Palastaula, eineinhalb Stunden vor Mitternacht
[22:00 h]
»Eine Audienz beim Kaiser – unter vier Augen?«, entrüstete sich der Zenturio, der Varro den Zutritt zur Audienzhalle verwehrte, »da könnte ja jeder kommen!«
»Zu deiner Information«, giftete der Advocatus zurück, durchnässt, außer Atem und nicht in der Stimmung für langatmige Erklärungen, »ich war schon Zenturio, als du noch Windeln getragen hast! In Eboracum, falls dir der Name etwas sagt. Und später Tribun – aber das nur nebenbei.«
Der Zenturio, ein blasierter Schönling in Paradeuniform, sah Varro von oben bis unten an, rümpfte die Nase und sah sich Beifall heischend um. Dann, nur mäßig beeindruckt, reckte er das Kinn nach vorn. »Und wenn du drei Legionen gleichzeitig kommandiert hättest – hier kommst du nicht rein. Ich habe meine Befehle. Und an die muss ich mich halten.«
»Was du nicht sagst!«
»Wenn du denkst, du kannst mich schikanieren, bist du schief gewickelt. Ich habe hier das Sagen, nicht du. Und überhaupt: Wer garantiert mir, dass du nichts im Schilde führst?«
»Ich«, erwiderte Varro unbeirrt. »Wenn ich du wäre, würde ich mir überlegen, was ich tue.«
»Unterwegs in geheimer Mission, was?«, spottete der Schönling und stimmte in das Gelächter seiner Kameraden ein. »Mit wem, wenn du erlaubst, habe ich überhaupt das Vergnügen?«
»Gaius Aurelius Varro. Dekurio, Advocatus und Sohn eines Mitglieds des Senates zu Rom.«
»Gestatten: Aelius. Zenturio, Frauentröster und Sohn eines Trunkenboldes aus Lugdunum.«
»Ich fürchte, dir wird das Witzereißen bald vergehen.«
»Und ich fürchte, mir bleibt keine andere Wahl, als dir dein großes Maul zu stopfen!«, bellte der Zenturio und bedeutete seinen Kameraden, Varro zu ergreifen. »Los, schnappt ihn euch! Und dann zeigt ihm, was passiert, wenn man sich mit mir anlegen will.«
»Zurück – oder ihr werdet es bereuen!«
»Beschwer dich doch, wenn du willst«, knurrte der Schönling und schlenderte auf den Advocatus zu. »Die Frage ist nur, ob es jemanden interessiert.«
»Was das betrifft, bin ich mir absolut sicher«, hielt Varro dagegen, umringt von einem Pulk Soldaten, für die der Vorfall eine willkommene Abwechslung zu sein schien. »Ich warne euch: Wenn ihr mich nicht passieren lasst, wird das mit Sicherheit Konsequenzen haben.«
»Das reicht, Hinkebein.« Die Hand am Schwertknauf, baute sich der Zenturio vor Varro auf. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«
»Wer ich bin?«, gab Varro seelenruhig zurück. »Moment – das haben wir gleich.«
Der Schönling öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Dann aber, mit Blick auf den Ring, den Varro ihm in die Hand gedrückt hatte, überlegte er es sich anders. »Und warum … warum hast du das nicht gleich gesagt?«, stammelte er und wusste vor Verlegenheit nicht, was er tun sollte.
»Du erlaubst doch, Zenturio, oder?« Varro indes zögerte keinen Moment, ließ sich den Ring wieder aushändigen und steuerte auf die Vorhalle zu, von der aus man in das Innere der Palastaula gelangte.
Die Zeit drängte, er musste sich sputen.
