DER VEREIN
Wie jeden Tag standen die Autos Schlange in der Skalitzer Straße und hupten, weil es nicht schnell genug weiterging. Oberhalb der breiten Verkehrsader donnerte die Hochbahn und überschattete den mit Hundehaufen garnierten Bürgersteig.
Es war früher Nachmittag, und die Sonne hatte sich hinter einer grauen Wolkenwand versteckt, der Frühling war längst überfällig. Das Vereinsbüro befand sich im Erdgeschoss eines der Kreuzberger Gründerzeithäuser. Ich trat ein.
Sie wirkte so monochrom wie das Ladenbüro, in dem sie stand. Hier war der Verkehrslärm etwas gedämpft. Aber bei jedem Lkw, der vorbeidonnerte, wackelte die hölzerne Ladentür aus den Vierzigern und ließ den Verkehr mit einem Stakkatoschlag lauter werden, der danach, als gedämmter Soundteppich, dem öden Schwarz-Weiß weiterhin eine akustische Grundlage gab. Es war kurz nach zwei, ihre Brille schwarz, das Haar blond, und ihre Stimme klang, als würde sie sie verstellen. Die Schultern in ihrem Tweedkostüm waren nicht wirklich zu erkennen. Wer trägt heute noch ein Kostüm mit Schulterpolstern?, fragte ich mich. Fehlte nur noch ein messingfarbenes Ansteckschild mit einem eingravierten Namen, aber ich wusste ja bereits, dass sie Vanessa Swift hieß.
Sie hatte Locken. Ich war mir sicher, in anderen Klamotten, mit anderer Schminke und einer veränderten Frisur wäre sie eine begehrenswerte Frau. Aber so nicht, ich stehe nicht auf vierziger Jahre, stehe nicht auf Fräulein mit Brille. Dumpfes Grollen mischte sich in den Verkehrslärm. Wenn die Hochbahn auf der Skalitzer die stählerne Trasse passierte, dann zitterten die Locken eifrig mit.
Ich hatte einen Termin, deshalb hielt ich es nicht für erforderlich, mich großartig vorzustellen, und beließ es bei einem kurzen »Wir haben telefoniert«.
Sie bot mir keinen Platz an, und so blieb ich stehen und musterte sie, bevor sie zu sprechen anfing.
»Also Sie sind Maurice Jaeger. Schön, dass Sie so schnell Zeit gefunden haben, zu uns zu kommen. Wunderschönen guten Tag.«
Sie rückte die Brille zurecht, lehnte sich mit dem Hintern an einen grauen Bürotisch und überkreuzte die Stiefeletten.
»Ich habe Sie angerufen, weil wir, also ›wir‹, das ist unser Verein, wir würden eventuell Ihre Dienste in Anspruch nehmen. Ich sage Ihnen, worum es geht. Da können wir dann gleich entscheiden, ob wir zusammen ins Geschäft kommen oder nicht.«
Sie wischte sich eine Locke aus dem Gesicht.
»Also, wenn Sie nichts dagegen haben, komme ich gleich zur Sache, Einzelheiten können wir dann später noch … es geht um Polizeiarbeit. Ich denke …«, sie lächelte, »nein, lassen Sie mich es anders sagen.«
Sie atmete laut ein und aus.
»Es geht um Arbeit, die unbedingt gemacht werden muss, und wir würden Sie dann als Honorarkraft beschäftigen.«
Das klang eigentlich ganz gut.
»Entschuldigen Sie bitte noch mal, ich muss da doch noch mehr erklären. Es ist nicht so, dass wir oft Detektive beschäftigen, ich …« Erneut unterbrach sie sich, nahm die Brille ab.
»An sich hat sich unser Verein aus ganz anderen Gründen gegründet, aber wir haben in unserem Vorstand gestern beschlossen …«
Die angeklebten Wimpern zitterten nervös, sie setzte die Brille wieder auf. »Wir, unser Verein, wir kümmern uns um sozial Benachteiligte in dieser Gesellschaft.«
Ich schlug im Geist die Hände über dem Kopf zusammen.
»Wir betreuen Menschen, die den Weg ins Arbeitsleben suchen, wir werfen ein Auge darauf, dass die Mieten erschwinglich bleiben, wir machen Integrationsarbeit und sorgen uns um das soziale Milieu. Sie wissen schon, Gentrifizierung und so, aber jetzt …«
Sie verdrehte die Augen, wirkte einen Moment hilflos und fing sich wieder.
