XXVI

Villa Aurelia, kurz vor Einbruch der Dunkelheit

[20:20 h]

Maximinus tot, der Anonymus auf freiem Fuß: Die Aufklärung des Falles, fast schon zum Greifen nah, war wieder in weite Ferne gerückt. Es war Zeit, nach Hause zu gehen, bei Fortunata eine Portion Bohnen mit Speck zu erbitten und sich anschließend in sein Arbeitszimmer zurückzuziehen. Ob Varro in der Lage sein würde, an seinem Buch zu arbeiten, stand zwar in den Sternen. Auf einen Versuch würde er es aber trotzdem ankommen lassen, und sei es nur, um auf andere Gedanken zu kommen.

Im Verlauf seiner Studien, vor allem bei Tacitus, Sueton und Plutarch, hatte er sein Hauptaugenmerk auf das Leben der Cäsaren gerichtet und dabei festgestellt, dass Mord und Totschlag bei allen an der Tagesordnung gewesen waren. Unter den wenigen, die friedlich entschlummerten, befand sich der göttliche Augustus, ein Schicksal, das weder seinem Nachfolger und Adoptivsohn, noch seinem Urenkel und dessen Neffen, auch Nero genannt, beschieden war. Auch Claudius, Eroberer Britanniens, war durch einen Giftmord aus dem Weg geräumt worden, was die Zahl der Morde auf vier erhöhte. Varro schüttelte nachdenklich den Kopf. Fünf Kaiser, vier Morde, verübt innerhalb eines Menschenalters – das sagte doch schon alles. Die Toga, welche die Geschichte trug, war mit Blut durchtränkt, und er bezweifelte, ob es gelingen würde, sie reinzuwaschen.

In Gedanken bei seinen Studien, zog der Advocatus seines Weges. An den Verhältnissen, so sein Fazit, schien sich bis heute wenig geändert zu haben. Kaiserinnen, die dem Laster frönten, hatte es zwar immer schon gegeben, darunter Poppaea, Neros Frau, oder eine Dirne namens Messalina. Im Licht seiner Ermittlungen drängte sich jedoch die Frage auf, ob das, was er in Erfahrung gebracht hatte, nur ein Einzelfall war. Der Fisch stank bekanntlich vom Kopf, und er fragte sich, wie lang es dauern würde, bis der Geruch unerträglich wurde. Vieles, stellte Varro resigniert fest, lag derzeit im Argen, wobei die Zustände, die am Hof herrschten, nur ein Übel unter vielen waren. Angefangen bei den Barbaren, deren Raubzüge immer mehr überhandnahmen, waren es vor allem die Steuern, die auf der Bevölkerung des Imperiums lasteten. Niemand blickte mehr zu den Kaisern auf, niemand verspürte mehr Lust, in der Armee zu dienen, und kein Mensch drängte sich danach, ein öffentliches Amt zu bekleiden, was früher, zu Beginn der Kaiserzeit, zugleich Ehre und Ansporn gewesen war. Varro schüttelte resigniert den Kopf. ›Ehre‹ – noch so ein Wort, das immer mehr aus der Mode kam. Früher, zu Zeiten eines Trajan, war es noch eine Ehre gewesen, für das Vaterland zu kämpfen, heute, im elften Saeculum nach der Gründung Roms, tat man alles, um sich davor zu drücken. Die Folge war, dass immer mehr Barbaren in römische Dienste traten, gute Kämpfer zwar, aber eben keine Römer. Der Mangel an Römern – genau das war Varros Ansicht nach das Problem. Es gab Gallier, Illyrer, Daker, Thraker und Dalmaten, des Weiteren Araber, Asiaten und Afrikaner – aber es gab keine echten Römer mehr. Das hörte sich gewiss merkwürdig an, traf aber den Nagel auf den Kopf. Rom selbst, dereinst Mittelpunkt des Imperiums, war immer mehr in den Hintergrund getreten. Andere Städte, unter ihnen Treveris, gaben jetzt den Ton an, Städte, welche dabei waren, der Kapitale den Rang abzulaufen.

Dies war eine Zeit der Veränderungen, und bald, allzu bald vielleicht, würde nichts mehr so sein, wie es war. Varros Miene verdüsterte sich. Manchmal kam er sich wie ein Fossil vor, insbesondere, weil er die alten Werte hochhielt. Treue, Tapferkeit und Pflichtgefühl waren es, die das Vaterland dereinst groß gemacht hatten. Und das war es, worauf man sich wieder besinnen musste. Sonst würde Rom, Gebieterin des Erdkreises, von der Landkarte verschwinden.

Um auf andere Gedanken zu kommen, versuchte sich Varro wieder auf seinen Fall zu konzentrieren. Eine Kaiserin mit einer Vorliebe für Gladiatoren, ein Lanista, der sich zu ihrem Werkzeug macht und darauf hofft, das Geschäft seines Lebens zu machen, ein Unbekannter, der Letzteren als Lockvogel benutzt und, allen voran, die Gier nach Profit – wenn das nicht dekadent war, würde er den Namen wechseln. Der Advocatus musste wider Willen lächeln. Nein, das würde er natürlich nicht, bevor das geschah, würde die Welt untergehen.

