IV
22. Februar. LOGBUCH DER YACHT
JULIET
. Snug Harbor. 09° 19.66′ N 078° 15.08′ W. NOTIZEN UND ANMERKUNGEN: Wie lautet das Sprichwort? Wenn du Gott so richtig zum Lachen bringen willst – mach Pläne. Wir mussten unsere Freunde zurücklassen & weiterziehen. Unser Plan war/ist, Kolumbien anzusteuern. Hier & da vor Anker gehen, neue Paradiese & noch mehr Seesterne finden & den Fluss hinaufsegeln und uns die Friedhöfe von Sugandi Tiwar anschauen … Aber die Vorräte, die wir in Narganá an Bord genommen haben, waren zu dürftig. Uns ist aufgefallen, dass wir so schnell wie möglich Proviant brauchen. Juliet sagt, wir würden in Kürze anfangen, an den Schotten zu knabbern. Also sind wir hier nach Snug Harbor gesegelt, um unsere erste große Überfahrt zu planen. Nach Cartagena. Und dann? Göttliches Lachen von oben.
Snug Harbor. Ich weiß noch, wie ich am Bug stand und versuchte, aus dem Wasser schlau zu werden. Im Wissen, dass der Kiel der Juliet
die Riffe nur um Haaresbreite verfehlte. Michael schrie vom Ruder aus. Es war immer am furchtbarsten bei starkem Wind. Der Wind brachte mich durcheinander.
Was?, schrie ich. Ich kann dich nicht hören!
Ankern bringt das Schlimmste in uns zum Vorschein. Vom Heck bis zum Bug liegen 12 Meter zwischen uns. Es ist schwer zu schreien, ohne wütend zu klingen. Und dann, sobald man Mist baut, bildet sich eine Menschenmenge und alle schauen zu.
Die Sonne stand hoch, aber es gab keine hellen Kontraste auf dem Grund, nur Abstufungen von Braun. Das war neu für mich: Schlamm. Der Bug der Juliet
schoss voran. Ich konnte meinen eigenen Schatten zusammengekauert am Bug sehen, gefangen in den Schatten der Rigg, wie eine Spinne im Netz.
Hier liegen noch 3 andere Yachten vor Anker. Trotz des so behaglich klingenden Namens ist Snug Harbor kein beliebter Halt bei Ausländern, es ist also einfach bloß Pech. Während J & ich uns streiten, kommen die Mannschaften der anderen Boote an Deck. Ich nehme an, es gibt nichts Unterhaltsameres, als einem verheirateten Paar dabei zuzusehen, wie es sich in einer kitzligen Situation in die Haare bekommt.
Ein Teil von mir ist gar nicht wirklich hier. Ich bin nicht bei der Sache. Mein Segelführer liegt unter Deck. Snug Harbor … Hat der Führer ein Korallenriff im Südwesten oder im Südosten der Insel erwähnt? Das GPS wählt sich noch ein, dann startet es neu. Noch keine Untiefen bisher. Ich schalte das verdammte Ding aus.
Ich kann den Grund nicht sehen, schrie ich zu Michael hinüber. Der Grund ist hier nicht sandig.
Was?, schrie er aus dem Cockpit zurück
.
Ich sagte, es ist nicht sandig. Es ist schlammig. Es sieht tief aus, wie tiefes Wasser.
Aber das ist der Grund, Juliet. Der Tiefenmesser zeigt fünfzehn Fuß an.
Wie viel Fuß?
Fünfzehn!
Schrei mich nicht an, rief ich.
Ich schreie nicht, schrie er.
Was ist mit dem GPS?, fragte ich. Schau aufs GPS.
Das ist nutzlos in so einer Situation, Schatz. Es ist viel besser, wenn du …
Verdammt.
Was?
Setz zurück!
Setz zurück, Daddy.
Ruhe, Sybil. Rückwärtsgang!
Er legte mit Vollgas den Rückwärtsgang ein. Der riesige Korallenkopf direkt vor uns fiel weiter zurück, und die Brandung spülte über seinen fetten, rutschigen Buckel. Ich konnte mir Juliets
Kiel vorstellen, der uns unter Wasser blind vertraute.
Was zur Hölle sollte das, Schatz?
Na ja, wir waren nur einen halben Meter davon entfernt, auf Grund zu laufen, das sollte das, Captain.
Okay, wir fahren zurück. Bitte sag das nicht so ironisch, Juliet.
Was?
Captain.
Sei nicht gemein, Mommy.
Halt dich da raus, Sybil, sagte Michael. Und hör bitte auf zu singen. Ich brauche Ruhe, sonst kann ich Mommy nicht verstehen.
Ich drehte mich um und legte beide Hände um meinen
Mund. Benutz das GPS, Michael. Ich bin keine Hellseherin. Ich kann das nicht sehen, sage ich dir. Nicht, wenn der Grund derartig schlammig …
Auf dich ist mehr Verlass als auf das GPS, Juliet.
Aber das GPS bekommt keine Angst, Michael.
Du willst mir sagen, dass du uns wegen eines Gefühls nicht navigieren kannst?
Ich stieß ein schrilles Lachen aus. Na ja, wenn du gern wissen möchtest, wie das ist, Gefühle zu haben, beschreibe ich’s dir mal bei Gelegenheit.
Schreit nicht, Mommy und Daddy, sagte Sybil.
Halt dich da raus, sagten wir gleichzeitig.
Wir schauten zum nächsten Boot hinüber, wo mehrere Gestalten in einem überdachten Cockpit saßen. Wir boten ihnen eine ziemlich gute Show.
Hallo, da drüben! Michael winkte.
Niemand antwortete. Es war ein makelloses, teures Beneteau. Den trägen, modischen Gestalten im Cockpit nach zu urteilen, handelte es sich um eine gecharterte Yacht. Eine, auf der der Kapitän weiße Shorts tragen und Geschichten davon erzählen muss, wie er bei der Handelsmarine dreißig Meter hohe Wellen überlebt hat. Ich hasste sie.
Ich atmete tief ein, kletterte auf die Kabinendecke und umklammerte den Mast. Sybil saß im Cockpit neben ihrem Bruder und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Was machst du denn, Juliet?, fragte Michael. Du musst am Bug bleiben.
Hör zu, sagte ich. Wir werden schrecklich nah an dieses Boot heranmüssen, wenn wir es hier durch schaffen wollen. Die versperren uns den Eingang. Sollen wir um sie herumfahren? Und es vielleicht woanders versuchen?
Michael dachte darüber nach, schaltete auf Leerlauf. Sybil spähte gespannt zu uns herauf. Aber ich wusste schon, dass er
nicht nachgeben würde. Er hatte diesen Kurs schließlich aus Prinzip eingeschlagen.
Ach, Quatsch, sagte er. Wir sind nun schon mal hier. Ist ja nicht unsere Schuld, dass die keine Ahnung haben, was sie da tun.
Okay, es ist definitiv eine enge Nummer, aber müssen die gleich in Panik ausbrechen? Die Passagiere auf der Yacht, die unsere Einfahrt blockiert, werfen ihre Fender über die Reling und fangen an zu schreien. Passt auf! Passt auf! Jemand holt sogar ein Schiffshorn hervor, und uns schlagen ein paar ohrenbetäubende Tut-Signale entgegen, während wir versuchen, uns einzufädeln. George bringt das zum Weinen. Aber ich kenne die
Juliet
. Sie ist schlanker, als sie aussieht. Ich beobachte meine Frau am Bug. Irgendwas an den herumschreienden reichen Amerikanern beruhigt sie. Mit einem Fuß auf dem Bugkorb sieht sie aus wie eine Eroberin und navigiert uns noch ein, zwei Meter näher an die Yacht heran, kaltblütig wie nie. Im allerletzten Augenblick gibt sie mir das Zeichen, hart nach steuerbord zu drehen. Wir sind im Riff.
Wir warfen den Anker am östlichsten Punkt des Liegeplatzes aus, eindeutig der mieseste Teil, denn sonst war niemand dort. Da wir aber inzwischen ohnehin die unbeliebteste Yacht in Snug Harbor waren, passte es perfekt. Wir mussten nur noch ausführlich darüber debattieren, welcher Anker sich für schlammigen Untergrund eignete. Als wir die passende Stelle gefunden hatten, waren wir alle erschöpft. Georgie weinte vor Hunger, und Sybil saß unter Deck und schaute wie ein Häftling durch die Luke zu uns herauf. Michael hatte es sich
zur Gewohnheit gemacht, den Anker mehrmals zu testen. Wir setzten ihn und überprüften ihn zehnmal, aber dann musste er immer noch das Boot mit voller Kraft zurücksetzen, »nur um ganz sicher zu gehen«.
Bitte, lass uns aufhören, sagte ich. Bitte. Die Kinder haben nichts gegessen. Es gibt keinen Wind. Aber nein, Michael bestand auf dem Ankertest. Er setzte zurück. Die Ankerkette straffte sich, aber genau in dem Augenblick, als er auskuppelte, gab etwas nach.
Was zur Hölle, brüllte Michael. Was zur Hölle war das denn?
Die Juliet
ließ ein ungewohntes Rasseln hören, dann aber entspannte sie sich wieder. Der Motor lief, aber es gab keinen Schub. Das Gefühl ließ sich mit Händen greifen.
Michael überprüfte das Kielwasser. Da war nichts.
Er tauchte in den Niedergang hinab und öffnete die Motorluke. Ich stand an Deck und schaute in den Himmel, versuchte, nicht nachzudenken, versuchte, mir keine Sorgen zu machen. Wir sind in Snug Harbor, sagte ich mir, wo wir es ganz gemütlich haben, wie der Name schon sagt. Ich schnallte Georgie von seinem Kindersitz, und er kletterte auf meinen Schoß. Beide Kinder schauten jetzt schweigend und mit Begräbnismienen zu, wie Michael auf und ab lief. Sie spürten immer, wenn die Kacke am Dampfen war.