»Unser Verein setzt sich aus Leuten zusammen, die in den Achtzigern politisch aktiv waren. Friedensbewegung, Hausbesetzer, Generation X., Leute, die es ganz gern sehen, dass von ihren jugendlichen Idealen noch was übrig ist, die eine bestimmte Lebenskultur pflegen und auch bereit sind, anderen etwas abzugeben. Unser Verein steht für Gerechtigkeit, Toleranz, Laissez-faire, gelebte Langsamkeit und so weiter, Kreuzberger Lebensart eben.«
Das klang wie der auswendig gelernte Textblock einer Vereinsbroschüre. Dabei war noch gar nicht klar, was für eine Art Job das sein sollte. Auf das Schlimmste gefasst, sagte ich nichts, denn Klienten sollte man ausreden lassen.
Eine Grundregel in meinem Geschäft.
Ich hoffte, sie würde bald auf den Punkt kommen und meine Ohren nicht noch einmal mit der entsetzlichen Vokabel »Polizeiarbeit« strapazieren. Denn dann würden meine Ohren zu welken beginnen. Nicht dass ich Blumenkohlohren habe, nein, ich habe schöne Ohren, nur ich war früher einmal das, was man »Bulle« nennt.
Ich war
verbeamtet,
verheiratet,
verspießert,
und:
Ich war bis über den Kragen verkokst.
Aber das alles ist, Gott sei Dank, erledigt. Abgeschlossen. Vorbei.
Ich bin aufgewachsen in Mannheim, einer miefigen Industriestadt. Dort habe ich meine ersten Dienste geschoben. Meine Berufswahl war eine Fehlentscheidung, denn nach ein paar Jahren stellte sich heraus, dass mich das Bulle-Sein nervte und mir der Krampf mit der Uniform zu dumm war. Deshalb verließ ich nach einem Jahr die Trachtentruppe und wechselte zur Kripo. Hatte mir davon aber leider zu viel versprochen. Denn Ermittlungsarbeit, das war
genauso deprimierend,
stinklangweilig und am Ende
auch noch verhängnisvoll.
Warum wurde ausgerechnet ich Bulle?
Mein Vater, der im Benz-Werk als Schichtleiter robotete, hatte mir heimlich eine Lehrstelle besorgt. Dann war in meiner Abiklasse eine Frau, auf die ich unheimlich abfuhr, und die bewarb sich bei der Polizei. Deshalb bewarb auch ich mich dort. Außerdem war mein Vater dagegen, dass ich zur Polizei ging, was für mich ein Grund dafür war. Egal, zu was mich mein Vater damals aufgefordert hat, ich habe das Gegenteil davon gemacht. So tickte ich. Schade, dass er mir nicht geraten hatte, Kriminalbeamter zu werden. Das hätte mir eine ganze Menge Irrsinn erspart.
»… ist leider nicht mehr Dreh- und Angelpunkt unserer Gesellschaft«, fuhr das Fräulein gegenüber fort. Im Netz meiner Gedanken hatte ich etwas verpasst.
»Wie dem auch sei, wir kennen Ihren Lebensweg und haben …«
Da ging ich online: »Moment. Was wissen Sie über meinen Lebensweg?«
»Nun, das denke ich, spielt im Moment keine übergeordnete Rolle.«
Na ja, vielleicht nicht für dich. Für mich spielt das eine Rolle, wer mein Leben kennt. Und zwar eine übergeordnete.
Ich sah ihr tiefer in die Augen.
Grün. Diese Augen waren grün, aber das war es nicht, was mich irritierte. Ihre Augen hatten nichts mit dieser nervösen Attitüde zu tun, die sie an den Tag legte. Der Blick war fest und wackelte nicht.
»Also«, plauderte sie weiter, »also wir, das heißt der Verein VFGK, der Verein für ein freies, friedliches und gerechtes Kreuzberg hat beschlossen, diesen Mord an Gamal Barré mit Ihrer Hilfe aufzuklären.«
Mord. Mit allem hatte ich gerechnet, nur damit nicht. Eine Neidermittlung wegen falsch ausbezahlter Fördergelder hätte ich erwartet, oder den Seitensprung eines Vereinsvorstands aufzudecken, auch das wäre in meiner Phantasiewelt vorgekommen. Ebenso
Mietwucher,
Verbraucherbetrug,
Schutzgelderpressung,
mit jedem Mist hatte ich gerechnet.
Nur nicht mit einem Mord, den ehemalige Kollegen längst als »ungeklärt« ins Archiv verbannt hatten. Es erstaunte mich, für was sich die gemeinnützigen Vereine in Kreuzberg so zuständig fühlten.
»Hm«, sagte ich. Mord mache ich nicht, dachte ich.
Und sagte nichts weiter.
Sie sagte auch nichts weiter.