»Mach’s gut, alter Junge – bis morgen.«

»Du auch, Probus«, rief Varro seinem Freund hinterher, der die Hand hob, sich nach links wandte und mit weit ausholenden Schritten gen Westen strebte. »Bis morgen! Und trink nicht mehr so viel!«

Gelächter, als ob er einen Witz gerissen hätte, Schritte, die auf dem Gehsteig des menschenleeren Decumanus widerhallten, Flötenklänge aus der nahen Taverne – und schon hatte die Nacht, welche über Treveris niedersank, den Freund verschluckt.

Im Moment ratlos, sah sich Varro um. Und atmete erleichtert auf. Es war gut, Syphax bei sich zu wissen, vor allem jetzt, da sich der Tag dem Ende zuneigte. Lichtscheues Gesindel gab es zuhauf, und was Varro betraf, war sein Bedarf an Schwierigkeiten gedeckt.

Und so zögerte er keinen Moment, sondern wies Syphax an, ihm voranzuleuchten, und setzte den Weg zu seinem Domizil fort. Auch der Cardo, der zum Nordtor führte, war wie leergefegt, und so kam es, dass er sich seinen Gedanken überließ. In weniger als einer Viertelstunde würde er seine Villa betreten, und er fragte sich, was ihn dort erwartete. Halt, falsch: Er fragte sich, wer ihn dort erwartete. Allein der Gedanke, Aspasia könne sich auf den Heimweg gemacht haben, ließ seine Laune auf den Tiefpunkt sinken, der Grund, weshalb er Syphax zur Eile antrieb.

Eile war denn auch dringend geboten. Aber davon wusste Varro, nur einen Steinwurf von seinem Ziel entfernt, noch nichts. Hauptsache daheim!, flog es ihm stattdessen durch den Sinn, die Villa, welche aus dem Dunkel auftauchte, fest im Blick. Morgen früh, nach dem Aufstehen, würde er sich als Erstes um seine Korrespondenz kümmern, dann um die restlichen Klienten, danach um Myron, Nigers Freund, und danach wiederum um Merabaudis und den Jungen, dessen Name nicht recht zu ihm passte. Vielleicht, hoffte er, würde ihn das auf die Spur des Anonymus bringen, wenngleich der Wunsch höchstwahrscheinlich der Vater des Gedankens war. Vorerst aber würde er den Kasus ruhen lassen, zu Abend speisen und sich den Dingen widmen, die ihn interessierten.

Oder den Personen, je nachdem.

*

»Bei meiner Keuschheit, wo steckt der Junge bloß!«, wetterte Fortunata, im Begriff, das Triclinium für das Abendessen herzurichten. Um Varro, auf den sie seit Stunden wartete, eine Freude zu machen, hatte sie sich mächtig ins Zeug gelegt. Sie hatte Hühner gerupft, Fischsalat zubereitet, Würstchen gebraten, die dazugehörige Mehlsoße gerührt, Brot gebacken, grünen Kohl, Obst und Gemüse eingekauft und vor allen Dingen Varros Leibgericht gekocht. Bohnen mit Speck, und der Abend war gerettet, mochte das, was den Tag über geschehen war, noch so beschwerlich gewesen sein. »Glaubst du, ihm ist etwas zugestoßen?«

Aspasia, die ihr behilflich war, redete beruhigend auf Fortunata ein. »Das kann ich mir nicht vorstellen!«, entgegnete sie, auch jetzt, bei aller Ungewissheit, die Zuversicht in Person. »Sein Freund wird schon auf ihn aufpassen.«

»Und du willst mir wirklich nicht sagen, worum es geht?«, bohrte die Alte und rückte eines von insgesamt vier Speisesofas zurecht. »Sonst mache ich mir unnötig Sorgen.«

»Genau das möchte der Patronus vermeiden«, versetzte Aspasia, eine Schale mit Obst in der Hand, darunter Nüsse, Birnen und getrocknete Trauben aus dem Moseltal. »Nur Geduld, du wirst es bald erfahren.«

»Fragt sich nur, wann!«, murrte Fortunata, spornte Livia, ihre rechte Hand, zur Eile an und wies Antigonos den Platz zu, an dem er mit seiner Leier Aufstellung nehmen und die Abendgesellschaft durch sein Spiel und Rezitationen aus der Ilias unterhalten sollte. Nichts blieb dem Zufall überlassen, Fortunata dachte an alles. Öllampen, auf dem Gesims des Peristyls platziert, durften ebenso wenig fehlen wie Blumengirlanden, Blütenblätter und diverse Räucherpfannen, welche den Duft wohlriechender Essenzen verbreiteten. Für alles war gesorgt, angefangen bei Ruhekissen, auf denen man sich abstützen, über Zahnstocher, mit denen man sich auch die Ohren reinigen, bis hin zu parfümiertem Wasser, mit dem man sich die Hände waschen konnte. Es lagen auch Leinentücher bereit, aß man doch mit den Fingern und benutzte Messer nur, wenn es unumgänglich war. Und natürlich gab es auch Nachtisch, weniger, weil Varro großen Wert darauf legte, sondern weil Fortunata der Meinung war, dass es sich so gehörte. Überhaupt bot sie alles auf, was Vorratskammer und Garten hergaben, unter anderem Feigen, Nüsse, Birnen, Granatäpfel und geröstete Kastanien, aber auch Schinken, Eier mit Rautenlaub, Käse und Oliven aus Sardinien.

