erhob sich, steckte die Münzen wieder ein und trat beiseite, um ein mit Tuchballen beladenes Fuhrwerk passieren zu lassen. Dann wandte er sich erneut dem Jungen zu. »Ich fürchte, da muss ich dir widersprechen.«

Aufs Neue blieb dieser die Antwort schuldig, hob einen Stein auf und wog ihn in der Hand.

»Wie du willst.« Es war eine bewährte Finte, derer sich Varro bediente, erprobt vor allem im Umgang mit seinem Neffen, wenn dieser wieder einmal querzuschießen drohte. »Dann frage ich jemand anderen.«

»Schon gut – war nicht so gemeint.«

Varro unterdrückte ein Schmunzeln. »Kannst du mir sagen, wo … wie heißt diese Frau doch gleich?«

»Merabaudis«, grummelte der Medicus, nicht gerade erbaut über den Rüffel, den er hatte einstecken müssen. »Beruf unbekannt.«

»Danke, Probus«, erwiderte Varro, machte eine spöttische Verbeugung und wandte sich wieder dem Jungen zu. »Kannst du mir sagen, wo eine Frau namens Merabaudis wohnt?«

»Merabaudis? So heißen hier viele.«

»Ich weiß. Aber nicht alle sind 24 Jahre alt, überaus hübsch und stammen aus Treveris.«

Der Junge erblasste, und die Gleichgültigkeit, welche er an den Tag gelegt hatte, war wie weggeblasen. »Was wollt ihr von ihr?«, fuhr er Varro an und schoss wie ein Pfeil in die Höhe. »Lasst sie in Ruhe, oder ich sage es meinem Vater!«

*

Die Insula, in der die Frau wohnte, gehörte zum sogenannten Töpferviertel, nur einen Steinwurf von der Straßenkreuzung entfernt. Auch hier, unweit der Brückenthermen, bot sich Varro das gleiche Bild: Lehmhütten, vor denen zerlumpte Kinder spielten, Fachwerkhäuser, die kurz vor dem Einsturz waren, Straßen, auf denen sich der Abfall häufte, Hinterhöfe, in die kein Sonnenstrahl fiel. Wohnhäuser reihten sich an Werkstätten, Lagerhäuser an billige Tavernen, Geräteschuppen an Mietskasernen, in denen die Ärmsten der Armen hausten. Varro runzelte die Stirn. Das hier war kein Ruhmesblatt. Aber auch das war Treveris, der Ort, von dem aus das Imperium regiert wurde.

Endlich am Ziel, musterte Varro ein Gebäude, bei dessen Anblick klar wurde, wer hier wohnte. Es umfasste vier Stockwerke, bestand aus Ziegelsteinen und war, unschwer zu erkennen, seit dem Bau weder instandgesetzt noch frisch verputzt worden. An den Steinsäulen, auf denen die Balkons aus rohgezimmerten Eichenbalken ruhten, bröckelte der Verputz, und wer die Mietskaserne betrat, musste sich erst an die Dunkelheit gewöhnen.

Es sei denn, er war sechs Jahre alt, hier geboren und mit jedem Fußbreit Boden vertraut. »Hier also bist du zu Hause«, sagte Varro, nachdem er Probus den Vortritt gelassen und dabei zugesehen hatte, wie der Junge eine Öllampe entzündete. »Ganz schön finster hier, was, Probus?«

»Man gewöhnt sich an alles.«

Varro fehlten die Worte. Auf die Antwort, welche der Junge gab, war er wieder einmal nicht gefasst gewesen. »Für einen Knaben in deinem Alter hörst du dich ziemlich niedergeschlagen an. So darfst du nicht denken, sonst …«

»Ihr kommt wegen meinem Vater, stimmt’s?«

Die Frage wirkte wie ein Hammerschlag, und während der Advokat nach Worten rang, folgte bereits der nächste Hieb: »Die Mühe hättet ihr euch sparen können.«

Varro verschlug es die Sprache. Mit einer derartigen Antwort, noch dazu aus dem Mund eines Kindes, hatte er nicht gerechnet. Wieder einmal hatte der Zufall seine Schritte gelenkt, und er fragte sich, welche Überraschungen ihm noch bevorstanden. »Findest du?«

»Ja, finde ich.«

»Aus welchem Grund?«

»Weil er tot ist – darum!«

Varro lief es eiskalt über den Rücken. »Woher weißt du das?«, fragte er, überrascht wie schon lang nicht mehr. »Von deiner Mutter?«

»Ist doch egal, oder?«

»Nein, ist es nicht.«

»Du weißt doch, Herr«, wich der Junge mit vielsagendem Lächeln aus, »so etwas spricht sich hier schnell rum.«

»Darf man fragen, wie du heißt?«

»Die Leute nennen mich Nigerinus.« Der Junge verzog das Gesicht. Kleiner Neger – wie passend!«

»Und wie heißt du wirklich?«

»Hariulf. Nach meinem Großvater. Bescheuerter geht es nicht, oder?«

Peinlich berührt wechselte Varro das Thema. »Ich kann verstehen, wie dir zumute ist, mein Junge. Glaub mir: Probus und ich wollen dir helfen. Dir und deiner Mutter.«