So standen wir uns minutenlang gegenüber. Sie schubberte unruhig mit dem Hintern an der Schreibtischkante, beim Vorbeirumpeln der nächsten Bahn erkannte ich, dass die Locken nicht echt waren. Dann ging sie in den hinteren Teil des Ladens, kam mit einer Zigarette wieder, zündete sie an, zog gierig, blies den Rauch in meine Richtung, schnippte nervös die Asche ab und lehnte sich wieder an den Tisch.
Ich verschränkte die Arme und pustete gelangweilt in die Luft.
»Der verdächtigte Täter war vor seiner Verhaftung in unserem Verein als Mitarbeiter beschäftigt. Ist Ihnen der tote Gamal Barré im Park eigentlich ein Begriff?«
»Nein.«
»Lesen Sie keine Zeitung?«
»Selten.«
»Ach so?«
»Ja.«
Ich war verärgert. Mit der Bemerkung, sie würde meinen Lebensweg kennen, hatte sie sich keinen Freund gemacht. Vor allem weil sie mir nicht sagen wollte, woher sie über mich Bescheid wusste und was sie wusste.
Denn: »Lebensweg«, das hörte sich an, als ob sie über
meine Abhängigkeit,
meinen Rausschmiss und
meine finanziellen Probleme
viel zu viel wusste.
Ich habe eine einfache Webseite, und mein Name steht im Telefonbuch, aber dort gibt es keinen Lebenslauf, keine Vita, auch kein Curriculum Vitae und erst recht keine Facebook-Chronik. Die dunklen Flecken meiner Vergangenheit gehen niemanden etwas an.
Andererseits: Ich hatte Geld bitter nötig.
Vielleicht solltest du dir doch ein paar Einzelheiten anhören.
»Ich vermute mal, Sie sprechen von diesem toten Drogenhändler aus der Hasenheide«, sagte ich.
»Angolaner.«
»Bitte?«
»Gamal Barré war Bürger der Republik Angola, er wurde im Volkspark Hasenheide ermordet aufgefunden. Schädelfraktur, der Kopf wurde ihm eingeschlagen, die Kehle durchgeschnitten.« Sie unterstrich das Gesagte mit einer Handbewegung, warf die halb gerauchte Kippe auf den Boden, zerdrückte sie, verzog das Gesicht und verschränkte die Arme.
»Die Polizei ermittelte und kam schließlich auf die Formulierung: Es ist ein Tötungsdelikt im Drogenmilieu.« Wieder verzog sie das Gesicht. Das konnte sie gut. Empört fuhr sie fort: »Und das aufgrund der Aussage eines einzigen Zeugen und anhand von zwei dürftigen Beweisen. Daraufhin haben sie unseren Mitarbeiter Shako Morlo verhaftet. Seine Interessen vertritt der Verein. Das sind die Fakten.«
Dann machte sie eine Pause.
»Und?«
»Die Polizei hat sehr nachlässig ermittelt. Deshalb wurde ich beauftragt, jemanden zu suchen, der privat ermittelt.«
»Und da sind Sie auf mich gekommen.«
Sie sagte dazu nichts, quasselte fröhlich weiter.
»Shako Morlo wird von der Polizei als Drogenhändler betrachtet, was absoluter Blödsinn ist. Offensichtlich nur, weil er aus Jamaika stammt. Tatsächlich arbeitet«, sie verbesserte sich, »arbeitete er nur für unseren Verein. Es stimmt auch, dass er zu dem angenommenen Zeitpunkt des angeblichen Mordes in der Hasenheide war. Shako ist Streetworker und hat für uns als Integrationsbeauftragter gearbeitet. Er betreut die Haschischhändler vor Ort. Eine harte und schwierige Arbeit. Seine Aufgabe war, sie zu einer anderen Beschäftigung zu motivieren. Behördengänge organisieren, Sozialhilfe beantragen, Jobsuche …«
Sie schweifte wieder ab, referierte über Politiker, die Arbeit des Vereins und so weiter. Das alles im aufgesetzten Sozialarbeiterjargon.
Ich musste mir große Mühe geben, nicht wieder wegzudriften, da kam sie auf ein interessantes Thema.
»Nun, wie Sie sicher erahnen, ist es nicht so, dass ein gemeinnütziger Verein in der Lage ist, unermesslich viel Geld auszuspucken. Sie wissen schon, auch wir müssen das Budget streng im Auge behalten. Wir sind jedoch in der Lage, Ihnen fünfzig pro Tag zu bezahlen. Das ist nicht viel, ich weiß. Ihre Auslagen bekommen Sie darüber hinaus selbstverständlich erstattet.«
So etwas hatte ich bereits geahnt. Ein Hungerlohn. Mein erwünschter Tagessatz ist viel höher.