*
Eusebius, kaiserlicher Zeremonienmeister, war in der Tat nicht zu beneiden. Nicht jeder, der hier weilte, wusste sich der Umgebung entsprechend zu benehmen, und es schien, als träfe dies in besonderem Maße auf seinen derzeitigen Gesprächspartner zu. »Und nicht vergessen«, insistierte der Höfling mit der gestelzten Ausdrucksweise, »als Allererstes musst du das Knie beugen. Laut Protokoll musst du anschließend den Saum der kaiserlichen Gewandung küssen. Natürlich nicht in realiter, du bist gehalten, nur so zu tun. Das heißt, du senkst den Kopf und führst den Saum an die Lippen. Und denk dran: erst dann erheben, wenn der Imperator dir ein Zeichen gibt. Alles andere wäre Majestätsbeleidigung. Richtet der Imperator das Wort an dich, antwortest du. Hingegen ist dir nicht gestattet, Fragen zu stellen, weder im Beisein von anderen noch unter vier Augen. Hältst du dich nicht daran, läufst du Gefahr, den Zorn des Allerhöchsten zu erregen – was das zur Folge hat, kannst du dir gewiss vorstellen.«
»War das alles?«
»Willst du dem Allerhöchsten von Angesicht zu Angesicht begegnen – oder willst du es nicht? Na also. Wichtigste Regel: Du darfst dem Imperator nie den Rücken zudrehen. Unter keinen Umständen, haben wir uns verstanden? Tätest du es, würde dies unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen. Glaub mir, Dekurio – diesbezüglich versteht der Kaiser keinen Spaß. Und ich auch nicht, falls du weißt, was ich meine.«
Varro nickte mechanisch mit dem Kopf. Von dem, was der Höfling kundtat, hatte er nur die Hälfte mitbekommen, und es fiel ihm schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren. Gerade das war jedoch unabdingbar, nicht zuletzt, weil er niemandem, der seinen Weg kreuzte, auffallen durfte.
Kein Mann für derlei Anlässe, blickte sich der Advocatus um. Die Ausmaße der Aula versetzten ihn in Erstaunen, und es dauerte einen Moment, bis er es überwunden hatte. Vom Portal bis zur Apsis maß sie schätzungsweise 40 Schritte, in der Breite dagegen knapp halb so viel. Die Wände waren mit Marmor verkleidet, durchbrochen von zahlreichen Rundbogenfenstern, durch die bei Tag Licht ins Rauminnere flutete. Momentan, bei Nacht, war der Effekt auf den Betrachter allerdings noch größer. Selbst jetzt, da das Unwetter am Abklingen war, leuchteten immer wieder Blitze auf, wie Feuersäulen, welche zum nachtschwarzen Himmel aufstiegen. Von all dem, so auch vom Donnergrollen, welches über die Stadt hinwegbrandete, nahmen die Günstlinge, Hofbeamten und Gesandtschaften im Festtagsornat jedoch kaum Notiz. Sie alle, Varro mit eingeschlossen, verfolgten das gleiche Ziel: eine Audienz bei Flavius Valerius Constantinus, Imperator und Augustus.
Das wiederum war nicht so einfach wie erhofft. Je höher im Rang, desto höher in der Gunst, je höher in der Gunst, desto größer das Ansehen, welches der Betreffende genoss. Varro runzelte die Stirn. Dies hier, die Eifersüchteleien zwischen Konsuln, Senatoren, Provinzstatthaltern und Hofschranzen, die Jagd nach Gunstbeweisen und kaiserlicher Huld, die Gier nach Titeln und Posten – dies hier war nicht seine Welt. Sie hatte mit dem, was sich vor den Toren des Palastbezirkes ereignete, nicht das Geringste zu tun. Draußen, dort, wo er gerade herkam, befand sich die Wirklichkeit. Hier, umrahmt von Kandelabern, Räucherbecken und Purpurbannern, entfaltete sich die Welt des Scheins, der Eitelkeiten und Ränke, eine Welt, für die Gaius Aurelius Varro nicht geschaffen war.
Ein Faktum, welches dem Zeremonienmeister nicht entging. »Wenn ich dir einen Rat geben darf, Dekurio«, raunte er dem Anwalt zu, während er sich den Weg durch die Reihen der Würdenträger bahnte, »ein bisschen mehr Demut stünde dir gut zu Gesicht. Du weißt doch: Eine Gelegenheit wie diese kommt so schnell nicht wieder.«
Da hast du recht!, pflichtete Varro seinem Begleiter, einem Orientalen in den Vierzigern, insgeheim bei, vermied es jedoch, seinen Unwillen laut zu äußern. Was zählte, war allein seine Mission, und die galt es, allen Hindernissen zum Trotz, zu erfüllen.
Auf Biegen und Brechen, ohne Rücksicht auf sich oder andere.
