DER PROFESSOR WAR NERVÖS WIE SELTEN. Er wollte der Frau, die da neben ihm im Auto saß, sein Haus zeigen. Das Haus, in dem die beiden – wie sagt man? – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – miteinander würden wohnen, also leben wollen. Wie würde sie das Haus finden?, fragte er sich immer wieder und meinte damit nicht die Fassade, nicht die Gründerzeitarchitektur, sondern die Inneneinrichtung. Denn die war – schwer, das richtige Wort zu finden. Der Professor hatte im Laufe der Jahre viele Urteile gehört. Von »hinreißend« bis »gewöhnungsbedürftig«, von »toll« bis »schauerlich«. Er hatte mit der Einrichtung nichts zu tun gehabt, er hatte sie aus Liebe grundsätzlich schön gefunden. Sie war das große geschmackliche Solo seiner verstorbenen Frau.
»Die Gegend ist schon einmal sehr hübsch«, hörte er die wohlklingende Stimme neben sich. Sie waren gerade in den Stadtteil eingebogen, in dem das Cottage genannte Villenviertel begann.
Diese Gegend. Es war dem Professor nicht möglich, nicht an damals zu denken.
Seine Frau war seine Studentenliebe gewesen, falsch: er ihre, denn er war mittellos, studierte mit Hilfe eines Begabtenstipendiums Vergleichende Literaturwissenschaft, während sie in ihrer Eigenschaft als höhere Tochter ein zielloses Kunstgeschichte- und Archäologiestudium betrieb. Als die beiden einander nahe- und immer nähergekommen waren, hatte er begriffen: Es würde sinnreich sein, alles, was er an kleinbürgerlichem Mief in seinem Elternhaus erfahren hatte, abzustreifen, sich von diesem Mädchen das, was man Lebensart nennen könnte, von Grund auf beibringen zu lassen. Damit kein schiefes Bild entsteht, er war kein Barbar, er konnte mit Messer und Gabel essen, aber die stilistischen Verfeinerungen des menschlichen Umgangs waren ihm neu und des Begreifens wert. So also wurde er von seiner späteren Frau in die Gesellschaft der großen Universitätsstadt, vor allem aber in ihr Elternhaus eingeführt. Die Eltern hatten ihr großes, alteingesessenes Innenstadtgeschäft mit feinsten Vorhängen und Polsterbezügen erst kürzlich an eine große Handelskette verkauft und lebten ein bestsituiertes Bürgerleben als Privatiers.
Ihre Villa war prall gefüllt mit – wohl über Generationen – ererbten und durch Zukauf ergänzten Stilmöbeln. Der dem Kleinbürgertum entstammende Student fühlte sich in diesem Mobiliar zwar deplatziert, hatte aber den größten Respekt davor. Er musste nämlich immer daran denken, dass das die Art von Mobiliar war, von der seine Mutter immer geträumt hatte. Da lagen die Teppiche übereinander, da schienen die kostbaren Kristallvasen einander den Platz streitig zu machen.
Der Professor, der er damals noch nicht war, wurde von den Eltern seiner Frau, die sie damals noch nicht war, durchaus sympathisierend geduldet, zumal es sich um einen angehenden »Akademiker« handelte, der in dieser Familie noch nicht vorgekommen war. Und als der dann auch noch summa cum laude promovierte und eine beginnende Universitätslaufbahn den Titel »Professor« ahnen ließ, war der Freude um die standesgemäße Bereicherung kein Ende mehr.
Es wurde geheiratet. Die Vorbereitungen für dieses Fest machten klar und immer klarer, dass zwischen den Eltern der Braut und dieser in allen Dingen selbst bestimmten jungen Frau deutliche Geschmacksdifferenzen bestanden. Zähe setzte sie von Einladungsliste bis Lokal- und Menüwahl ihre Vorstellungen durch. Die elterlichen Einwände, die jungen Leute von heute wüssten einfach nicht mehr, was Stil ist, überhörte sie.
Das junge Paar zog in eine kleine, hübsche Mietwohnung. »Für den Anfang«, meinten ihre Eltern, »reicht das doch.« Damit war wohl gemeint, die Ankunft eines Kindes würde ihre Großzügigkeit zu ganz anderen Investitionen inspirieren. Das Kind kam aber nicht. Er unterrichtete an der Uni, und sie setzte sich sogar einige Male in seine Vorlesungen.
Es vergingen Jahre. Sie studierte kaum mehr, kümmerte sich im Wesentlichen um Theater- und Konzertkarten. Die Einrichtung der Wohnung für zwei war allerdings ihr Werk. Und die sah so aus, dass ihre Eltern bei den ohnehin sehr seltenen Besuchen äußerste Mühe hatten, in den Formulierungen ihres Unverständnisses taktvoll zu bleiben.
