Taverne ›Zum Priapus‹, eine Viertelstunde später
[21:20]
Eigentlich konnte nichts schiefgehen. In zwei Stunden, um Mitternacht, würden er und seine Mitverschworenen die kaiserlichen Gemächer stürmen, nicht lang fackeln und den Auftrag, mit dem sie betraut worden waren, ausführen. Alles, beinahe jeder Handgriff, war bis ins Detail geplant worden. Wenn er, Präfekt der Leibgarde, die Runde machte, würde niemand Verdacht schöpfen. Er kannte alle, die vor den kaiserlichen Gemächern Wache schoben, die meisten mit Namen, etliche der Männer von gemeinsamen Trinkgelagen. Er kannte die Gepflogenheiten, die im Allerheiligsten herrschten, wusste um die Marotten der Bediensteten, um ihre Gewohnheiten, um ihre Geheimnisse und kleinen Laster. Er wusste, wann die Wachen abgelöst wurden, ob sie zuverlässig, auf seiner Seite oder nur mit Vorsicht zu genießen waren. Dass er nur Leute eingeteilt hatte, die ihm ergeben waren, verstand sich von selbst. Um sicherzugehen, würde er sie trotzdem erst kurz vor dem Beginn des Unternehmens informieren. Vor Spitzeln – oder Verrätern – konnte man nie sicher sein, wollte man Erfolg haben, über den Weg trauen durfte man niemandem, nicht einmal dem besten Freund.
Aus diesem Grund wussten nur vier Personen Bescheid, Chrysaphius, der ihm den Auftrag erteilt hatte, mit eingeschlossen. Von wem der Befehl letztendlich kam, konnte er sich denken, aber da er gelernt hatte, Fragen nur dann zu stellen, wenn es unumgänglich war, hatte er sich auf die Zunge gebissen, eingewilligt und den Lohn, der ihm in Aussicht gestellt worden war, akzeptiert. Zehn Pfund Gold, also 720 Solidi, waren ein kleines Vermögen, und wenn ihm der Zufall keinen Strich durch die Rechnung machte, hatte er ausgesorgt.
Um den Kaiser, bei dem er in Lohn und Brot stand, tat es ihm natürlich leid. Aber so war nun einmal das Leben. Bot sich die Chance, endlich auf einen grünen Zweig zu kommen, musste man sie beim Schopf packen. Selbst dann, wenn man sich die Hände schmutzig machte.
Flavius Messala, genannt Scorpio, rief das Schankmädchen, bestellte noch einen Becher Wein und ließ den Ellbogen auf der Stuhllehne ruhen. Wenn es darum ging, jemanden aus dem Weg zu räumen, hatte er noch nie große Skrupel gehabt. Das hatte er bereits unter Beweis gestellt, zuletzt vor gut 24 Stunden, als er diesem Neger einen Dolch zwischen die Rippen gestoßen hatte. Dadurch, so Chrysaphius, habe er sich für höhere Aufgaben empfohlen, und wie so oft, wenn es ums Geldverdienen ging, hatte er nicht groß überlegt. Dumm nur, dass bei dem Mord an dem Retiarius etwas dazwischengekommen war, nämlich dass die Frau sein Gesicht gesehen hatte. Das war zwar ärgerlich, aufgrund der Umstände, die dazu geführt hatten, jedoch nicht zu ändern.
Auch hier, wie während seiner gesamten Militärzeit, hatte er genau gewusst, was er tat. Chrysaphius hatte ihm den Auftrag erteilt, und er, nicht faul, hatte ihn ausgeführt. Wäre Maximinus nicht gewesen, der versucht hatte, aus der Sache Kapital zu schlagen, wäre die Angelegenheit ohne großes Aufsehen über die Bühne gegangen. Aber wenigstens hatte es keine Tatzeugen gegeben, und das, zusammen mit dem Lohn, war nun einmal das Wichtigste. 100 Solidi verdiente man schließlich nicht alle Tage, und wenn es ums Geld ging, hörte die Freundschaft auf. Jetzt, knapp zwei Stunden vor Mitternacht, hieß es nur noch, die Zeit totzuschlagen, nichts zu überstürzen und mit der Kaltblütigkeit, die ihm eigen war, zu Werke zu gehen. Alles andere würde sich von selbst regeln.