Michael kam langsam die Leiter herauf.
Es ist das Getriebe, sagte er.
Was ist damit?
Hin.
In diesem Moment fällt mir etwas ein: Das ist nicht das erste Getriebe, das bei mir den Geist aufgibt. Nach der Westsail hatte sich mein Dad noch ein weiteres Mal besonders
weit aus dem Fenster gelehnt und sich einen 1984er Pontiac Fiero in Weiß gekauft. Mit meinem besten Freund Nate auf dem Beifahrersitz fuhr ich damit immer durch Ashtabula. Der Wagen war weitaus langsamer, als er aussah, aber Dad war furchtbar stolz auf das Ding. Er schärfte uns ein, auf keinen Fall zu rasen. Also rasten wir ununterbrochen. Von Ampel zu Ampel über leere Ohio-Kreuzungen. Eines Nachts hakte der Fiero ein bisschen beim Gänge-Einlegen. Als hätte er Zweifel. Und dann, als ich vom ersten zum zweiten raufschalten wollte, löste sich der Schaltknüppel & begann in meiner Hand herumzueiern. Wie sich herausstellte, war es die Kupplungsscheibe. Nate & ich hatten sie geschrottet. Deshalb fange ich sofort an zu beten, als die
Juliet
uns in Snug Harbor den Dienst aufkündigt: Bitte, lass es die Kupplungsscheibe sein. Denn es könnte sehr viel schlimmer kommen.
Es war unser heißester Tag in Kuna Yala. Es wehte kein Lüftchen am Liegeplatz, und während wir in der unverschleierten Sonne saßen, bekamen wir einen ersten Vorgeschmack davon, wie heiß es werden würde, wenn der karibische Sommer erst begann. Nichts rührte sich in Snug Harbor. Unsere Nachbarn waren alle unter Deck, tranken vermutlich Moscow Mules vor der Klimaanlage. Georgie spielte in dem Baby-Pool, den wir oben im Cockpit aufgestellt hatten, damit wir uns aufs Sorgenmachen konzentrieren konnten. Sybil lag im Schatten des Sonnenverdecks auf dem Rücken, störte sich nicht an dem Mangel an Kissen und knabberte aufmerksam an einer Zuckerkette – eins unserer letzten vorrätigen Lebensmittel. Michael und ich saßen derweil schwitzend im Cockpit und versuchten herauszufinden, was zu tun war. Auf halber Strecke wischen zwei Häfen saßen wir buchstäblich fest
.
Oh, na toll, sagte ich. Missionare.
Was?, fragte Michael geistesabwesend.
Missionare. Schau.
Denn da waren sie: In weißen Kurzarmhemden und dunklen Hosen kamen sie mit einem kleinen Motorboot auf uns zu.
Und ich dachte schon, dieser Tag könnte nicht mehr schlimmer werden, sagte Michael.
Warum sind die so schick angezogen?, fragte Sybil und spähte aus dem Cockpit.
Michael und ich schauten einander an. Er hatte sein Muskelshirt an, und seine ungewaschenen Haare hatten sich zu einzelnen blonden Strähnen verfilzt. Ich trug eines seiner T-Shirts über einem Sarong. Und die Kinder – schweigen wir lieber. Sybil war oben ohne, abgesehen von ein paar Mardi-Gras-Ketten um ihren Hals. Sie trug Shorts über langen Hosen. Wir mussten lachen. Ich streifte Sybil ihr Shirt über.
Lieber Gott, sagte ich. Was wir für einen Anblick abgeben.
Du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen, sagte Michael.
Hallo!, rief uns einer von ihnen zu, eine Bohnenstange von einem Jungen. Wir haben gehört, Sie hätten Probleme.
Oh, sagte ich. Sie wollen uns helfen.
Können wir neben der Juliet
beidrehen?
Oh, natürlich, rief Michael zurück.
Ein weiterer Junge warf ein Tau, und Sybil band es rasch an unserer Klampe fest. Sie waren zu dritt in ihrem Boot und sahen in ihrer Kleidung und mit ihrem kurz geschorenen Haar nahezu identisch aus. Einer der Jungen hob seine Sonnenbrille. Er wirkte älter als die anderen, aber immer noch sehr jung.
Wir sind aus Playón Chico, sagte er, direkt auf der anderen Seite von Snug Harbor. Ich bin Teddy, das ist Mark, das ist John
.
Wir stellten uns vor und erklärten unser Problem mit dem Getriebe.
Verdammtes Pech, wenn man ausgerechnet hier draußen eine Reparatur benötigt, sagte der ältere Junge. Aber da kann man was machen. Es gibt hier einen Einheimischen mit einem Flugzeug. Er könnte Sie nach Panama-Stadt bringen, und da könnten Sie sich Ersatzteile besorgen, wenn Sie das wollten.
Wir haben uns gerade überlegt, was wir machen sollen, sagte Michael. Wir sind mit unserem Latein am Ende.
Verdammtes Pech, sagte der Junge erneut. Es schien ihm ehrlich leidzutun.
Selbst wenn ich das Ersatzteil hätte, erklärte Michael, könnte ich die Reparatur nicht selbst erledigen.
Die Jungs nickten ernst.
Aber Sie könnten segeln, sagte einer von ihnen hoffnungsvoll. Ich meine, Ihr Boot ist doch intakt.
Ich schaute Michael an, der völlig in Gedanken versunken zu sein schien.
So wie die Leute das früher getan haben, ergänzte der Dritte. Viele machen es ja immer noch so. Wie die Kuna.
Mein Mann ist ein sehr guter Segler, sagte ich. Er könnte uns ohne Motor nach Cartagena segeln. Das ist nicht weit.
Michael schaute mich überrascht an.
Ich kann um den Mast fliegen, verkündete Sybil. Wollt ihr das sehen?
So oder so brauchen wir ein Zarpe, sagte Michael. Wir dürfen ohne Genehmigung nicht aus Panama raussegeln.
Dafür müssten Sie dann zurück nach Porvenir, sagte Teddy.
Michael blinzelte. Warum?
Der Typ an der Grenze nach Kolumbien ist ein Wichser. Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Aber in Porvenir gibt man Ihnen eine Ausreiserlaubnis, ohne Probleme.
Das ist eine gute Idee, sagte ich
.
Porvenir liegt gegen den Wind, Juliet, sagte Michael. Es würde ewig dauern, da ohne Motor hinzusegeln.
Ich zuckte mit den Schultern. Dann musst du da allein hinfahren. Auf der Straße.
Michael verzog spöttisch das Gesicht. Und euch soll ich hier lassen?
Wir schauten uns alle sechs auf dem Liegeplatz um. Friedlich und unbewohnt. Reiher saßen in den Bäumen.
Wir könnten Sie bis Tigre mitnehmen, sagte Teddy. Von dort legen ständig Boote nach Porvenir ab.
Wir könnten ja ein bisschen auf Ihre Familie achtgeben, bot einer der anderen Jungen an. Mit den kleinen Kindern im Ausland und so weiter.
Vielen Dank, sagte Michael. Er sah traurig aus. Wir werden uns das durch den Kopf gehen lassen.
Gut. Also … Die Jungs warfen einander Blicke zu. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir ein Gebet für Ihr Boot sprechen?
Na ja, sagte Michael seufzend. Schaden kann’s nicht.
Teddy stand auf und legte eine Hand auf das Vorstag der Juliet
. Alle drei senkten die Köpfe.
Himmlischer Vater, sagte Teddy.
Ich versetzte Michaels Arm einen Klaps. Dann neigte auch er den Kopf.
Du bist immer bei uns. Denn Deine Liebe reicht überallhin. Über die Wolken und tief ins Meer. In die Helligkeit des Tages und durch die dunkle Sternennacht. Ich weiß, Deine Hand wird mich behüten. Oben am Himmel und über Brücken, durch tiefste Täler und über steile Felsen. Du beschützt mich. Du wachst über mich. Und ich will mein Vertrauen in Dich legen.
Ich schaute auf, aber die Jungen runzelten ihre Stirn noch immer hoch konzentriert
.
Wenn mein Boot nicht hält, weiß ich, wirst Du mich leiten, himmlischer Vater. Du wirst mich nicht allein lassen auf den Wassern, Du wirst mir den Weg weisen. All meine Ängste lege ich in Deine Hand, denn Du wirst mein Herz Vertrauen lehren. Und im Gegenzug will ich Dich lieben und Dein Wort verkünden, oh, himmlischer Vater. Amen.
Endlich entspannten sich ihre Gesichter und sie richteten ihren Blick auf uns. Am Himmel waren die Wolken weitergezogen, und um sie herum glitzerte das Wasser. Sie machten einen zufriedenen, ja, geradezu erleichterten Eindruck.
Wir kommen später noch mal vorbei und schauen, wie Sie sich entschieden haben. Wäre das okay?
Klar, sagte Michael. Wir wissen das zu schätzen. Vielen Dank.
Die Jungen tuckerten davon, und Sybil schaute ihrem Kielwasser hinterher.
Was sind Missionare?, fragte sie.
Missionare sind Leute, die wollen, dass jeder an ihren Gott glaubt. Sie sind hier, um die Kuna zu »retten«.
Was haben denn die Kuna für Probleme?
Gar keine.
Ich glaube an Gott, sagte Sybil. Ich
glaube den Missionaren.
Schön, sagte ich und strich ihr über das schweißnasse Haar. Wir können wirklich jede Hilfe gebrauchen.
Lieber Gott. Wusstest du, dass bei Quallen der Mund an derselben Stelle sitzt wie das Poloch? Lieber Gott. Wusstest du, dass man von einem Mädchen zu einer Frau werden kann, aber nicht von einem Mädchen zu einem Nashorn? Wir stammen vom Affen ab (weißt du ja). Wir haben bloß all unsere Haare verloren. Aber wenn man ein Nashorn werden will, muss man bis zu seinem nächsten Leben warten.