»Und nicht vergessen: Kniefall, Kuss und andächtiges Schweigen«, leierte der Zeremonienmeister, nur einer von zwei Dutzend Hofschranzen, die mit todernster Miene hin und her eilten. »Alles andere käme …«
»Einem Sakrileg gleich, ich weiß!«, vollendete Varro, einmal mehr in Gefahr, sich den Mund zu verbrennen. Er hasste es, wenn sich gestandene Männer wie Sklaven aufführten, Bücklinge machten und wie geprügelte Hunde über den schwarz-weiß gemusterten Marmorboden schlichen. Er hasste ihre gestelzte Ausdrucksweise, wenn sie sich mit »Eure Exzellenz«, »Eure Lauterkeit« oder »Eure Gravität« anredeten, wenn sie sich an Vornehmheit zu übertrumpfen, an Prunk, Geschmeide und ausgefallener Gewandung zu überbieten suchten. Wo, in der Götter Namen, war nur das Rom der Ahnen geblieben, eine Zeit, in der Schlichtheit noch etwas zählte! Einen Scipio, Cato oder Cicero suchte man hier vergebens, ganz zu schweigen von einem Trajan oder Marc Aurel.
Wo war die gute alte Zeit geblieben, wo nur, wo?
»Und was nun?«
»Was nun?«, fuhr ihn der Zeremonienmeister über die Schulter hinweg an, unterwegs zum Vorhang, der die Apsis vom Rest der Audienzhalle trennte. »Nun heißt es warten.«
»Wie lang denn noch, verdammt!«
Der Zeremonienmeister erbleichte. »Jetzt hör mir mal gut zu«, zischte er, beinahe zwei Köpfe kleiner als sein Gegenüber, das ihn mit mühsam unterdrücktem Groll musterte. »Noch so eine Blasphemie, und ich lasse dich des Saales verweisen. Dann ist es mir egal, ob du in Gunst stehst, einen Treuering trägst oder vorgibst, eine Nachricht von großer Wichtigkeit zu überbringen. Dann bist du erledigt, ist das klar?«
»Jetzt hör du mir mal gut zu!«, hielt Varro dagegen, im Begriff, all seine Bemühungen zunichte zu machen. »Wenn du mich nicht sofort zum Kaiser bringst, kriegst du es mit …«
Ein Geräusch, allem Anschein nach ein Hüsteln, brachte den Anwalt zum Verstummen. Der Vorhang, vor dem die Wartenden Aufstellung genommen hatten, hatte sich einen Spalt weit geöffnet, und während Varro nach Worten rang, tauchte ein Herold zwischen den golddurchwirkten Stoffbahnen auf. »Silentium!«, war alles, was er von sich gab, mehr wäre nicht nötig gewesen. Kaum war das Wort verhallt, beugten die Anwesenden das Knie. Varro traute seinen Augen nicht. Hinter ihm, nach Rang, Wichtigkeit und Herkunft geordnet, kauerten Dutzende von Würdenträgern, vor ihm Senatoren, Statthalter und an vorderster Front die sogenannten ›Comes‹, Gefährten, die dem Kaiser treue Dienste geleistet hatten. Der Duft von Weihrauch hing in der Luft, und während er dem Beispiel der Umstehenden folgte, wurde dem Anwalt flau im Magen. Der Moment der Entscheidung war gekommen.
*
Kurz darauf, begleitet vom Fanfarenklängen, war es endlich so weit. Der Vorhang öffnete sich, und der Advocatus hielt den Atem an. Nur wenige Schritte von ihm entfernt saß der Kaiser, umgeben von sieben Standbildern, welche die Nischen der Apsis zierten. In der Mitte, unmittelbar hinter dem Thron, erhob sich der Sonnengott, einen Strahlenkranz auf dem Haupt, zu seiner Linken und rechts von ihm weitere Götterstandbilder, unter anderem Mars, Jupiter, Venus und Saturn. Im Schein der dreifüßigen Kandelaber, allesamt aus Bronze, sahen sie wie lebende Personen aus, und es schien, als ließen sie die Bittsteller nicht aus den Augen.
Varros Aufregung wuchs. Am liebsten wäre er aufgesprungen, nach vorn geeilt und beim Kaiser vorstellig geworden. Um ihn vor der Gefahr, in der er schwebte, zu bewahren, war ihm jedes Mittel recht. Dann aber besann er sich. Zu viel stand auf dem Spiel, und es wäre fatal gewesen, sein Vorhaben zu gefährden.
Ein Blick nach links, und Varros Einschätzung sollte sich bestätigen. Zur Rechten des Kaisers thronte seine Frau, eine Stufe tiefer zwar, aber nicht minder bedeutsam, was ihr Wirken hinter den Kulissen betraf. Sie war es, welche die Fäden zog, die den Stein aufgehoben hatte, den andere, so zum Beispiel Scorpio, für sie schleudern würden. Oder, präziser ausgedrückt, hätten schleudern sollen. Sie und ihr Kammerherr, der Mann direkt neben ihr, feist und aufgeschwemmt, aber eminent gefährlich.