»Na, schöner Mann – warum so nachdenklich?« In Gedanken bei dem geplanten Staatsstreich, schreckte Flavius Messala auf. An Dirnen hatte im ›Priapus‹ seit jeher kein Mangel geherrscht, aber was er gerade vor sich sah, ließ sein Herz höher schlagen. Die Dunkelhaarige am Nachbartisch war zwar nicht ganz so jung wie die Nymphe, die der Wirt im Hinterzimmer feilbot. Dafür aber war sie umso hübscher, mit den Dirnen, die sich hier die Klinke in die Hand gaben, nicht zu vergleichen. Für diese Schönheit, vom Aussehen her Orientalin, würde er einiges berappen müssen, aber das, so der Handel zustande käme, wäre ihm die Sache wert. »Was ist: Hat es dir die Sprache verschlagen?«
Scorpio, Präfekt der kaiserlichen Leibwache, schüttelte den Kopf, prostete der unbekannten Schönen zu und lud sie ein, sich zu ihm zu setzen. »Wie kommt es, dass ich dich noch nie gesehen habe?«, wollte er wissen, worauf die Hetäre, um die es sich zweifellos handelte, mit einem verführerischen Augenaufschlag reagierte. »Jemanden wie dich trifft man hier selten.«
»Das kommt daher, weil ich noch nicht lang in Treveris weile«, antwortete die Venus, bei der alles, woran Männer Gefallen fanden, in einer Person vereint zu sein schien. Dunkles, welliges, bis auf die Schultern reichendes Haar und geschwungene und dezent geschminkte Wimpern. Dazu eine dunkle, orientalisch anmutende Tönung der Haut, von der Art, wie man sie in Syrien oder Ägypten antraf. Das Beste an der Unbekannten, im Gegensatz zu den anderen Dirnen mit einem Chiton bekleidet, war jedoch ihre Stimme. Sie als sanft zu bezeichnen war beinahe schon eine Beleidigung. Verführerisch wie Aphrodite, klug wie Athene und anziehend wie die schöne Helena: Etwas Vergleichbares hatte er in Treveris noch nie gesehen. Und schon gar nicht in dieser heruntergekommenen Taverne, wo sich Diebe, Schmuggler und zwielichtige Gestalten aus ganz Gallien tummelten. »Nicht einfach, sich zurechtzufinden!«
»Was dagegen, wenn ich dir behilflich bin?«, raunte Scorpio der Fremden zu, ein Lächeln im Gesicht, das an einen lüsternen Satyr erinnerte. »Ich denke, du und ich würden uns gut ergänzen.«
»Woran genau hast du dabei gedacht?«
»An alles, was Spaß macht«, antwortete der Präfekt, wobei er das Wort ›Spaß‹ über die Maßen betonte. »Das fängt beim Trinken, bei anregenden Gesprächen und Tafelfreuden an.«
»Und womit hört es auf?«, hauchte die Frau, die tat, als könne sie nicht bis drei zählen. Dass dies eine Masche war, hatte Messala natürlich erkannt, aber das hinderte ihn nicht, ihr weiter den Hof zu machen.
»Ich hoffe, du hast genug Zeit.«
Die hatte er, keine Frage. Ein Blick auf das Stundenglas, welches in der Nische hinter ihr auf dem Tresen stand, und Messala strahlte mit der Fremden um die Wette. Noch eine dreiviertel Stunde. Genug Zeit also, Gott Bacchus zu huldigen, sich ein lauschiges Plätzchen zu suchen und den Freuden der Liebe zu frönen. Alles andere, auch sein Auftrag, würde sich von alleine regeln.
»Womit es aufhört, willst du wissen?«, raunte Scorpio der Unbekannten zu und ließ den Becher bis zum Rand füllen. »Denk nach – oder muss ich deutlicher werden?«
»Nein, musste du nicht!«, erwiderte die Unbekannte und griff nach dem Becher, den Scorpio in Händen hielt. »Komm, schöner Mann – verlieren wir keine Zeit!«
*
An der Tür angekommen, hielt Scorpio abrupt inne. Der Wein, ein edler Tropfen aus dem Ruwertal, hatte seine Sinne vernebelt, und das mehr, als ihm lieb sein konnte. Dies zuzugeben kam ihm freilich nicht in den Sinn, und er redete sich ein, Herr seiner selbst zu sein. Wäre er es gewesen, hätte er die Gestalt bemerkt, die ihm und der Unbekannten folgte, aber da es Venus war, die seine Schritte lenkte, ließ er jegliche Vorsicht vermissen.