Ich glaube, wir werden immer wieder von vorn geboren. Das ist bloß das erste Leben.
Lieber Gott, bist du bloß im Himmel oder auch im Wasser? Ich glaube, auch im Wasser. Wenn das Boot ganz schnell fährt und ich über die Reling schaue, hab ich schon gesehen, wie du zu mir hochgeschaut hast. Oh, himmlischer Vater. Hast du meine kleine Nugget gefunden? Sie trägt ein rotes Kleid und einen weißen Rock und hat große begeisterte Augen. Ich sage nicht immer die Wahrheit, himmlischer Vater. Ich sage die Wahrheit, aber meine Knochen lügen. Baby Nugget ist über Bord gefallen. Ich hätte nicht mit ihr an Deck spielen sollen, oh lieber Gott. Außerdem kneife ich manchmal meinen Bruder, wenn Mommy nicht hinschaut. Lieber Gott und Vater. Bitte beschütze die Chinesenkinder in China und die Australienkinder in Australien und die Kunakinder in Kuna Yala und beschütze auch meinen Daddy auf seiner Reise, oh Herr.
Wir haben stundenlang darüber debattiert. Ob ich nun ohne sie nach Porvenir fahren sollte. Ich wäre 2 Nächte fort. Eine, um bis nach Porvenir zu kommen, und die zweite, um mich in Sabanitas mit neuen Vorräten einzudecken.
Mir gefällt die Vorstellung nicht, sage ich.
Du glaubst, ich käme hier alleine nicht klar, sagt sie. Du ermutigst mich dauernd zu segeln, aber tief im Innern denkst du, ich könnte nichts alleine auf die Reihe kriegen.
Ich zucke mit den Schultern. Beiße nicht an. Ich sage ihr, dass ich nicht weiß, was mir am meisten Sorgen macht. Wenn ich mit frischen Lebensmitteln & der Ausreiseerlaubnis zurück bin, haben wir immer noch keinen funktionierenden Motor. Ich werde anschließend immer noch
ohne Motor nach Cartagena segeln müssen. Und das würde selbst einen erfahrenen Seefahrer nervös machen.
Sie mustert mich. Ich kenne dich nun so viele Jahre, Michael, sagt sie, und du hast immer einen klaren Kopf behalten. Das bewundere ich. Aber hier draußen ist es mehr als das. Du bist ein
Seefahrer
. Du verstehst die See.
Ich schaue zu ihr hinüber. Ihre Wangen sind gerötet von den letzten Schlucken Narganá-Wein. Ihre Augen haben einen unerschrockenen Ausdruck unter schweren Lidern. Sie hat die Haare mit einem Bandana zurückgebunden, das sie vorn auf der Stirn verknotet hat, wie Rosie, die Nieterin, auf den alten Propagandaplakaten. Ich starre sie einen Moment an, versuche darauf zu kommen, an wen sie mich erinnert.
Dann fällt es mir ein.
Sie erinnert mich an Juliet.
Ich werde fahren, sage ich.
Auf der Yacht kehrte meine Schlaffähigkeit zu mir zurück. Lange Tage voller Sonne und Wind ließen mich schlaff in der Koje liegen, als wäre ich aus großer Höhe hineingefallen, während das amniotische Rauschen der Wellen durch meine Träume zog. Währenddessen erreichte Michaels Energie völlig neue Höhen. Er schien sein Schlafbedürfnis endgültig abgelegt zu haben. In meinem tiefen Schlummer spürte ich nur, wie er die Koje verließ. Hörte seine Schritte an Deck. Doch in der nächsten Minute war er schon wieder zurück, lag auf seiner Seite, starrte mich an.
In der Nacht, bevor er nach Porvenir aufbrach, ging ich hinauf, um ihn zu suchen. Ich vermisste seinen Körper im Bett.
Er saß am Rand des Kabinendachs mit dem Rücken zu mir und schrieb. Der Wind war stark auf See, aber an Land
absorbierte ihn die Dschungelwand. Der Himmel war wolkenlos, funkelnd im Mondschein. Der Polarstern schien unverwandt über das Festland. Ich überlegte, ob ich seinen Namen sagen sollte, aber ich tat es nicht. Ich überlegte, ob ich ihn zurück ins Bett rufen sollte, aber ich tat es nicht.
Es ist so ermüdend, das Gewicht von nie gesagten Worten mit sich herumzutragen.
Sie werden kleiner & kleiner. Juliet hält George im Cockpit auf dem Arm, aber Sybil ist zur Hälfte den Mast heraufgeklettert & hängt direkt unter der Saling. Juliet winkt. Sie fordert George auf, es ihr gleichzutun, aber er kneift nur die Augen zusammen, weil er mich in der Ferne nicht mehr erkennen kann. Der Himmel ist bewölkt, dennoch blendet er. Ich werfe ihnen Küsse zu. Aber nur Sekunden, nachdem wir den Liegeplatz verlassen haben, schaltet der junge Teddy den Außenbootmotor an & ich knalle beinahe mit dem Kinn gegen den Bug.
Ich setze mich direkt neben den Motor, als würde mich ein Platz so weit achtern näher bei Juliet & den Kindern sein lassen. Dabei verliere ich sie sofort aus den Augen, als wir in Snug Harbor abdrehen und dem Strand folgen.
Meine christlichen Freunde liefern mich am Dock von Tigre ab wie ein Paket. Ich bedanke mich bei ihnen, verabschiede mich & springe auf eine verbeulte Plancha. Ich beginne, meine Schritte zurückzuverfolgen. Bewege mich rückwärts durch unsere Reise. Mache sie ungeschehen. Das Motorboot rauscht westwärts. Wir kommen an Culebra Rock vorbei, Spokeshave Reef, Puyadas. Schneller als erwartet fädeln wir uns zwischen den Farewell Islands ein & kurz darauf erreichen wir die geschäftige Küstenlinie von Narganá, wo wir Halt machen, eine Kiste mit
Kokosnüssen sowie ein totes Nabelschwein aufladen. (Der Gestank treibt mir die Tränen in die Augen, selbst als wir unsere lebensmüde Höchstgeschwindigkeit entlang der Küste wieder aufgenommen haben.) Ich bin erleichtert, als wir Richtung Küste eindrehen & ich nicht die gesamte Reise ohne die
Juliet
nacherleben muss. Das Motorboot macht schließlich nur allzu deutlich, wie ineffizient das Segeln eigentlich ist. In einem Tag werde ich eine Entfernung zurücklegen, für die wir Monate gebraucht haben. Und diese Monate waren, das muss ich wirklich sagen, die besten meines Lebens …
Während ich die Palmen & Mangroven & die Dörfer & den Rauch an uns vorbeiziehen sehe, wird mir bewusst, dass ich das Gefühl gefunden habe, wegen dem ich hergekommen bin. Ich weiß nicht, was Freiheit ist, aber ich weiß, was Freiheit nicht ist. Es ist nicht das Leben, das wir zu Hause geführt haben. Jahre, die ich damit zugebracht habe, auf den Moment zu warten, da die Ampel umschlägt und ich nach rechts auf den riesigen Omni-Parkplatz biegen muss, Jahre, in denen ich mich vorangeschleppt habe, obwohl ich so gelangweilt war, dass ich hätte heulen können, in denen ich versucht habe, ein anständiger Mensch und Kollege zu sein und kein Säufer oder notorischer Miesmacher. Aber ganz gleich, was ich tat, immer wurde ich daran erinnert, und zwar von meinen eigenen Landsleuten, dass ich ein Ausbeuter / Umweltverschmutzer / Unterdrücker war. Dabei hatte ich den Eindruck, dass meine Privilegien lediglich dazu dienten, mir peinliche Networking-Mittagessen mit Freunden zu verschaffen, die während der Rezession ihre Jobs verloren hatten, sowie zu Hause verbrachte Urlaube & den Luxus, nicht bei Routine-Verkehrskontrollen von Cops erschossen zu werden. Hätte ich es wenigstens
genossen
, andere zu unterdrücken, hätte
ich mir einen runtergeholt auf meinen sogenannten Ausbeuterlebensstil, dann hätte das alles wenigstens auf kranke Weise Sinn ergeben. Aber ich hörte einfach nur auf, mich
gut zu fühlen
. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, überhaupt das Potenzial zu haben, gut oder edel
zu sein
.
Hier draußen gibt mir niemand so ein Gefühl. Das Meer macht alle gleich. Jeder kann hier überleben & jeder kann hier sterben. Wir alle schlagen uns durch dieselben Unwetter, nicht nur die Segler, auch diejenigen, die in ihren fragilen Häusern an der Küste leben. Meine Familie & ich bewohnen 14 Quadratmeter. Und abgesehen davon, dass wir ins Meer pinkeln, lassen wir es völlig unberührt. Wir verbrennen weniger Benzin, als es jemals möglich wäre, wenn wir mit dem Auto reisen würden. Außerdem gibt es auf See nur minimale Regeln für das Zusammenleben. Man hält Kurs oder lässt andere passieren. Man hält immer Ausschau. Man trägt die Bürde des eigenen Lebens.
Ich vermute, es wird der Zeitpunkt kommen, wahrscheinlich schon bald, an dem ich mir bewusst werde, dass das alles nicht real ist. Dann werde ich zu Omni zurückkehren. Zurück zu der Straße, auf der man nur nach rechts abbiegen kann.
Schwindel überwältigt mich, wenn auch nur kurz. Beim Gedanken an meinen Blinker, der im Regen leuchtet. Als wäre dies die eigentliche Definition von Wahnsinn.
Vor mir hebt ein Vater die Plane, die er über seine Töchter gebreitet hat, um sie vor der Gischt zu schützen. Die Geste tut mir weh. Ich vermisse die Kinder.