Und noch etwas fiel dem Anwalt auf. Von den Mitgliedern des Thronrates waren nur sechs erschienen. Ein Faktum, von dem außer ihm kaum jemand Notiz zu nehmen schien. Er selbst hatte den Oberhofmeister zwar nur einmal getroffen, aber was Gesichter betraf, funktionierte sein Gedächtnis bestens.
Einzig der Kaiser, starr geradeaus blickend, bildete diesbezüglich eine Ausnahme. Um ihn wiederzuerkennen, musste Varro zweimal hinsehen. Der da auf dem Thron saß, aufrecht, steif und gebieterisch, war von den Statuen, die ihn umringten, kaum zu unterscheiden. Wo war der Mann geblieben, der ihm das Leben gerettet hatte, der Kamerad, mit dem er in Britannien durch dick und dünn gegangen war?
Antwort: Er existierte nicht mehr. Der da saß, ein Diadem auf der Stirn und in Halbschuhe aus Seide und eine mit Edelsteinen besetzte Dalmatika samt Purpurmantel gehüllt, war ein anderer. Ein Fremder, dem er nie zuvor begegnet war.
Und ein Mann, der es gewohnt war, dass man sich seinem Willen fügte.
»Es lebe Konstantin, der gottesfürchtige, glückhafte, unbesiegbare Imperator, Cäsar und Augustus!«, deklamierte der Herold, so laut, dass es wie ein vielfältiges Echo von den Wänden widerhallte. »Vivat!«, antworteten die Anwesenden wie auf Kommando und von einer unsichtbaren Macht gelenkt. Und noch einmal: »Vivat Imperator!«
Varro sah sich verstohlen um. Auf ein Zeichen des Zeremonienmeisters, der ihre Namen aufrief, trat ein Würdenträger nach dem anderen vor, näherte sich den Stufen, welche die Apsis von der Audienzhalle trennten, und warf sich im Angesicht der Majestät auf die Knie. Der Atem des Anwalts beschleunigte sich. Bis er an der Reihe war, würde eine Ewigkeit vergehen. Nicht zuletzt deswegen war guter Rat teuer, konnte er doch nicht sicher sein, ob die Verschwörung, an der Scorpio beteiligt war, mit dem Tod des Meuchelmörders im Sand verlaufen würde. Gut möglich, dass ein anderer in die Bresche springen oder diejenigen, welche mit dem Präfekten unter einer Decke steckten, die Sache in die Hand nehmen würden. Oder dass die Pläne zur Beseitigung des Kaisers geändert worden waren. Oder dass …
Was immer geschah oder geschehen würde, er musste handeln.
Jetzt gleich.
Die Blicke der Anwesenden im Nacken, sprang der Anwalt auf, stieß mehrere Bittsteller beiseite und trat nach vorn. Ein Raunen ging durch den Saal, Rufe ertönten, hie und da sogar Schreie. Varro achtete nicht darauf, sah weder nach rechts noch nach links. Von nun an würden die Dinge ihren Lauf nehmen. Von nun an, da die Würfel gefallen waren, würde es kein Zurück mehr geben.
Keuchend vor Aufregung hielt Varro inne. Bis zum Thron waren es nur noch wenige Schritte, und er fragte sich, was er tun sollte. Doch dann, inmitten der allgemeinen Aufregung, fielen ihm die Instruktionen des Zeremonienmeisters wieder ein. Kniefall, Saum küssen und den Blick senken.
Und abwarten, was mit ihm geschah.
Im Begriff, die Anweisungen zu befolgen, blieb Varros Blick an der Kaiserin haften. Um danach, einen Wimpernschlag später, ihren Kammerherrn zu streifen, der so erstaunt schien, dass er sich nicht vom Fleck bewegte.
Nicht so der Kaiser, der von allen, die ihn umgaben, als Erster reagierte. Schneller als der Zeremonienmeister, der händeringend auf der Stelle verharrte, schneller als die Würdenträger, die ihn umlagerten und auch schneller als seine Leibwache, die erst dann eingriff, als Varro vollendete Tatsachen geschaffen hatte.
Die Andeutung eines Lächelns im Gesicht, hob Konstantin die Hand und gebot Varro, der sich zu sprechen anschickte, zu schweigen.
Dann erhob er sich, wandte sich ab und verließ den Saal.