Die Schwüle, ohnehin drückend genug, tat ein Übriges, und wie er so durch die Dunkelheit hastete, kam sich Scorpio wie in einem Glutofen vor. Je weiter der Weg, desto geringer die Wachsamkeit, und so nahm der Präfekt nicht einmal das Donnergrollen wahr, das mit jedem Schritt, den er zurücklegte, bedrohlicher wurde.
»Nur Geduld, Liebster, wir sind gleich da!« Kaum fähig, mit der Hetäre Schritt zu halten, stieß Scorpio einen leisen Fluch hervor. Um einander näherzukommen, hätte es auch das Obergeschoss getan, das Auspicius, Wirt ›Zum Priapus‹, für ein paar Sesterzen vermietete. Die Fremde indes hatte darauf bestanden, das Liebesnest woanders zu errichten – wo, wollte sie nicht verraten.
Und so stolperte Scorpio hinter der mysteriösen Schönen her, vorbei an verbarrikadierten Läden, Hauseingängen und Werkstätten, an denen in Treveris kein Mangel herrschte. In Höhe des Forums, welches ebenfalls im Dunkel lag, begann es zu tröpfeln, doch auch das nahm Scorpio kaum wahr. Vergessen war sein Vorhaben, abhandengekommen auch der Argwohn, der ihm zur zweiten Haut geworden war. Für ihn, dem nach Sinnesgenuss Lechzenden, gab es nur noch eins: das Verlangen, welches ihn erfüllte, zu stillen.
»Wo bleibst du denn, du bist doch nicht etwa müde, oder?« Nach etwa einer Viertelstunde Fußmarsch wähnte sich der Präfekt am Ziel. Die Unbekannte lehnte an einer Mauer und hielt die Hand schützend über die Öllampe. Scorpios Verlangen stieg ins Unermessliche. Wäre sie eines der Schankmädchen gewesen, mit denen er sich sonst vergnügte, hätte es für den Präfekten jetzt kein Halten mehr gegeben. So aber, im Angesicht dieser Venus, die er nicht einmal nach dem Namen gefragt hatte, blieb er einfach stehen, stumm, willenlos – und vor allem arglos.
Nicht etwa, dass Scorpio die Orientierung verloren hatte. Er wusste genau, wo er sich befand, was sich an diesem Ort zugetragen und wessen Leichnam er hier, eine Viertelmeile vom Markt entfernt, versteckt hatte. Allein, auch dies störte ihn nicht. Jetzt, so kurz vor dem ersehnten Ziel, zählte nur noch eines, und es war Zeitverschwendung, auch nur ein weiteres Wort mit der Unbekannten zu wechseln.
Denn diese, so schien es, wusste auch so, wonach ihm der Sinn stand. Den Absatz an der Ziegelmauer, welche hinter ihr aufragte, warf sie ihm eindeutige Blicke zu. Winkte ihn zu sich, schob ihr Gewand in die Höhe und blies die Öllampe aus, die sie, Musterbeispiel an Verruchtheit, zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.
Sich am Ziel wähnend, pirschte sich Scorpio an die Hetäre heran. Der Regen fiel in dicken Tropfen, und von irgendwo, nur einen Steinwurf entfernt, drang das Geräusch gedämpfter Stimmen an sein Ohr. Aber auch das, wie der einsetzende Regen, zählte jetzt nicht mehr. Der Präfekt wollte jetzt nur noch eins, und es schien, als stünde ihm die Unbekannte in nichts nach.
Doch der Schein trog.
Drauf und dran, die Frau an sich zu reißen, griff Scorpio ins Leere.
Und prallte verblüfft zurück.
Die Fremde, nach der er sich verzehrt hatte, war verschwunden.
Dies war der Moment, in dem der Präfekt zur Besinnung kam. Kaum wieder bei Verstand, wurde Scorpio von blinder Wut gepackt, im Begriff, blindlings in die Falle zu tappen. Da! Schon wieder ein Geräusch. Zum Greifen nah, auf der anderen Seite der Mauer. Dort, wo das Baugelände der neuen Thermen lag. Wild entschlossen, der Fremden einen Denkzettel zu verpassen, wirbelte Scorpio herum. Verdammt! Irgendwo in der Nähe musste der Eingang sein.