Die Typen, die das Boot steuern, sind moderne Kuna und nicht weniger unsentimental als Taxifahrer in New York. Sie rauschen derart dicht an einem alten Fischer in seinem Ulu vorbei, dass er beinahe kentert. Ihre Hemden flattern arrogant im Wind
.
Rotes T-Shirt. Gelber Doppeldecker. Totes Nabelschwein. Die Hügel von San Blas heben und senken sich zum Hafen. Ich döse ein, meine Stirn bis zwischen die Schenkel gesenkt.
Als ich wieder aufwache, bin ich umgeben von Wasser. Wir haben einen Kurs eingeschlagen, der vom Land wegführt. Einen, den ein nervöser
Merki
niemals wählen würde. Wir sitzen in einer Konservendose von Boot und überall um uns herum blaues Wasser. So übervoll, dass die Butterfische aussehen, als wären sie auf einer Ebene mit uns. Niemand hier trägt eine Rettungsweste. Ich drehe mich um und sehe eine Insel in unserem Kielwasser. Für andere Ausländer sieht sie womöglich aus wie jede andere, vollkommen austauschbar. Aber ich erkenne Salar.
Gib mir deinen Jarrito!
Niemals!!!
Jemand schüttelt mich an der Schulter. Ich bin im Weg. Ein Nylonsack wird heruntergereicht. Das Boot taucht unter ein Betondock, von dem die Algen tropfen. Der Himmel ist trüber.
Síentete, sagt der Fahrer. Hinsetzen. Er schiebt den Sack unter meinen Sitz. Ich spüre, wie das darin gefangene Geschöpf mein Bein erforscht. Der langsame Todestanz eines Hummers.
Ohne weitere Umschweife schießen wir wieder hinaus aufs Meer. Die Plancha ist wie eine Biene, die die Inseln bestäubt, die immer schäbiger & überfüllter werden, je näher wir zum Hafen kommen.
Wie weit noch bis Porvenir?, brülle ich gegen den Wind. Eh?, sagt der Fahrer. Porvenir?, sage ich. Er zuckt mit den Schultern, macht eine Geste mit seinem Kinn. Ich kneife die Augen zusammen und sehe das Blitzen von Glas. SUVs, Busse & kalte Betonbauten.
Zivilisation
.
Je länger wir in den abgelegensten Orten blieben, desto schneller fühlten wir uns beengt. Ich spürte es auch; wir veränderten uns. Wir lernten Dinge, die wir nicht wieder verlernen konnten.
Vor Michaels Aufbruch segelten wir die Juliet
östlich von Snug Harbor zu einem winzigen leeren Liegeplatz, der von einem Dschungelhalsband eingefasst wurde. Michael glaubte, dort wären wir sicherer. Ich ging davon aus, dass wir vollkommen allein sein würden, aber nur wenige Augenblicke, nachdem Michael mit den Missionaren davongetuckert war, hörte ich das Platschen eines Paddels.
Hallo, ertönte eine Stimme. Hallo, Freunde!
Es war Ernesto, der Sahila
von Gaigar. Zumindest hat er sich vor uns als solcher bezeichnet. Es ließ sich an nichts ablesen, ob es stimmte oder nicht. Er lebte als Chief des Dorfes allein in einem strohgedeckten Haus zwischen den Mangroven. Ich erinnere mich, wie er seine knorrige Hand um die Rettungsleine der Juliet
legte und fachmännisch das Gleichgewicht in seinem Ruderboot hielt – ein fetter alter Kasten mit Ruderdollen und allem Drum und Dran, ungewöhnlich für diese Gegend.
Hier geht nie jemand vor Anker, verkündete der Mann. Es ist so flach. Nur ganz besondere Seefahrer finden den Weg zu dem Platz, an dem Sie geankert haben. Juliet! Sie sind ein Genie. Und Sie segeln ohne Motor.
Oh. Ich zuckte mit den Schultern. Nein, unser Getriebe ist kaputt. Deswegen haben wir den Motor nicht benutzt.
Hervorragend, rief Ernesto. Sie können hier in Gaigar bleiben, während Sie es reparieren.
Ich schaute zu ihm hinab. Ein gedrungener alter Mann mit O-Beinen. Seine Haut war alt und von der Sonne gegerbt, seine Zähne aber strahlend weiß. Er zeigte ein hübsches Lächeln.
Entschuldigen Sie, Sahila
, sagte ich und legte eine Hand
auf meine Brust. Aber wie kommt es, dass Sie so perfekt Englisch sprechen?
Sein Gesicht wurde ernst. Kein Römer und kein Gringo waren jemals so verbrecherisch wie die Spanier, sagte er. Niemand hat die Erde je dermaßen gebrandschatzt, wie die Spanier es bei uns getan haben. Sie haben den ersten Ökozid der Geschichte begangen. Er hob den Zeigefinger. Deshalb weigere ich mich, Spanisch zu sprechen. Ich lasse auch nicht zu, dass es in Gaigar gesprochen wird. So bleibt nur Englisch, um mit den Uaga
zu kommunizieren. Es sei denn, wieder lächelte er, Sie sprechen Kuna, meine Königin.
Nein, sagte ich. Tut mir leid.
Außerdem, fügte er hinzu, habe ich eine Schwester in Miami. Da habe ich Englisch gelernt.
Der alte Mann wandte sich Sybil zu und fragte: Möchtest du, dass ich dir das Lesen beibringe?
Kann ich schon, sagte Sybil vorlaut. Ich kann jedes Buch lesen. Ich bekomme Unterricht von meinen Eltern.
Nein, sagte Ernesto. Ich bringe dir bei, die Mangroven zu lesen. Kommt und besucht mich später mal, Freunde!
Dann ruderte er davon. Seine Schultern waren die eines sehr viel jüngeren Mannes.
Für meine Ausreisegenehmigung stehe ich seit zwei Stunden in der Schlange. Inzwischen habe ich dem Hafenmeister so lange dabei zugeschaut, wie er mit einem Einheimischen redet, dass ich das Gefühl habe, ihn zu kennen. Ich beobachte seine sich verändernden Gesichtsausdrücke. Seine Angewohnheit, mit einem Fingerknöchel in seinem Ohr herumzufuhrwerken. Sie lachen, amüsieren sich großartig. Manchmal verstummen sie sogar & schauen aufs Meer hinaus. Niemand in der Schlange sagt irgendwas. Es ist, als
würden wir gar nicht existieren. Hey, Mann, sage ich und deute mit großer Geste auf die Schlange. Der Typ gibt mir einen ironischen Salut. Und dann warten wir weiter.
Dieses Gebäude ist spartanisch wie eine Kaserne. Hunde kommen hereingetrottet & ziehen wieder ab – hintereinander und ordentlich aufgereiht vom Kleinsten zum Größten. Die Hunde sind besser organisiert als die Menschen. Der Tag wird mild. Die Männer, die SUVs nach Panama-Stadt und zurück fahren, stehen rauchend vor den Wagen. Schließlich stelle ich mein Paket ab, setze mich drauf & schreibe.
Ich muss
Geduld
haben. Ihnen geht’s
gut
.
Nachdem Ernesto uns besucht hatte, konnten Sybil und ich nicht stillsitzen. Plötzlich schien es gar nicht mehr wichtig zu sein, dass unser Getriebe den Geist aufgegeben hatte und Michael nicht da war. Wir waren nach Gaigar eingeladen worden! Vom Sahila!
Sybil setzte sich ihren Safarihut mit Nackenschutz auf, schnappte sich ein Schmetterlingsnetz und ihr Emily-Erdbeer-Notizbuch. Georgie zog ich von Kopf bis Fuß an, badete uns alle in Insektenspray und schnappte mir unsere zwei Meter lange Ruderstange.
Als wir im Dingi saßen und ablegten, hatte sich der Himmel bereits bezogen. Tiefe, schnell dahinziehende Wolken verdunkelten den Grund des Liegeplatzes, aber sobald wir unter den ersten tief hängenden Bäumen hindurch waren, wurde das Wasser durchsichtig und offenbarte das eng verzweigte Wurzelgeflecht.
Ich stellte den Außenbordmotor ab, und die Abwesenheit des Geräuschs hinterließ eine eigentümliche, nur von einzelnen Lauten unterbrochene Stille. Wir glitten ins Zentrum des Mangrovenhains
.
Still, sagte ich zu den Kindern. Was hört ihr?
Georgie starrte den Sumpf mit offenem Mund an.
Ich höre Ungeziefer, sagte Sybil.
Eine Wolke winziger Fliegen, nicht größer als Schneeflocken, surrte ums Boot. Georgie streckte die Hand aus und schnappte sich einen Käfer mit herabhängenden Beinen.
Hände bleiben im Boot, sagte ich.
Ich hab was platschen gehört, sagte Sybil.
Wir drehten uns um und sahen, wie sich das Wasser kräuselte.
Etwas ist ins Wasser gesprungen, sagte ich. Was das wohl gewesen ist?
Wir stießen uns mit der Ruderstange an Ernestos Behausung vorbei, dem einzigen Bauwerk in Sichtweite. Es war eine große, einladend aussehende Hütte, deren Strohdach im Luftzug vor sich hin flüsterte. Durch die Wände aus Zuckerrohrstangen konnten wir keine Bewegung ausmachen.
Vielleicht ist er ausgegangen, sagte ich.
Aber wohin?, fragte Sybil und starrte in den Dschungel.
Ich hatte angenommen, dass Michaels Abwesenheit mich nervös machen würde, aber aus irgendeinem Grund fühlte ich mich ganz ruhig im Mangrovenhain. Die Kinder und ich verfielen in einträchtiges Schweigen und schauten zu, wie die Schatten der Blätter und Seevögel über die flache Wasseroberfläche glitten. Was mich beruhigte, war das Fehlen von Wind. Auf einer Yacht ist es schwer, ganz für sich zu sein, aber wovon sich der Segler wirklich niemals befreien kann, ist der Wind. Selbst unter Deck pfeift er, stellt Fragen und reißt an allem.