»Helfen? Uns? Und weshalb?«

Varro schluckte. »Um der Gerechtigkeit willen, damit der … Damit das, was deinem Vater widerfahren ist, nicht ungesühnt bleibt.«

»Sprich es ruhig aus, Herr: Er ist ermordet worden.«

Der Anwalt schlug die Augen nieder. »Ja, das ist er!«, bekräftigte er, während sich ihm das Herz zusammenkrampfte. »Eines aber kann ich dir versprechen: Die Schuldigen werden ihre Strafe bekommen.«

»Warum tust du das, Herr? Er war doch nur ein Gladiator.«

»Ich tue es, mein Junge, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.« Der Körper des Anwalts straffte sich, und der Griff, mit dem er seinen Stock umklammerte, verstärkte sich. »Ich tue es, weil ich der Meinung bin, dass Verbrecher nicht frei herumlaufen dürfen. Und ich tue es, weil ich es nicht ausstehen kann, wenn Menschen ihrer Hautfarbe oder ihrer Profession wegen missachtet werden.« Varro atmete tief durch. »Ich weiß, das hört sich ziemlich hochtrabend an. Und ich weiß auch, dass es deinem Vater nichts mehr nützen wird, wenn Probus und ich die Schuldigen überführen. Eines aber weiß ich genau: Dass dieser Kasus gelöst werden muss, koste es, was es wolle.«

»Leichter gesagt als getan.«

»Mag sein. Aber besser jetzt als nie.«

»Angenommen, du meinst das wirklich ernst: Warum hast du nicht gleich gesagt, wer du bist?«

»Weil ich nicht gewusst habe, wer du bist.«

»Das meinst du doch nicht wirklich, oder?« Die Öllampe in der Hand, stieß der Junge, dessen Welt in Scherben lag, ein an Bitterkeit nicht zu übertreffendes Lachen aus. »Sieht doch jeder, dass mein Vater Afrikaner war.«

Der Advocatus blieb die Antwort schuldig. Ja, räumte er ein, wenn er das Honorar, welches er einzustreichen pflegte, wert wäre, hätte er darauf kommen müssen. Selbst hier, im Schein einer Öllampe, war die Ähnlichkeit mit dem Retiarius offensichtlich, ja geradezu frappierend. Einzig die Augen, ein Erbteil seiner Mutter, fielen ein wenig aus dem Rahmen. Ansonsten bestand über die Herkunft des Jungen kein Zweifel.

»Weißt du, manchmal ist mein Freund ein bisschen schwer von Begriff. Kommt vom vielen Lesen, was, Gaius?«

»Danke, Probus, wie immer bist du mir eine große Hilfe!«, giftete Varro und warf dem Medicus einen Blick zu, den zartbesaitete Naturen als Kriegserklärung aufgefasst hätten. »Was wäre ich ohne dich!«

»Das frage ich mich auch!«, blaffte der Medicus zurück. »Aber lass dich nicht stören, du warst noch nicht am Ende.«

»Verbindlichen Dank.« In der Hoffnung, seinen Kredit nicht verspielt zu haben, wandte sich Varro wieder dem Jungen zu. »Ich bin Gaius Aurelius Varro, Anwalt der Rechte. Und das hier ist mein Freund Probus, Medicus von Beruf.«

Varro reichte dem Jungen die Hand. Dieser zögerte, griff dann aber doch zu.

»Freut mich, dich kennenzulernen!«, sagte der Anwalt und wechselte einen Blick mit Probus, dem die Sache offenbar nicht ganz geheuer war. »Wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gern mit deiner Mutter sprechen.«

Die Öllampe in der Hand, blieb der Junge am Fuß der Treppe stehen. »So viel Besuch wie in letzter Zeit haben wir schon lang nicht mehr gehabt«, spottete er, ein rätselhaftes Lächeln im Gesicht. »Zuerst dieser Maximinus, dann du, Herr – wer weiß, vielleicht schneit demnächst sogar der Kaiser …«

»Der Lanista?«, brach es aus Varro hervor. »Der Lanista war … er war hier?«

»Klar.« Der Junge verzog keine Miene. »Gestern Abend.«

»Und wann?«

»Weiß ich nicht mehr genau.« Nigers Sohn zuckte die Achseln. »Circa eine Stunde nach Sonnenuntergang, schätze ich.«

»Du kennst ihn?«

»Bei allem Respekt, Herr: Wer kennt ihn nicht! Ein Halunke, wie er im Buche steht.«

Varro stutzte. »Hört sich an, als hättest du das irgendwo aufgeschnappt.«

»Nicht irgendwo, Herr.«

»Sondern?«

»Sondern bei meinem Vater.« Als sei alles gesagt, wandte sich der Junge ab, leuchtete voran und erklomm die Stufen, welche hinauf ins Obergeschoss führten. »Frag meine Mutter, wenn du mir nicht glaubst. Sie weiß, wer Vater auf dem Gewissen hat.«