Nicht lange, und der verhinderte Liebhaber wurde fündig. Nur wenige Schritte von dem Punkt, an dem sich seine Träume in Luft aufgelöst hatten, befand sich ein Tor. Ein Tor mit einer schmiedeeisernen Pforte.
Eine Pforte, die sperrangelweit offenstand.
Blind vor Wut zückte Scorpio seinen Dolch, durchquerte den Eingang und schlug das Tor hinter sich zu. Irgendwo auf dem Areal, an dessen Ostseite sich die Umrisse der im Bau befindlichen Thermenanlage abhoben, musste das Luder stecken.
Beim Hades, so hatten sie nicht gewettet.
Ohne Rücksicht auf die Windstöße, welche über die Palästra fegten, Haufen mit Bauschutt durcheinanderwirbelten und sogar Dachziegel von den bereitliegenden Stapeln rissen, stürmte der Präfekt über das ausgedehnte Areal, den Dolch in der Faust. Aus dem Schauer, den er kaum wahrgenommen hatte, war ein Sturzregen geworden, so heftig, dass sich die Böen wie Geißelhiebe anfühlten. Aber auch das focht den Mann, der Niger auf dem Gewissen hatte, nicht an. Wie immer, wenn sein Jähzorn geweckt wurde, gab es kein Zurück mehr für ihn. Es gab weder Blitz, noch Donnergrollen, noch die eisigen Hagelkörner, noch die wie entfesselt tobenden Elemente, welche die Palästra binnen Kurzem in eine Schlammwüste verwandelten. Es gab kein Halten mehr, auch wenn demnächst die Welt untergehen würde.
Er würde sich holen, was ihm zustand. Jetzt gleich. Und dann, wenn er mit der Schlampe fertig war, würde er ihr eine Lektion erteilen.
Und zwar so, dass sie für immer entstellt sein würde.
Außer sich vor Zorn, warf Scorpio einen Blick in die Runde. Unter den Kolonnaden, welche die Palästra flankierten, regte sich nichts. Blieb also nur noch das Hauptgebäude, ein Ort, an dem er sich bestens auskannte.
Vorbei am Gerüst, hinter dem sich die unverputzte Außenfassade erhob, drang der Präfekt auf die Baustelle vor. Vor ihm lag der Kaltbadesaal, wie der Rest des Gebäudekomplexes bereits überdacht, dahinter das zukünftige Tepidarium. Am Ostende, nur schemenhaft zu erkennen, befand sich der Heißbadesaal, eine überwölbte Halle, deren Ausmaße alles Vorherige in den Schatten stellen würde.
Scorpio, der sich behutsam vorwärtsbewegte, hatte jedoch kein Auge dafür. Irgendwo im Umkreis von einer Achtelmeile musste sich das Luder verkrochen haben. Alles, worauf es ankam, war, ruhig Blut zu bewahren, jeden Winkel zu durchkämmen und das Weibsstück, das ihn zum Narren halten wollte, in die Enge zu treiben. Zoll für Zoll, Schritt für Schritt, Zug um Zug. Die Trophäe war eine Sache, die Jagd danach eine andere. Egal, wie langwierig, die Freude daran durfte man sich nicht nehmen lassen. Nicht einmal hier und nicht einmal unter diesen Umständen. Je größer die Vorfreude, desto nachhaltiger der Triumph.
Und die Befriedigung, am Ende die Oberhand behalten zu haben.
Entschlossen, dem Vorsatz Taten folgen zu lassen, schlich der Präfekt weiter, hielt jedoch am Durchgang, wo das Tepidarium an das Caldarium grenzte, inne. Ein Blitzbündel nach dem andern fuhr hernieder, manche weit weg, andere wiederum so nah, dass es auf einen Schlag taghell wurde. Scorpio hielt den Atem an. Er war bestimmt kein Feigling, aber was sich hier abspielte, flößte selbst ihm Angst und Schrecken ein.
Und dann, als das Schlimmste bereits vorüber schien, geschah es. Unweit der Apsis, maximal 200 Schritte entfernt, schlug der Blitz in eine Bauhütte ein. Scorpio blieb wie festgewurzelt stehen. Schuld daran waren jedoch weder das grelle Licht, noch das Donnergrollen, noch die Tatsache, dass die Bauhütte Feuer fing. Schuld daran war etwas anderes.