Die Mangrovenufer bildeten eine massive Vegetationswand, und erst, als wir dicht an den Dschungel heranglitten, spürten wir die Kühle, die aus ihm hervordrang, als würde er ausatmen. Die Wurzeln der Mangroven vervielfachten sich nach
außen und tauchten in riesigen, komplizierten Knoten ins Wasser. Sybil und ich machten ein Spiel daraus, eine Wurzel bis zu ihrem Stamm zurückzuverfolgen. Wir waren noch immer damit beschäftigt, als Georgie plötzlich auf das dichte Blattwerk über uns zeigte.
Deh-deh! Wir ignorierten ihn. Deh-deh!, sagte er.
Sei still, du, sagte Sybil. Ich muss mich konzentrieren.
Wir waren inzwischen so dicht am Ufer, dass die Ranken in unsere Haare fuhren. Ich bemerkte die Schlange zu spät. Sie hing bereits in Schlaufen über unseren Köpfen. Ich schrie auf, stieß das Boot mit der Stange zurück. Die Schlange starrte mich böse an und ließ sich in den Sumpf hinabgleiten. Georgie schaute ihr mit weit aufgerissenen Augen nach.
Deh-deh, erklärte er erneut.
Ich legte meine Hand aufs Herz.
Sybil war entnervt. Warum kann er nicht einfach Schlange
sagen, stieß sie aus.
Ange!, sagte Georgie. Ange!
Du hast ihm wohl gerade das Wort beigebracht, stellte ich fest und beförderte uns so rasch wir möglich zurück ins offene Wasser.
Der Aufruhr hatte Ernesto auf den Plan gerufen.
Meine Freunde, sagte er, als er durch den dichten Vegetationsvorhang trat und sein Hemd zuknöpfte. Willkommen in Gaigar. Entschuldigt mein Zuspätkommen.
Ich stellte fest, dass ich grinsen musste. Hallo, Sahila
.
Wie lautet der Name eures Dingis?, rief Ernesto.
Ölfleck
, erwiderte ich.
Er legte seine Hand an ein Ohr.
Ölfleck!
Der Sahila
erbittet Erlaubnis, eure Ölfleck
zu besteigen.
Sybil schaute mich an und schnaufte. Warum redet der so?
Er ist ein Chief, sagte ich. Er kann reden, wie er möchte
.
Wenn ihr euer Gefährt an meinem Steg anlegt und mich zusteigen lasst, rief er, zeige ich euch Gaigar.
Ich legte die Ruderstange über meine Beine. Der alte Mann stand da, glattrasiert in einem zerknitterten Hemd, mit einer Blüte im Knopfloch und knorrigen Beinen, die aus Laufshorts im Merki
-Stil ragten. Mir wurde bewusst, dass er sich für mich in Schale geworfen hatte. Zu meinem Leidwesen erhöhte sich mein Puls.
Georgie stand auf und stürmte über das Boot.
Ange!, rief er Richtung Ufer.
Ernesto legte seine Hände auf die Knie. Hast du eine Schlange gesehen? Weiß deine Mutter etwa nicht, dass man sich nicht unter den Feigenbaum wagen darf? Pass mal auf.
Ernesto stampfte mit dem Fuß auf dem dünnen Brett, auf dem er stand – seinem Landesteg –, und augenblicklich schossen mehrere kleinere Schlangen durch den Tang.
Cool!, sagte Sybil. Wir kommen.
Er erfasste meine Hand mit hartem, starkem Griff, trat in unser Boot und setzte sich neben Sybil. Dann navigierte er mich durch den Sumpf, ohne sich umzuschauen, ohne auch nur den Kopf zu drehen. Er war vermutlich zu alt dafür, aber mir gefiel der Gedanke, dass er schlicht respektierte, dass ich die Kapitänin meines Bootes war. Die Kuna-Frauen lernen das Segeln schon als kleine Mädchen. Ich selbst hatte bereits wunderschöne Frauen in überladenen Ulus bei starkem Wind auf offener See gesehen.
Es sieht aus, als gäbe es hier nur einen
Dschungel, aber eigentlich sind es viele, sagte Ernesto zu Sybil. Siehst du diese Pflanze? Sie wächst aus dem Stamm einer Palme. Nein, nicht die, die andere. Schau dir die Blätter an. Groß. Wie Flügel. Wie Stechrochen. Deswegen nennt man sie Nidirbi Sakangid
. Rochenfarn. Diese Pflanze heilt Schwindelgefühle. Wird dir manchmal schwindelig
?
Nie, sagte Sybil.
Oder diese dort. Die wird deinem Bruder gefallen. Bachar.
Damit behandelt man Schlangenbisse. Schau dort. Siehst du den großen Baum, kleiner Mann? Blätter wie offene Hände. Das ist der Beno
. Kocht man das Benoblatt, heilt man die Haut. Schaut euch den guten alten Ari
an. Seht ihr den Leguan, meine Freunde?
Wir schauten angestrengt hoch in den Baum, und schon neigte sich das Boot gefährlich. Ernesto setzte sich lachend um. Keiner von uns konnte den Leguan sehen.
Ari
ist sehr faul. Manche nennen ihn das Asthuhn.
Wo ist er?, rief Sybil.
Du kannst also doch nicht lesen, zog Ernesto sie auf. Nicht alles.
Ange!, sagte Georgie.
Dein Bruder hat ihn gesehen.
Ange!
Das ist nicht fair, sagte Sybil. Er nennt jetzt alles Ange. Oh, sie schnappte nach Luft, jetzt sehe ich ihn.
Das Tier hielt liebevoll einen Ast umschlungen und schüttelte seine weichen Stacheln.
Ich verstehe, was Sie damit meinen, wenn Sie sagen, Sie lesen den Dschungel, sagte ich. Man muss wirklich sehr genau hinschauen.
Der alte Mann lächelte geschmeichelt, sagte aber nichts mehr.
Wir schoben uns weiter vorwärts. Die Sonne stand mittlerweile achtern von unserem Boot, und die Kinder schwiegen. Ihnen war heiß, ja, aber sie waren auch völlig in den Bann geschlagen. Wäre ich nicht zur See gefahren, ich hätte nie herausgefunden, dass Kinder so mutig sein können. Was nicht heißen soll, dass sie auf See nicht gequengelt oder in den schlimmsten Momenten auch geheult hätten und
verhätschelt werden mussten, doch wie sich herausstellte, waren sie zu einem ungeheuer tiefgreifenden Erleben fähig. Auf eine Weise, die mir unmöglich war, wurden
sie zum Meer, wurden
sie zum Sumpf. Ihre Erfahrung war total, ohne Einschränkungen. An diesem Tag im Sumpf freute ich mich unfassbar für sie, aber ebenso für mich selbst, denn ich wusste, auch ich musste als Kind einmal genauso gewesen sein.
Ich erinnerte mich an den Verlust meiner Kindheit nur allzu gut. Aber ich vergaß zu oft, dass sie mir lange Jahre doch gehört hatte.
Als Ernesto seine Hand auf meinen Arm legte, musste ich mir mit dem Handgelenk die Augen trocken wischen.
Madam, sagte er mit sorgenvollen Augen.
Mir geht’s gut, sagte ich und legte meine Hand auf seine.
Falls sich schon mal jemand gefragt hat, wo unsere schrottreifen Schulbusse zum Sterben hingehen: Ich weiß es. Nach Mittelamerika, wo sie ausgeschlachtet, angemalt & anschließend gezwungen werden, Bergstraßen zu erklimmen und jeden mitzunehmen, der den Daumen rausstreckt. Als ich in Sabanitas heute Nachmittag den Hühnerbus bestieg, war er bereits voll. Niemand zuckte auch nur mit der Wimper, als ich mich samt 5 Säcken voller Lebensmittel mit hineinquetschte. Ich konnte die genaue Brustform & Körbchengröße der Frau spüren, die direkt hinter mir stand, aber ihr schien das nichts auszumachen. Dann wurden ihre Brüste vom harten Bauch eines Mannes abgelöst, der ihr seinen Platz angeboten hatte. Musste mich ziemlich anstrengen, nicht auf den Mann vor mir zu fallen, der, wie Jesus, im Gang stand, ohne sich festzuhalten, während wir über die einspurigen Straßen zurück auf die andere Seite des Berges ratterten
.
Kleine Freuden. Das Gefühl von sauberen Haaren. Bis zur Taille in Ernestos Sumpf, wo Süßwasserströme in den Mangrovenhain flossen, tauchten Sybil und ich unsere Körper zum ersten Mal seit Wochen nicht in Meerwasser. Kalt wie der Mai war es, und neben unserem Becken schaukelte Georgie auf einer Liane. Nachdem wir uns monatelang auf dem Heckspiegel mit einem Duschkopf besprenkelt hatten, kam mir das Baden im Süßwasser geradezu wie ein religiöses Erlebnis vor. Wir hatten uns längst daran gewöhnt, dass unsere Haare steif waren vom Salz. Schwer wie Satteldecken lagen sie auf unserem Rücken. Aber nicht an diesem Tag in Gaigar. In Gaigar waren wir sauber.
Heute Abend gibt’s keine Busse mehr zurück nach San Blas, wie sie mir sagen. Ningunos. Portobelo ist der letzte Halt. Ich finde ein Hostel mit abblätternder Fassade hinter zwei Jacarandas. Okay, ich liebe Portobelo. Vor Monaten haben wir hier Weihnachten gefeiert. Aber es ist eben nicht so nah an Juliet und den Kindern, wie ich es gerne hätte. Der Eingangsbereich des Hostels ist voll mit Rucksacktouristen. Amerikaner. Sie fläzen auf den Sofas herum wie wirbellose Tiere. Die Beine der Mädchen sind weit gespreizt & über die Beine der Jungen gelegt. Die Jungs aber sind an dieses Paradies aus Fleisch so sehr gewöhnt, dass sie nur auf ihren Handys herumtippen, die Beine ignorieren, während ihre verschwitzten Bizeps im schwachen Licht glänzen.