Das Pendel schlug zurück, als die Eltern knapp hintereinander starben. Die kinderlose Frau des Universitätsprofessors war Alleinerbin einer Villa in erster Lage.
Natürlich trat das Paar das Erbe an. Noch hatte man die Hoffnung auf Fortpflanzung nicht aufgegeben, noch hatten die zu Rate gezogenen Gynäkologen eine künstliche Befruchtung nicht als die einzige verbleibende Möglichkeit attestiert. Jetzt musste sich der Professor mit ansehen, wie seine Frau mit beispielloser Konsequenz die Einrichtung des Elternhauses liquidierte, die »schönsten« Stücke möglichst rasch und oft unter Preis verkaufte. Sie glühte vor Begeisterung und spielte ihm immer gekonnt vor, wie sehr sie ihn in ihre Entscheidungen einbezog, wie sehr sie von seinem Beifall abhängig wäre. In wenigen Wochen war das Haus innen nicht mehr zu erkennen. Er traute sich kein letztes Urteil zu, aber dass es ein Wurf war, eine kompositorische Leistung, das war ihm bewusst. Er wurde virtuos im Simulieren von Begeisterung, wiewohl es nichts anderes war als Verzicht auf eine eigene Meinung. Er lieferte sich aus.
Bei der Housewarming-Party nahm er die Gratulationen mit Freude entgegen. Es wurde ausdrücklich gelobt, dass ein so seriöser, eleganter, stilsicherer Mann diese grandiosen »Verrücktheiten« so schätzt.
Drei Jahre danach war er Witwer. Es geschah am Tennisplatz. An einem späten Sommersonntag-vormittag. Während eines Mixed-Doppels. Gerade hatte man nach einem langen Ballwechsel noch gelacht, weil der Professor einen todsicheren Smash neben die Linie setzte, als seine Frau taumelte und umfiel. Schon die Rettungsärzte tippten auf ein Aneurysma. Sie hatten recht. Zehn Tage lang sah er sie noch an Schläuchen hängen, bis die Ärzte bereit waren, sie tot sein zu lassen.
Er war zum ersten Mal in seinem Leben allein. Seine Eltern gab es schon lange nicht mehr, ein älterer Bruder war als Arzt nach Australien gegangen und schrieb seit Jahren die Weihnachtskarte nur mehr auf Englisch. Nirgendwo empfand er das Alleinsein mehr als im – nunmehr seinem – Haus.
Es fehlte der Mensch, der dieser Dekoration, diesem Bühnenbild einer Existenz die Authentizität verlieh. Er wusste nicht, entsprach er nicht diesem Haus, oder entsprach das Haus nicht ihm in seiner Eigenschaft als Alleinseiender?
Eine immer wiederkehrende Frage ließ ihn fast panisch werden: Darf man einen Stil erben? Darf man sich breitmachen in einem Dekor, in dem ein Mensch fehlt? Momente lang machten ihn die gnadenlose Vermengung von kostbarer Antiquität mit extremer, funktionaler Moderne und die mutwillige Raumaufteilung aggressiv. Dann fragte er sich wieder schlicht, ob er spinne.
Der Ruf aus Rom kam zum richtigen Zeitpunkt. Eine Gastprofessur. Geradezu erleichtert packte er seine Koffer. Gerne sperrte er das Haus hinter sich zu. Das Haus, das ohne diese Verstorbene für ihn offenbar unbewohnbar war. Das sagte ihm sein letzter Blick zurück.
Rom machte ihm den Beginn eines neuen Lebens leicht. Seine Vorlesungen waren ein Erfolg. Die Einbindung in private Zirkel ging spielerisch, eben italienisch, vonstatten. Und dann hatte er ein besonderes Glück. An einem dieser Abende im Kulturinstitut, an denen immer wer singen, spielen oder vorlesen muss, damit die Menschen einen Grund haben, sich zu versammeln, hörte er plötzlich eine angenehme Stimme: »Ist Ihnen auch so langweilig?«
Eine Frau. Gemessen an seinem Alter eher ein Mädchen. Eine Deutsche. Nachdem er ihre Frage bejaht hatte, kam es zum Austausch der grundlegenden Informationen. Sie war Architektin, die bei einem italienischen Star der Branche praktizierte. Sie ähnelte seiner verstorbenen Frau. Jedenfalls in der Physiognomie. Körperlich weniger. Seine Frau war der Typ der Brustschwimmerin gewesen, die hier war Turmspringerin. Ja, die sah nach einem dreifachen Salto mit doppelter Schraube aus. Wie komme ich auf diesen Vergleich?, fragte er sich. Logisch, er hatte am Vortag im Fernsehen die Europameisterschaften der Schwimmer gesehen und sich bei manchen Frauenkörpern gedacht, mir fehlt was. Er schlug vor abzuhauen.
Sie saßen in einem kleinen Ristorante, er bestellte Wein und Wasser, dann lasen sie die Karte.