Ich räusperte mich missbilligend. Sie ließ sich dadurch aber nicht stören.
»Wenn Sie damit einverstanden wären, würden wir Sie gern engagieren.«
»Das reicht nicht.«
»Das haben wir uns gedacht, glauben Sie mir, wir haben in unserer letzten Vereinssitzung lange darüber diskutiert. Wir könnten Ihnen neben Ihren Auslagen eine Spesenpauschale von dreißig pro Tag anbieten, aber mehr ist wirklich nicht drin. Das wäre das Höchste der Gefühle.«
»Meine Gefühle gehen gern noch höher«, knurrte ich leise, aber beließ es dabei. Das hier war ein Kreuzberger Verein, da lohnte es sich nicht, weiter zu feilschen. Die Klitsche würde sowieso nicht mehr Geld ausspucken. Warum also mit den Füßen scharren, wenn’s keine Erde bewegt.
»Haben Sie irgendwelche Unterlagen, Anwaltsakten, Untersuchungsberichte, die ich einsehen könnte?«, fragte ich.
»Natürlich nicht. Dafür sind Sie ja da, dafür haben wir Sie gewählt, weil wir uns dachten, Sie als ehemaliger Polizeibeamter wissen genau, wo es langgeht. Andernfalls hätten wir uns auch an eine x-beliebige Detektei wenden können.«
»Die wären ja wohl auch wesentlich günstiger gewesen.«
»Täuschen Sie sich da mal nicht. Wir geben uns nicht mit dem Billigsten zufrieden.«
Na toll, dachte ich, dann verstehen wir uns ja bestens.
Ich wollte gerade fragen, wieso dieser Shako Dingsda unschuldig sein sollte, da öffnete sich für einen Moment die Ladentür. Ein Lärmschwall Hochbahndonnern enterte das kleine Ladenbüro, und ein Mädchen schob sich durch die Tür. Ich sah sie an, hatte sogar höflich »Tag« gesagt, doch obwohl ich ihr im Weg stand, behandelte sie mich wie Luft. Sie schlug einen Haken und warf sich Vanessa an den Hals. Das brachte deren Seitenlocke so zum Wippen, dass die Perücke verrutschte. Verblüfft starrte ich beide an. Was für ein Paar.
Mary Astor meets Lisbeth Salander.
Die Kleine trug den berüchtigten Kreuzberger Ultra-Mini in rotem Schottenkaro. Natürlich ohne Strümpfe. Offensichtlich schienen die beiden sich sehr zu begehren. Denn zum wilden Rumgeknutsche griffen sie einander unter die Röcke.
Was für eine Aussicht. Das tätowierte Gemälde auf den nackten Beinen der kleinen Punkerin war nicht schlecht gemacht, ein Ausschnitt aus Anselm Feuerbachs »Amazonenschlacht«, mit einer Streitaxt auf einer der freigelegten Pobacken.
Sie küssten sich lange. Ich wartete.
Gut, dachte ich zwei Minuten später, dann kann ich jetzt ja wieder gehen, war ich wohl nur das Opfer einer Art »Verblendung« geworden. Das sollte also der Verein für ein freies, friedliches und gerechtes Kreuzberg sein. Eine feministische Berliner Beziehungsbude mit idealistischem Anspruch. Stieg Larsson hin oder her, vermutlich war das hier die Hackerin, die meine ganzen Sünden ausgekundschaftet hatte. Angenervt vom Code Kreuzberg drehte ich mich um, hatte bereits die Hand auf dem abgewetzten Griff der Ladentür, als die beiden mich doch noch einmal bemerkten.
»Halt, oh, ah, entschuldigen Sie bitte.« Vanessa Swift rückte sich wieder zurecht, zog den Rock des Kostüms runter. Das mich nicht beachtende »Ding« trottete kommentarlos in die hinteren Räume, vermutlich dahin, wo ihr Computer geil piepend auf sie wartete.
»Dann ist ja alles klar«, sagte ich in der Annahme, dass das alles nicht ernst gemeint war. Hätte vielleicht ein interessanter Job sein können.
»Ich möchte, dass Sie mit Ihren Ermittlungen schnellstens beginnen. Lassen Sie uns später telefonieren. Für äh … weitergehende Einzelheiten.«
Vanessa Swifts Augen waren nun unruhig, sie schien abwesend zu sein.
Jetzt aber flott, flott ins Hinterzimmer zu deinem Herzblättchen, dachte ich, drehte mich um und verließ den Laden. Draußen stieg ich in meinen altersschwachen Alfa Romeo GTV 2000.