Als ich eintrete, schauen alle gleichzeitig auf.
Hey, Leute, sage ich und stelle meine übervollen Einkaufssäcke ab.
Einer der Jungs hebt die Hand und salutiert ironisch.
Ich bekomme ein kleines Einzelzimmer am Ende eines
dunklen Flures, pfirsichfarben gestrichen wie das Innere einer Schnecke. Es ist früher Abend. Ich bin müde, versuche, mich hinzulegen, aber sobald ich die Augen schließe, fängt das Bett an zu schaukeln. Beim Öffnen der Augen hört diese Bewegung derart plötzlich auf, dass ich mich mit den Händen festklammern muss. Der Raum ist zu
starr
. Alles ist zu sehr, was es ist. Der kleine Schreibtisch ist ein kleiner Schreibtisch & der Stuhl ist ein Stuhl & nichts bewegt sich. Von Übelkeit übermannt, setze ich mich auf. Ich kurble das Fenster auf & tauche mein Gesicht in die frische Luft. Einheimische Teenager plaudern ganz in der Nähe unter der Jacaranda. Zwei Mädchen & ein Junge. Sie ziehen einander auf, nicht anders als die Jugendlichen, auf die man in Hartford treffen würde. Ich beobachte sie eine Weile. Der Junge hat ein Auge auf das größere Mädchen geworfen. Seine Blicke wandern immer wieder zu ihren tief sitzenden Jeans.
Ich ziehe mich an und gehe nach draußen.
Portobelo ist eine wunderschöne, verfallene Kolonialstadt. Früher von Bedeutung, ist sie inzwischen von Moos überwuchert & vergessen. Die Spanier hatten sie seinerzeit als Ausgangspunkt benutzt, um Südamerikas Reichtümer zu plündern & zu König Ferdinand nach Hause zu verschiffen. Die Ruinen der spanischen Festung stehen immer noch auf dem Hügel im Schatten. Nachdem wir unseren erste Nachtsegel-Törn über den Golf von Bocas del Toro überlebt hatten, sind wir hier an Land gegangen & die Kinder haben stundenlang auf den alten Kanonen gespielt.
Hey, sage ich zu den Teenagern, halb aus Einsamkeit. Teléfono, por favor? Teléfono público?
Das große Mädchen dreht sich um & schaut mich an, immer noch mit dem hinreißenden Lächeln auf den
Lippen, das für den Jungen bestimmt ist. Mir stockt beinahe der Atem. Sie ist strahlend schön, während sie sich dort an die kühle, abblätternde Wand der Conquerors lehnt.
Por allá, sagt sie, und ihr Lächeln wird schwächer.
Das Telefon ist nicht zu übersehen, direkt auf der anderen Seite der kleinen Plaza.
Muchas gracias, sage ich.
Ich stehe eine Weile vor dem Apparat, bevor ich wähle. Auch in Connecticut ist jetzt Abend. Er nimmt ab, fuhrwerkt umständlich am Hörer herum, wie man sich das bei einem alten Mann vorstellt.
Hallo?
Hallo? Harry? Ich bin’s, Michael Partlow.
Michael Partlow, sagt Harry. Wo zur Hölle hast du gesteckt?
In Panama, Mann. Genau wie ich’s gesagt habe.
Seit
zwei Monaten
versuche ich, dich zu erreichen.
Du wirst es mir nicht glauben, aber …
Ich hab dir E-Mails geschrieben. Hundert Mal angerufen.
Stell dir vor. Unser Satellitentelefon ist über Bord gefallen. Gerade ein paar Stunden, nachdem wir losgesegelt waren.
Einen Augenblick sagt Harry nichts.
Ich bin jetzt an einem öffentlichen Telefon, hier irgendwo im Nirgendwo von Panama. Harry?
Ich bin hier, sagt er schließlich. Wie ist das Boot?
Wundervoll.
Wie segelt es sich?
Oh, es ist sehr ausbalanciert. Außerdem ist es ganz ruhig hier unten. Meine Siebenjährige könnte es segeln.
(Pause.)
Das ist schön zu hören
.
Ein wundervolles Boot.
Na, das ist großartig. Du wirst einen Batzen Geld rausschlagen, wenn du es wieder verkaufst.
Ich schaue über die Plaza. Die Jugendlichen sind immer noch da und schauen mit großen Augen in die Welt. Jetzt kommt ein neues Pärchen dazu, novios. Haben sich füreinander schick gemacht. Gekämmt. Sind ernst.
Ich habe mich ziemlich an das Boot gewöhnt, Harry.
Er sagt nichts.
Du solltest es sehen, sage ich. Ich hab ihr ein neues Großsegel verpasst, neue Verkabelung, neue Farbe. Wir haben bei einem Sturm ein paar Cockpitkissen eingebüßt, aber davon abgesehen ist es …
Es ist ein großartiges Boot.
Das ist es.
Aber es gehört nicht dir, Michael. Es gehört auch mir. Erinnerst du dich?
Ich lache, bin zum ersten Mal nervös. Na ja, es ist unseres. Es gehört uns.
Ich würde auf diesem Punkt jetzt nicht rumreiten, Michael, wenn ich in der Lage gewesen wäre, mit dir zu
reden
. Die Welt ist doch vollständig vernetzt heutzutage. Du hättest mir eine Mail schicken können. In jedem gottverdammten Hafen gibt es WiFi. Es ist nicht mehr möglich, einfach zu verschwinden.
So hast du nicht gesprochen, als du versucht hast, mir ein Boot zu verkaufen, stelle ich klar.
Du arbeitest für eine Versicherung, sagt er bitter. Man sollte meinen, dass du verlässlich wärst.
Ich zahle dich aus, wenn dir das Arrangement nicht passt …
Das wollte ich nicht … Das war nicht …
Aber ich möchte dir jetzt eigentlich ungern Geld geben,
sage ich. Wir haben in Bocas so viel auf den Tisch gelegt, um das Boot startklar zu machen. Und jetzt …
Was?
Jetzt brauchen wir ein neues Getriebe. Vermutlich.
Es herrscht Schweigen am anderen Ende. Die Teenager haben sich umgedreht, schauen mich an. Als könnten sie das Drama wittern, das sich hier abspielt.
Hör zu, sagt Harry. Es gibt keinen Grund, irgendwelche Entscheidungen übers Knie zu brechen. Wir haben unsere Abmachung. Und du hast dein gutes Leben und dein sehr schönes Zuhause. Das du als Sicherheit angegeben hast für den Fall, dass du in Zahlungsrückstand geraten solltest, wenn du dich erinnerst. Also. Wenn du so weit bist – irgendwann, bevor das Jahr zu Ende ist –, segelst du das Boot hierher zurück, sodass ich es mit Gewinn verkaufen kann. Ich bekomme mein Geld zurück und gebe dir wieder, was du gezahlt hast, plus was du noch reininvestieren musstest. Siehst du nicht, dass ich dir hier einen Reibach anbiete? Gerade gestern war so ein Typ aus Greenwich hier, der nach einem Boot wie der
Windy Monday
gesucht hat.
So heißt sie nicht, sage ich zu ihm.
Was?
Ich habe ihr einen neuen Namen gegeben. Sie heißt
Juliet
. Und komm mir jetzt nicht mit: Es bringt Unglück, ein Boot umzubenennen. Ist mir nämlich scheißegal.
Okay, okay. Ich will dich nicht verärgern, Michael. Ich wollte nur sichergehen, dass du dich nicht mit unserem Boot aus dem Staub machst.
Du hast doch gerade gesagt, es wäre unmöglich zu verschwinden.
Wir haben einen gesetzlich bindenden Vertrag.
Wir sind Co-Eigentümer. Aber
ich
bin der Kapitän, Harry
.
Ja. Du bist der Kapitän der – wie heißt sie noch?
Juliet.
Sie ist die
Juliet
.
Wir waren fertig angezogen und warteten. Ich trug ein weißes Strandkleid mit Spaghetti-Trägern, die Abendbrise bauschte es auf. Sybil hing auf dem Bugspriet über der Lagune und spähte in Richtung Gaigar. Ernesto war zum Abendessen eingeladen.
Ist Daddy jetzt in Porvenir?, fragte mich Sybil.
Das hoffe ich.
Bekommt Daddy in Porvenir ein neues Getriebe?
Nein, Mäuschen. Dafür müssen wir nach Cartagena segeln.
Sie schien überrascht – geradezu erschüttert. Die Haare fielen ihr über die Augen.
Wir müssen weg aus Kuna Yala?, fragte sie.
Möchtest du nicht von hier fort, Sybil?
Niemals, sagte sie.
Niemals? Du meinst, du möchtest die Juliet
niemals verlassen?
Ich möchte die Juliet
niemals verlassen.
Wirklich? Du vermisst unser Zuhause gar nicht?, fragte ich. Du vermisst Audrey und das Ballett und dein eigenes Zimmer nicht? Oder die Besuche von Grandma, all so was?
Sie starrte mich an, versuchte, sich zu erinnern. Ich sah, wie ihr Gesichtsausdruck weicher wurde.
Grandma vermisse ich, aber …
Deh-deh, seufzte Georgie.
Er kommt bald zurück, Georgie.
Sybil schnappte sich das Fall. Sie trippelte am Süll entlang, stieß sich ab und begann einen langsamen, meditativen Flug am Mast vorbei, bevor sie wieder vor mir landete.
Wo wird Daddy heute übernachten?, fragte sie
.
In einem Hotel in Porvenir. Das war zumindest der Plan.
Kann er uns über Funk Hallo sagen?
In Hotels gibt es keine Funkgeräte, Mäuschen. Die sind nur dazu da, um sich von Schiff zu Schiff zu unterhalten. Und vergiss nicht, unser richtiges Telefon ist über Bord gefallen. Also …
Sybil schob sich ihr langes Haar hinters Ohr. So sauber und seidig hatte ich es schon lang nicht mehr gesehen.