Etwas, womit er im Leben nicht gerechnet hatte.
Direkt vor ihm, inmitten von Taurollen, Kacheln, ungelöschtem Kalk und Ziegelsteinen, lag ein Körper. Ein Körper, über den ein Leichentuch ausgebreitet worden war.
Die Nerven behalten oder umkehren – das war die Frage.
Scorpio entschied sich für Ersteres. Die Frau, derentwegen er hier war, spielte keine Rolle mehr. Es gab Wichtigeres zu tun, weit Wichtigeres sogar.
Einen Kloß im Hals, setzte sich der Präfekt in Bewegung, tastete sich behutsam voran. Die Zeit stand still, und ihm war, als habe das Unwetter plötzlich aufgehört. Ob Blitz, Donner, Hagel oder Windböen – sämtliche Geräusche, sogar diejenigen seiner Schritte, waren verstummt. Scorpio schlug das Herz bis zum Hals. Es schien, als gebe es nur ihn, Scorpio, und den Körper, der regungslos auf den Steinfliesen lag. Nur sie beide und sonst niemanden auf der Welt.
Doch er irrte.
Kaum war der Köper erreicht, das Knie gebeugt und der Zipfel des Leichentuchs ergriffen, geschah das Unfassbare. So plötzlich, dass er fürchtete, den Verstand zu verlieren.
Vor ihm, im Widerschein eines Blitzes, stand ein Mann. Dieser Mann war groß, hager, trug eine Toga und schien nicht im Mindesten überrascht, ihn hier zu treffen.
Ganz anders der Präfekt, der wie erstarrt neben dem verhüllten Körper verharrte. »Wenn ich du wäre, würde ich das bleiben lassen!«, sprach die Gestalt, als Scorpio den Griff um seinen Dolch verstärkte. »Du hast ohnehin keine Chance.«
»Wer sagt das?«
»Ich.«
»Und mit wem habe ich die Ehre?«
»Ich bin es, der hier die Fragen stellt, verstanden?« Ohne die Antwort abzuwarten, beugte sich der Mann in der weißen Toga nach vorn, ergriff das Leichentuch und zog es mit einem Ruck beiseite. »Ich nehme an, du kennst diesen Mann, oder?«, fragte er und wartete die Erwiderung des Präfekten erst gar nicht ab. »Machen wir es daher kurz: Ich beschuldige dich, den Gladiator namens Niger am gestrigen Tag – oder vielmehr Abend – vom Leben zum Tode befördert zu haben. Mithilfe deines Komplizen, uns beiden unter dem Namen Maximinus bekannt, hast du ihn unter einem Vorwand hierher gelockt, um ihn meuchlings zu ermorden und im Anschluss daran in einer unweit des Tatortes gelegenen Abfallgrube zu versenken. Soweit korrekt?«
»Das musst du mir erst beweisen.«
Die Ruhe in Person, fuhr Varro unbeirrt fort. »Dein Pech, dass es eine Zeugin gibt. Wie wir beide wissen, ist sie dir und Maximinus gefolgt, aus Sorge, ihrem Mann könne etwas zustoßen. Berechtigterweise, wie ich der Vollständigkeit halber hinzufügen muss. Ich weiß, es klingt merkwürdig, wenn ich das sage: Hättest du sie umgebracht, wäre ich dir vermutlich nie auf die Spur gekommen. Um den Auftrag, mit dem du betraut wurdest, nicht zu gefährden, schreckst du jedoch davor zurück und begnügst dich damit, Nigers Frau Angst einzujagen – mit Erfolg.«
»Das beweist noch gar nichts.«
»Findest du?« Nicht gewillt, sich aus dem Konzept bringen zu lassen, schnippte Varro mit dem Finger, worauf sich die Gestalt einer Frau aus der Dunkelheit löste und ohne zu zögern in den Lichtkreis trat, welche die Fackel des Advocatus auf die Fliesen warf. »Darf ich vorstellen – Merabaudis, Nigers Frau. Ihr beide kennt euch, hab ich recht?«
»Ja, Herr!«, erwiderte die Angesprochene mit fester Stimme. »Das ist er, ich kann’s beschwören!«
»Kompliment«, flüsterte Scorpio, dessen Verblüffung nur von kurzer Dauer war. »Das hast du schlau eingefädelt. Aber nicht mit mir, kapiert? Nicht mit mir!«
Kaum hatte er geendet, machte Scorpio seine Ankündigung wahr, fuhr in die Höhe und ergriff die Flucht. Dank Syphax, dem er buchstäblich in die Arme lief, kam er jedoch nicht weit.