Fehlten nur noch die Tafelnden, allen voran Varro, auf den Fortunata sehnsüchtig wartete. Längst verschmerzt hatte sie dagegen das Fernbleiben seiner Schwester, nach deren eigenem Bekunden ein Opfer von Kopfschmerzen, die wie der Blitz über sie gekommen waren. Dass der Anfall mit Aspasia zusammenhing, bei deren Eintreffen sie sich ins obere Stockwerk zurückgezogen hatte, war Fortunata nicht verborgen geblieben. Aurelia war nicht der Typ, der andere Götter neben sich duldete, vor allem, wenn es sich um Konkurrentinnen um die Gunst ihres Bruders handelte. Wenn diese Konkurrentinnen dann noch verwitwet, hübsch und zu allem Unglück Mutter einer mindestens ebenso hübschen Tochter waren, war es um die Ruhe, die in der Villa herrschte, geschehen.

»Hilf mir lieber, anstatt in der Gegend rumzustehen! Ja, du bist gemeint, Publius – und du auch, Penelope!« Fortunata runzelte die Stirn. Eines musste man der Kleinen lassen: Obschon erst 11, war sie überaus anziehend, ihrer Mutter, welche die Alte spontan ins Herz geschlossen hatte, wie aus dem Gesicht geschnitten. Selbst Publius, der mit Mädchen nichts zu tun haben wollte, war auf einmal wie ausgewechselt und die Zuvorkommenheit in Person gewesen. Einen Teller mit Süßgebäck in der einen, einen Weinkrug in der anderen Hand, ließ Fortunata den Blick von der Tochter zu ihrer nicht minder ansehnlichen Mutter wandern. Die eine Frau Witwe in den besten Jahren, die andere im Erblühen – wenn das kein Grund zur Wachsamkeit war, wollte sie nicht Fortunata heißen.

»Guten Abend zusammen – na, alles in Ordnung, Herrin?«

»Wenn du mich noch einmal Herrin nennst, kannst du was erleben!« Eher erleichtert als verärgert drehte sich Fortunata zu Varro um. »Sag mal, schämst du dich eigentlich nicht? Wie kommst du überhaupt dazu, nichts von dir hören zu lassen! Ich mache mir Sorgen, und du? Du denkst nicht im Traum daran, Bescheid zu sagen!«

»Wie du siehst, geht es mir gut«, wiegelte Varro ab, ließ sich auf einem der Triclinien nieder und bedeutete Aspasia, seinem Neffen und Penelope, es ihm gleichzutun. »So, und jetzt möchte ich nichts mehr über den Kasus hören.«

»Kasus?«

»Und was für einer«, murmelte Varro und nippte an einem Becher Mulsum, den Livia ihm offerierte. »Aber reden wir über etwas anderes. Was ist eigentlich mit Dromas?«

»Der wandelt auf Freiersfüßen«, versetzte Fortunata spitz. »Wie sein …«

»Ich schlage vor, wir lassen es uns jetzt schmecken!«, fuhr Varro dazwischen und warf seiner Haushälterin einen Blick zu, der sie bewog, es nicht auf die Spitze zu treiben. »Hm, sieht das aber lecker aus!«

»Freut mich, wenn es dir schmeckt.«

»Das tut es doch immer«, antwortete Varro in versöhnlichem Ton. Und fügte, an Aspasia und Penelope gewandt, hinzu: »Willkommen in meinem Domizil. Fühlt euch wie zu Hause.«

»Ach ja, bevor ich’s vergesse: Ein gewisser Teiresias lässt dir ausrichten, du sollst …«

»Teiresias?« Im Nu auf den Beinen, stellte Varro seinen Becher ab, schlüpfte wieder in seine Sandalen und zürnte: »Und warum hast du mir das nicht gleich gesagt?«

»Weil du mich nicht danach gefragt hast – darum!«, quengelte Fortunata, schlug die Augen nieder und berichtete, was sich vor vier Stunden zugetragen hatte.

Die Stirn in Falten, hörte der Advocatus zu. Das Festmahl war vergessen, die Resignation, welche ihn ergriffen hatte, wie weggeblasen.

»Zufrieden?«

»Darauf kannst du wetten!«, bekräftigte Varro, rief nach seinem Leibsklaven und verschwand so plötzlich, wie er gekommen war. »Komm, Syphax – keine Müdigkeit vorschützen. Die Jagd auf den Anonymus ist eröffnet!«