Sybil seufzte und drückte die Wange gegen den Mast. Ich vermisse Grandma wirklich, und mein Zimmer auch. Aber Audrey vermisse ich nicht. Audrey mogelt.
Na ja, manchmal kommen selbst Freundinnen nicht so gut miteinander aus, sagte ich. Menschen sind kompliziert.
Ich mag das Meer, sagte Sybil. Mit dem Meer komm ich gut aus.
Ich mag das Meer auch, sagte ich. Und ich versuche zu lernen, keine Angst vor ihm zu haben. Hast du nie Angst?
Sie drehte sich um und ließ ihren Blick schweifen. Ihre nackten Schulterblätter strahlten im letzten goldenen Licht.
Nein, antwortete sie, und ich wusste, dass sie die Wahrheit sagte.
Georgie streckte die Finger aus.
To! To, rief er.
Er hatte achtern Ernesto entdeckt, der vom Dorf aus auf die Juliet
zu ruderte.
Hallo, Juliet, rief der alte Mann. Bienvenue!
Der Dschungel warf seine Stimme als Echo zurück, und eine Horde Kapuzineraffen kreischte zur Antwort.
Ernesto schleuderte seine Fangleine an Deck, und Sybil vertäute ihn mit der Juliet
.
Ich streckte ihm meine Hand entgegen, aber der alte Mann war bereits aus seinem Boot auf den Heckspiegel getreten. Sybil zupfte an seinem Hemd
.
Weißt du was?, sagte sie. Ich kann Kuna sprechen.
Er lachte. Die Merki
-Kinder wissen mehr über Kuna Yala als die Kuna selbst.
Erst als der Kauf des Bootes in trockenen Tüchern war, stellte sich heraus, dass es doch etwas mehr kostete, als ich geschätzt hatte. Okay, sehr viel mehr. Okay, eigentlich hatte ich mich vollkommen verschätzt. Ich hatte die Kosten der Gutachten, der Reparaturen, der Genehmigungen, die Vorauszahlung für die Slipanlage in Bocas nicht mit einberechnet, im Grunde nur an das Boot selbst gedacht. Eigentlich bin ich
nie
so, stecke nie den Kopf in den Sand. Eigentlich bin ich nicht der Typ, der eine Slipanlage für sein 12-Meter-Boot mietet, nur um anschließend gesagt zu bekommen, dass es eine Gesamtlänge von 14 Meter aufweist, woraufhin er gegenüber seiner Frau eingestehen muss, dass er schlicht und einfach die Abkürzungen in den Bootspapieren nicht verstanden hat. Ich arbeite für eine Versicherung. Was mich zu einem Menschen macht, der schon von Berufs wegen auf Details achtet. Aber ich nehme an, ich hatte mich einfach verliebt. Da hilft es auch nicht, dass wir bei Schiffen die weibliche Form benutzen. Verliebt wie ich war, habe ich mich dem Schiff gegenüber genauso verhalten wie damals, als ich Juliet kennenlernte. Ich wusste, sie war klüger als ich, und ich wusste auch, dass sie halb verrückt war. Ich wusste, ich konnte sie mir nicht »leisten«. Soll heißen: Ich hatte bereits den Verdacht, dass ich nie einen zufriedenstellenden Ehemann für sie abgeben würde. Aber abgehalten hat mich das trotzdem nicht.
Habe ich sie angelogen? Natürlich. Ich habe sie in dem Augenblick angelogen, als ich vorgab, jemand zu sein, dem
sie ein Leben lang vertrauen konnte. Wie sollte ich es wissen?
Sie hat dieselbe Lüge benutzt.
Aber wie sollte sie wissen, dass sie aufhören würde, mich zu lieben?
Ich weiß es nicht. Es ist zu viel verlangt. Wir kommen aus dem Nichts & kehren ins Nichts zurück, doch in der Zwischenzeit sollen wir ein würdevolles, ein mutiges Leben führen?
Lesen Sie diese Bäume da, sagte Ernesto zu mir und streckte den Finger aus. Die beiden, die sich über das Wasser beugen.
Ich lachte. Ist das ein Test?
Ja, sagte er.
Der Abend war still, nur einige Vögel quäkten in den Bäumen. Georgie schlief in seiner Koje, und Sybil döste in meinem Schoß. Der alte Mann und ich saßen im Cockpit und tranken nach dem Abendessen warmen Whiskey aus Michaels Flachmann für »medizinische Notfälle«.
Der eine Baum ist eine Palme und – ich versuchte, mich zu erinnern – der andere eine Feige.
Die Palme und die Feige, sagte er. Sehr gut. Wie Sie wissen, meine Königin, kämpft im Dschungel alles ums Licht. Sehen Sie, wie die Feige an der Palme hinaufklettert? Wie sie die Palme benutzt, um näher ans Licht zu gelangen? Sobald die Feige Erfolg hat, wird die Palme ins Wasser stürzen und dabei beide töten, sich selbst und die Feige.
Das machte mich traurig. Die Parabel von der Feige und der Palme.
Waren Sie je verheiratet?, fragte ich ihn.
Ob ich, Ernesto, verheiratet war?
Ja
.
Natürlich! Was glauben Sie? Ich hatte meine eigene Königin! Wussten Sie, dass wenn zwei Menschen in Kuna Yala heiraten, der Mann auf die Insel der Frau ziehen muss? Und das habe ich getan. Jahre später, als meine arme Frau diese Erde verließ und unser großer Vater Bab Dummad sie zu sich holte, bin ich dann hierher nach Gaigar zurückgekehrt.
Haben Sie sich gut vertragen, Sie und Ihre Frau? Ich meine, worüber haben Sie gestritten?
Gestritten? Ernesto schaute zum Himmel. Ich habe ihrer Familie nicht getraut, sagte er. Ihrer Familie ging es immer bloß ums Geld. Sie haben alles verkauft, was sie finden konnten. Heilige Gegenstände. Sie haben ihren Kindern Spanisch beigebracht. Sie sind westlich, ihre Verwandten. Darüber haben wir gestritten.
Ernesto seufzte schwer. In Kuna Yala lernen wir nicht mehr unsere eigene Sprache. Sie wird als »Dialekt« angesehen. Wir zwingen unsere Kinder, Spanisch zu lernen. Die Muttersprache wird durch das Spanische ersetzt. Damit die kleinen Indios weniger
wie Indios sind. Warum soll der Gungidule Dule lernen, sagen sie, wenn er die Sprache sowieso schon spricht? Nun, sage ich, warum haben die großen Universitäten in Spanien Spanisch-Institute? Schauen Sie mich an. Ich muss die Merki
unterrichten, weil meine eigenen Leute mich für verrückt halten. Aber ich bin nicht verrückt. Ich bin Ernesto, Sahila
von Gaigar. Ich bin kein Cholo
.
Was bedeutet das?, fragte ich. Cholo?
Ein Cholo
ist ein zivilisierter Indio. Aber Ernesto lässt sich nicht cholo-isieren. Ich werde es nie satthaben, ein Indio zu sein. Die Uaga
werden bis in alle Ewigkeit kommen. Sollen sie. Ich werde nie müde werden. Ich werde nie aufhören, der verrückte Ernesto zu sein. Du willst eine erotische Salsa-Show? Gut. Dann sei ein Cholo
. Du willst alle Schildkröten töten und sie an die Uaga
verkaufen? Gut. Cholo
. Ohne Seele
bist du nur ein Komiker. Ich lache über dich, auch wenn du glaubst, dass du über mich lachst.
Er starrte angestrengt in die Ferne.
Ich habe das früher meiner Frau auch so gesagt, seufzte er. Aber sie ist zu Bab Dummad gekommen, ohne es verstanden zu haben. Und so wird es immer dieses Missverständnis zwischen uns geben.
Sybil murmelte im Schlaf, und ich strich ihr übers Haar.
Mein Mann und ich sind sehr verschieden, sagte ich. Wir streiten uns wieder und wieder über dieselben Dinge. Wir streiten, aber wir ändern nie die Meinung des anderen. Wir entfernen uns bloß immer weiter voneinander.
Ich nahm noch einen Schluck. Die Juliet
schaukelte langsam an ihrem Anker hin und her.
Er glaubt, es wäre unser Eigeninteresse, das uns am Leben hält, sagte ich. Aber wenn das wahr wäre, wäre es doch besser, wir blieben allein, oder? Aber das ist nicht wahr. Das allein lebende Tier stirbt früher.
Ernesto schloss die Augen und lauschte.
Ach, wen interessiert das schon, sagte ich und trank noch einen Schluck.
Ich wollte den Kauf des Bootes schon abblasen. Der vernünftige Teil von mir sagte: Es sind einfach nicht genug $ auf der Bank, es sei denn, wir verkaufen das Haus. Ich könnte a) das Boot sofort erwerben, hätte dann aber nichts mehr übrig für Reparaturen oder andere Ausgaben, oder b) auf das Boot einen Kredit aufnehmen, was den Druck einer weiteren Hypothek mit sich brächte, Zinsen, Zahlungen aus dem Ausland …
Das Haus zu verkaufen, kam nicht infrage. Juliet wollte es noch nicht einmal vermieten. Was, wenn wir doch
früher nach Hause zurückkehren wollten? Auf Nummer sicher zu gehen, ist teuer. Aber ich habe es dann doch nicht abgeblasen.