»Das ist Syphax, mein Leibsklave. Er war es, der dich auf deinem Weg hierher beschattet hat.« Nicht der Typ, der mit Spott geizte, wartete Varro ab, bis Syphax den Präfekten gebändigt und an den Ort des Geschehens zurückbugsiert hatte. »Ach ja, wenn wir gerade dabei sind: Für einen Mann, der für andere die Drecksarbeit macht, hast du dich ziemlich ungeschickt angestellt. Oder was meinst du, Aspasia?«
»Das Gleiche wie du, Herr.«
Kurz davor, seinem Zorn freien Lauf zu lassen, stierte der Präfekt nach rechts, wo sich die Angesprochene aus dem Halbdunkel hervorbewegte und es sich nicht nehmen ließ, ihm zuzublinzeln. »Wer immer du bist«, giftete er den Anwalt an, »das wirst du bereuen, verlass dich drauf!«
»Wenn du dich da mal nicht irrst, Scorpio.«
»Woher weißt du, wie ich …«
»Eins nach dem anderen, nur Geduld!«, fuhr Varro dazwischen. »Wo waren wir eigentlich stehen … genau, beim Tathergang. Wie gesagt: Mithilfe von Maximinus gelingt es dir, Niger hierher zu locken. Schlau eingefädelt, um mit deinen eigenen Worten zu reden. Der Lanista lotst den ahnungslosen Retiarius hierher, verwickelt ihn in ein Gespräch und lenkt ihn ab. Du, Scorpio, wartest auf den geeigneten Moment, pirschst dich unbemerkt heran und jagst ihm den Dolch zwischen die Rippen.«
»Hört sich an, als seist du dabei gewesen!«
»Ich nicht«, gab Varro seelenruhig zurück, »aber der junge Mann da!«
»Nie gesehen«, versicherte der Präfekt, als sich der Neuankömmling, schätzungsweise Ende 20, barfuß und mit zerzaustem Haar, zu Varro und den anderen gesellte. Er trug eine zerschlissene Tunika, ging gebeugt und zählte offenbar zu all jenen, die von der Hand in den Mund lebten. »Und überhaupt: Wer sagt dir, dass ich …«
»Du bist hier gewesen, Scorpio. Silvanus, eng befreundet mit einem meiner Informanten, kann es bezeugen.«
In Begleitung von Teiresias, der vor Stolz beinahe zu platzen schien, gab der Angesprochene ein zustimmendes Nicken von sich.
»Komisch, dass ich ihn nicht bemerkt habe.«
»Hätte es das Gezänk zwischen dem Lanista und Niger nicht gegeben, wäre Silvanus, der gezwungen war, im Kellergewölbe zu übernachten, gar nicht auf euch aufmerksam geworden. So aber wurde seine Neugier geweckt, weshalb er sich entschloss, nach dem Rechten zu sehen, über die Treppe ins Caldarium gelangte und Zeuge der erwähnten Auseinandersetzung wurde. Unnötig zu erwähnen, dass dies auch für die Ermordung von Niger gilt.« Ohne Scorpio eines Blickes zu würdigen, legte Varro eine Kunstpause ein. Dann fragte er: »Soweit alles korrekt, Silvanus?«
Der Bettler pflichtete dem Anwalt bei. »Ich hab gedacht, ich seh’ nicht richtig!«, ereiferte er sich, von dem, was sich am Vortag zugetragen hatte, zutiefst irritiert. »Erst kriegen sich die beiden in die Haare, und dann taucht auf einmal der Kerl da auf.«
»Du behauptest, Niger und der Lanista seien miteinander in Streit geraten. Weshalb?«
»In Streit geraten ist gut! Die haben sich angebrüllt, dass einem ganz anders geworden ist. An den Wortlaut kann ich mich zwar nicht mehr erinnern. Aber es war klar, dass der Lanista stinksauer auf den Retiarius war. Was er sage, meine er auch so, hat er geschrien. Egal, ob es Niger in den Kram passe oder nicht. Schließlich habe er einen Haufen Geld für ihn ausgegeben, da könne er sich so etwas nicht bieten lassen.«
»Was denn?«
Der Bettler scharrte verlegen mit dem Fuß. »Die beiden hatten es von den Spielen. Irgendein Kampf – was weiß ich. Anscheinend hat der Retiarius nicht gespurt.«
»Das musst du mir erklären.«
»Ich wüsste nicht, was es da zu erklären gibt. Jeder, der vom Wetten auch nur ein bisschen Ahnung hat, weiß, dass es bei den Spielen nicht immer mit rechten Dingen zugeht.«