Er sagte: »Ich würde ja gerne Spaghetti aglio olio essen, aber das möchte ich Ihnen nicht antun.«
Sie sah ihn strahlend an: »Wenn ich sie auch esse, kann das kein Problem sein.«
Sie erzählten einander viel und so frei, wie das häufig der Fall ist, wenn man einander im Ausland begegnet. Das Exterritoriale nimmt Hemmungen. Er erzählte von seiner wunderbaren Ehe und deren tragischem Ende und eben ganz besonders viel vom Haus, mit dem er sich nicht mehr identifizieren mochte. Das amüsierte die Architektin ungemein. Immer wieder fragte sie, konnte aber mit seinen Antworten nicht viel anfangen.
»Ich hoffe, du kannst Literatur besser interpretieren«, sagte sie. Er nickte. Um zu einem Urteil zu kommen, müsste sie das Haus einmal sehen, wenn sie einmal Rom wieder verließe, meinte er. Das schloss sie nicht aus. Und sie erzählte von ihrer Affäre mit ihrem römischen Meister, ganz ungeniert von seinem gockelhaften Verhalten im Bett und von seinem völligen Unverständnis, als sie nicht mehr wollte.
»Erst hat er getan, als müsste ich ihm dankbar sein, jetzt winselt er mich an.« Sie wäre also völlig ungebunden, sagte sie. »Ich bin eine Frau mit wenig Gepäck.«
Als er daraufhin den Mut hatte, sie indirekt zu fragen, ob nicht – unterbrach sie mit einem klaren »Aber ja!«
So schliefen sie schon am Ende des ersten Abends miteinander.
Es folgte eine wunderbare Zeit. Erstens ist eine neue Liebe in Rom besonders gut platziert, zweitens kann eine Architektin einem kunstsinnigen Literaturprofessor diese Stadt so vorführen, dass er aus dem Staunen über sie – sowohl über die Stadt als auch über die referierende Frau – gar nicht mehr herauskommt.
Oft ließ seine Aufmerksamkeit aber nach. Immer dann, wenn er zwanghaft Vergleiche mit seiner verstorbenen Frau anstellte. Die war immer in weiten, weichen, farblich kühnen Garderoben herumgelaufen, die hier streng klassisch wie aus dem Journal der allerersten Liga. Kompatibel sind die zwei nicht, dachte er sich.
Das fiel ihm jetzt im Auto wieder ein, als er nach rechts schaute. Nachdem seine Romzeit zu Ende war, hatte auch sie die ihre beendet. Die Besichtigung des Hauses war einer der ersten Programmpunkte der Wiederankunft.
Als sie schon in die Querstraße zum Haus einbogen und die Pracht der Vorgärten die gesellschaftliche Stellung der Eigentümer verriet, sagte er Sätze wie »Du wirst dich vielleicht wundern …«, »Da wird man natürlich einiges umstellen m–«, »Glaub ja nicht, dass ich beleidigt bin, wenn …«.
Sie antwortete nur einmal: »Jetzt lass es mich doch erst einmal in Ruhe ansehen.«
Sie betraten das Haus. Ihm erschien die gesamte Optik, die Ästhetik noch etwas fragwürdiger, erklärungsbedürftiger als zuletzt. Ihr leichtes Lächeln konnte er nicht bewerten. Galt es seiner Nervosität oder dem Gesamtbild?
Sie würdigte ihn keines Blickes mehr, ging ruhig durch die Räume, blieb vor dem einen Bild oder dem anderen Vorhang stehen, schaute, befühlte. Er sah ein, dass er sich jetzt aus der Sache herauszuhalten hatte. Er setzte sich im Lebenszimmer – seine Frau hatte es so genannt – in ein Fauteuil und wartete. Aus dem ersten Stock hörte er einmal ein kurzes Lachen. Das ließ ihn nervös aufstehen und mit einem Finger über eine Granitfläche streichen. Er war beruhigt. Die beauftragte Reinigungsfirma hatte allmonatlich sorgsame Arbeit geleistet. Und gestohlen war, jedenfalls auf den ersten Blick, auch nichts.
Er setzte sich wieder.
Die Architektin kam aus dem ersten Stock zurück, stellte sich vor ihm auf, sah ihm in die Augen und stellte ruhig und strahlend fest: »Das ist ihr Haus, das ist ihr Stil, das ist in sich vollkommen stimmig, das bleibt alles, so wie es ist, wir werden es hier sehr schön haben.«
Er sprang auf. Er verspürte ein sprengendes Gefühl. Er liebte zwei Frauen. Eine tote und eine lebendige. Er umarmte die Lebende. Er war wieder zu Hause.
Ein Jahr darauf begann seine zweite Frau mit dem vorsichtigen Umbau. Aber das hat er nie bemerkt.