Varro wusste nicht, ob er schmunzeln oder ernst bleiben sollte. »Machen wir’s kurz!«, drängte er, »damit sich unser Freund nicht langweilt. Also: Worum ist es bei dem Streit zwischen den beiden gegangen?«
»Der Lanista wollte, dass er …«
»Dass Niger was?«
»Wenn mich nicht alles täuscht, Herr, bekam er die Order, den Kampf zu verlieren.«
»Fragt sich nur, wieso«, merkte Varro süffisant an, den Blick abwechselnd auf Scorpio und den Tatzeugen gelenkt. »Aber lassen wir das. Du warst noch nicht fertig, Silvanus – hab ich recht?«
»Er hat ihn abgestochen, Herr – regelrecht abgestochen.«
»Wer denn?«
»Der da!«, brach es aus dem Bettler hervor. »Der hinterlistige Schuft da kam von hinten, und der Retiarius hatte keine Chance. Ich weiß nicht, ob das von Bedeutung ist, Herr – aber als er ihm den Arm um den Hals gelegt und zugestochen hat, da … da konnte ich das Gesicht von diesem Dreckschwein sehen.«
»Und?«
»Er hat gegrinst, Herr. Gegrinst, zugestoßen und ihm anschließend das Genick gebrochen.«
»Eines kann ich dir versprechen, Silvanus – und auch dir, Merabaudis – das Grinsen wird unserem Freund Scorpio bald vergehen.« Bevor er fortfuhr, klopfte Varro dem Bettler auf die Schulter. »Ich bin dir zu großem Dank verpflichtet – euch beiden, dir und Teiresias. Trotzdem wüsste ich gern, was danach geschah.«
»Was dann passiert ist, meinst du?« Silvanus deutete mit dem Kinn auf den Präfekten. »Als Erstes hat er den Lanista zum Schweigen verdonnert. Dann haben sie überlegt, was sie mit dem Toten machen sollen. Glaub mir, Herr: Das war nichts für schwache Nerven. Mir wird schlecht, wenn ich nur dran denke. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die mich entdeckt hätten.« Der Bettler ließ die Handkante über seine Kehle gleiten. »Wahrscheinlich das da – Pech gehabt, Silvanus!«
»Und warum hast du alles für dich behalten? Schließlich handelte es sich um Mord.«
»Soll das ein Witz sein, Herr? Hand aufs Herz: Wer außer dir hätte sich die Mühe gemacht, mir zuzuhören? Etwa Impudicus? Angenommen, ich hätte mich überwunden – wem, denkst du, hätte man mehr geglaubt: den beiden Halunken oder mir? Und selbst wenn – ich hätte keine drei Tage mehr zu leben gehabt.«
»Aber …«
»Kein ›Aber‹, Herr – mit einem Präfekten der Palastwache legt man sich nicht an. Sonst ist dein Leben keinen Sesterz mehr wert. Du weißt doch, ich habe drei Jahre unter ihm gedient. Auf die Art lernt man sich kennen.« Zutiefst verbittert stierte Silvanus den Präfekten an. »Jetzt geht dir ein Licht auf, was? Der Winter vor drei Jahren – da warst du noch kein so hohes Tier wie heute. Da haben du und deine Saufkumpane mich halb tot geprügelt. Und warum? Weil ich es gewagt habe, um ein Stück Brot zu betteln, um ein lumpiges, angebissenes Stück Brot!« Der Bettler drehte sich um, zerrte die Tunika hoch und wies mit dem Daumen auf seinen verkrümmten Rücken. »Einer gegen vier – ich hoffe, es hat wenigstens Spaß gemacht!«
»Wie gesagt, Silvanus: Sei versichert, dass ich alles tun werde, damit dir Gerechtigkeit widerfährt.«
»Gerechtigkeit!«, höhnte Scorpio, »da bin ich aber gespannt, wie du … findest du nicht, es ist an der Zeit, sich vorzustellen?«
»Tut mir leid, ich vergaß!«, zahlte Varro im gleichen Tonfall heim, trat auf Scorpio zu und zischte: »Gaius Aurelius Varro, Dekurio und Advocatus – und das hier ist mein Freund Probus, Medicus von Beruf.«
»Und Kriminalist!«, flötete Varros Freund, der im Verlauf der Unterhaltung nähergetreten war, Scorpios Dolch an sich genommen und ihn lang und eingehend betrachtet hatte. »Was meinst du, Silvanus – ist das der Dolch, mit dem der Retiarius getötet worden ist?«
Silvanus nickte stumm.
»Gut zu wissen, damit wäre auch das geklärt.« Probus gesellte sich zu Varro, durchbohrte den Präfekten mit seinem Blick und sagte: »Mit Rücksicht auf Merabaudis würde ich es vorziehen, nicht näher auf den Zustand des Leichnams einzugehen. Es sei denn, du streitest alles ab. Sollte das der Fall sein, wäre ich gezwungen, Klartext zu reden. Anhand der Wunden, die zum Tod von Niger geführt haben, wäre ich jederzeit in der Lage, einen Vorsatz nachzuweisen. Damit wir uns richtig verstehen: Du brauchst erst gar nicht versuchen, dich herauszureden. Das war Mord, Scorpio – eiskalter Mord. Und noch was: Als Militärarzt bin ich einiges gewöhnt. Aber eine derart ausgeprägte Lust am Töten habe ich noch nie erlebt. Das war schändlich, nicht einmal die Barbaren würden so etwas tun!«
»Noch Fragen?«
»Ja, Advocatus«, antwortete der Präfekt, ohne eine Miene zu verziehen. »Können wir unter vier Augen reden?«
»Falls das ein Bestechungsversuch werden soll, kannst du dir die Mühe sparen.«
»Ich will mal so sagen: Ich kann mir kaum vorstellen, dass du mein Angebot ausschlagen wirst.«
»Sag, was du zu berichten hast – dann sehen wir weiter.« Varro gab Syphax einen Wink, den Präfekten nicht aus den Augen zu lassen. Dann nahm er ihn beiseite.
Und traute seinen Ohren nicht.
»Du verlangst doch nicht, dass ich das glaube!« Zuerst dachte Varro, alles sei nur ein Scherz. Ein Scherz oder der Versuch, Zeit zu gewinnen. Doch dem war nicht so. Je intensiver er nachhakte, desto mehr dämmerte ihm, dass der Präfekt die Wahrheit sagte.
Bleich wie der Tod stierte der Advocatus in die Finsternis. Er war fassungslos, hatte weder Augen noch Ohren für die Anwesenden, noch für das Unwetter, welches ringsum tobte. »Na, habe ich dir zu viel versprochen?«, stichelte Scorpio, zufrieden, dass sein Plan aufzugehen schien. »Wenn du willst, kriegst du es auch schriftlich – meine Aussage, die Namen der Mitverschworenen, einfach alles! Vorausgesetzt, ihr lasst mich laufen. Nur ein Wort, Advocatus – und du siehst mich garantiert nie wieder!«
Wie vom Donner gerührt stand Varro einfach nur da, wortlos, gebeugt und fassungslos.
»Na, dann kann ich ja wohl gehen, oder?« Scorpio, der sich auf der Siegerstraße wähnte, setzte ein zynisches Lächeln auf. Dann blinzelte er Aspasia zu, hob die Hand zum Gruß, wandte sich um – und erstarrte.
Vor ihm, erhellt durch einen fulminanten Blitz, stand ein Junge. Ein Junge von sechs Jahren, schmächtig, blauäugig und mit pechschwarzen Locken. »Nein, kannst du nicht!«, sagte er mit tonloser Stimme, trat näher und zielte mit der Schleuder, welche er in Händen hielt, auf Scorpios Stirn: »Nimm das, Schurke – für meinen Vater!«