Ich saß schon im Wagen, war kurz davor loszufahren. Wir hatten monatelang nach dem perfekten Boot gesucht, Harry & ich. Hatten jede Menge Ordner durchgeblättert an unserem Picknicktisch, im Sandwichladen nebenan über Schleifmaschinen debattiert. Mittlerweile dachte ich schon, wir würden nur zum Spaß darüber reden. Vielleicht bloß, um Zeit miteinander zu verbringen. Er schien einsam zu sein. Und ich – ich hatte keinen Dad. Harry war meinem Dad in keiner Weise ähnlich, das könnte ich wirklich nicht behaupten. Mein Dad war immer gut gekleidet gewesen & hatte sich auch viel darauf eingebildet. Harry trug Sachen, die aussahen, als hätte er sie umsonst aus irgendwelchen vor die Tür gestellten Kartons gezogen, zerknitterte Sweatshirts. Mein Dad war agil gewesen, immer für einen Witz oder eine gute Geschichte zu haben. Harry schien zu müde zum Lachen. Seine Vergangenheit hing über ihm wie Smog. Das Einzige, worüber Harry redete, war das Segeln. Er verstand das Leben über Winschen und Klampen.
Aber in seiner Nähe zu sein … ich weiß nicht. Vielleicht hatte ich das physische Vorhandensein eines Vaters vermisst. Vielleicht wollte ich einfach nur, dass es irgendeinen alten Mann interessierte, wo ich im Leben stand.
Harry hatte seine Hand auf mein Autodach gelegt. (Ich denke jetzt mit einer gewissen Bitterkeit daran zurück.) Als wollte er mich vom Wegfahren abhalten. Wochenendurlauber bogen mit ihren Wagen und Kühlboxen auf das Marinagelände. Er beugte sich herab & sagte: Michael, ich bin jetzt mal ganz ehrlich zu dir, weil du auch zu mir ehrlich gewesen bist. Was du dir wünschst, ist doch nichts
anderes als ein heiliges menschliches Grundrecht, und das solltest du nicht aufgeben.
Ich wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen. Ich sagte: Welches Recht soll das sein, Harry?
Die Bürde zu fühlen, dein eigenes Leben in der Hand zu halten. Nur du und deine Familie und dein Boot. Keine Stützen, keine Ausreden.
Ich musste beinahe lachen. Für wen hielt er sich, zur Hölle? Zugleich stellte ich halb benommen fest, dass ich ihm zu hundert Prozent recht geben wollte.
Du kannst natürlich hierbleiben und einfach aufgeben, wie alle anderen auch. Überlass dich deinen Verpflichtungen und deinen Annehmlichkeiten. Aber dann bist auch du bloß ein weiterer Platzhalter.
Wir starrten aufs Wasser hinaus. Wie rasch der Connecticut River floss, bemerkte man nur, wenn irgendein tapferer Ruderer in einem Kanu vorbeiglitt.
Wenn du mein Sohn wärst, sagte Harry, würde ich dir sagen: Mach die Tour. Fahr los. Und das ist die reine Wahrheit.
Als ich ihn daran erinnerte, dass mir 20 Tausend fehlten, sagt er: Zur Hölle, ich geb sie dir! Ich zahle die Differenz. Du musst nur einverstanden sein, das Boot in einem Jahr wieder hierher zurückzubringen. Es hierher zurückzusegeln. Dann verkaufe ich es für dich, bekomme mein Darlehen zurück, und wir machen beide noch einen Reibach. Oder kommen im schlimmsten Fall auf null.
Ich schaute zu ihm auf. Wenn ich mein Boot haben wollte, musste ich lediglich einem einsamen alten Mann das Versprechen geben, dass ich zurückkommen & wieder Zeit mit ihm verbringen würde.
Nur das, und mein Traum würde wahr werden
.
Abgesehen von einigen Ausflügen in den Supermarkt nach unserer Rückkehr, habe ich acht Monate lang kein Auto mehr gefahren. Und nun, da ich mit sanftem Druck aufs Gaspedal die Main Street hinuntersause, wird mir bewusst, dass Autofahren zu den Dingen gehört, über die man besser nicht zu viel nachdenkt, während man sie tut. Die gelben Markierungen auf der Straße hypnotisieren mich, die Abstände zwischen ihnen und der am Fahrbahnrand drohenden Gefahr sind winzig. Ein Zucken zur Seite, und schon verlässt man diese sterbliche Welt. Das Lenkrad eines Wagens ist, im Gegensatz zum Ruder eines Bootes, schrecklich empfindlich. Man könnte das Ruder der Juliet
einmal komplett herumdrehen, bevor sich ihre Richtung auch nur ein klein wenig ändert. Und mit der entfernten Küste in Sichtweite kommt einem das Segeln auch nie sonderlich schnell vor. Trotzdem darf jeder Vollidiot mit fünfundsechzig Meilen pro Stunde oder mehr in einem Auto durch die Gegend rasen, während die Welt verschwommen an den Scheiben vorbeirauscht wie eine betrunkene Erinnerung.
Links von mir sehe ich die großen roten Türen der alten Kirchenkeller-Kita. Ihr gegenüber die Bibliothek, in der wir früher lange Stunden damit zugebracht haben, das Oeuvre von Clifford, dem großen roten Hund
zu erschließen. Weiter vorn, in der Nähe der Highway-Auffahrt, ist der Supermarkt, der Schuster, das Feuerwehrhaus … Ich halte mich am Steuer fest, versuche, meine Aufmerksamkeit nicht davonwandern zu lassen.
Vielleicht hatte meine Mutter recht. Es ist »zu früh«.
Autofahren, Psychologinnen, reden, all das.
Ich werfe einen Blick in den Rückspiegel.
Wie geht’s dir, Mäuschen?
Super, sagt Sybil automatisch.
Ihr Haar, das heute Morgen bei ihrem Aufbruch zur
Schule ordentlich zu Zöpfen geflochten war, hat sich um ihr Gesicht gelöst. Ihre Augen sehen leer aus, ihr Gesicht schwer. Ich habe sie für ihren Termin bei der Kinderpsychologin Doktor Julie Goldman direkt von der Schule abgeholt. Früher habe ich mit Michael immer Witze darüber gemacht, dass auch ich eines Tages in der Lage sein würde, mich Doktor zu nennen. Das wäre dann sehr nützlich im Falle eines lyrischen Notfalls. Lassen Sie mich durch – ich bin Doktor der Literaturwissenschaft!
Es ist auch okay, wenn’s dir nicht super geht, sage ich. Ich komme damit klar.
Ihr Blick trifft meinen im Spiegel. Ich sehe, dass es hinter ihrer Stirn arbeitet.
Mir geht’s aber super, sagt sie schließlich.
Das ist toll, sage ich. Wir sind gleich bei Dr. Goldmans Praxis. Wenn du irgendwelche Fragen hast zu dem, was wir da machen, dann frag mich einfach. Jederzeit.
Sie wendet den Kopf und schaut gespannt und mit gehobenen Brauen aus dem Fenster.
Sie hält inne, als wollte sie noch etwas sagen, aber dann scheint sie es wieder vergessen zu haben.
Die Vorstellung, durch den dichten Verkehr bis nach Hartford fahren zu müssen, hat mich in Panik versetzt, also habe ich mich für eine Praxis hier in der Vorstadt entschieden. Nachdem wir den furchterregenden Highway wieder verlassen haben, gleiten wir zurück auf eine langsamere, zweispurige Straße und ziehen durch farblose Wohnviertel, bis wir das anonyme Praxisgebäude erreichen. Ich biege auf den Parkplatz.
Da sind wir, Sybil, sage ich.
Ich lächle. Und sehe mein Lächeln im Rückspiegel. Warm, aufrichtig – es entsetzt mich.
Wie sich herausstellt, ist Dr. Goldman etwa in meinem
Alter. Sie trägt eine lose Bluse, Stretchhosen und eine lange, komplizierte Kette. Sie ist weitaus hipper, als ich sie mir vorgestellt hatte. Sie lächelt nachsichtig, strahlt die endlose Geduld aus, die Psychologen brauchen, um die langen Phasen der Verdrängung ihrer Patienten durchzustehen. Sie sieht auch leicht entschuldigend aus, als würde es ihr insgeheim leidtun, dass sie vorhat, einem in Kürze die Psyche aufzuknacken wie eine Nuss.
Ich versuche zurückzulächeln – schwierig. Ich bin wahnsinnig eifersüchtig auf ihre Selbstbeherrschung. Ich beneide sie darum, wie Sybil sofort mit ihr warm wird, all die Puppen und Marionetten und die Bastelsachen berührt, die Dr. Goldman in Kisten unter dem Fensterbrett aufbewahrt. Zugleich bin ich erleichtert für Sybil, die merklich munterer geworden ist. Es ist nicht »zu früh« für Sybil, um über das zu sprechen, was passiert ist. Tränen brennen in meinen Augen, also versuche ich nur umso inbrünstiger zu lächeln. Die Anstrengung hat mich abgelenkt, und ich bekomme nicht mit, dass Dr. Goldman mich ins Wartezimmer führen will. Sie muss meinen Namen mehrere Male wiederholen.
Mrs. Partlow?
Ja?
Ich hätte jetzt gern ein bisschen Zeit mit Sybil. Nur wir zwei. Ich hole Sie dann aus dem Wartezimmer dazu, wenn wir für heute fertig sind.
Ich mag Dr. Goldman. Ich habe sofort Vertrauen zu ihr, aber als ich mich im Wartezimmer umschaue, bin ich mir nicht sicher, ob ich die folgenden dreißig Minuten wirklich durchstehe. Erst einmal gibt es hier keine guten Zeitschriften. Ich nehme mir eine Ausgabe der WebMD
. Ich schlage sie auf, beobachte aber eigentlich die anderen beiden Menschen im Raum. Ein Mann und eine Frau sitzen nebeneinander, und ihre Gesichtsausdrücke sind absolut identisch. Ihre Blicke
wandern unkonzentriert im Zimmer hin und her. Sie berühren einander nicht. Sie sind beide gut angezogen, in lässigen Business-Outfits. Schließlich begegnet mir der Blick der Frau, und ich zeige ihr mein eingefrorenes Lächeln.
Woher soll man wissen, ob die Distanz zwischen einem Mann und einer Frau am Geschlecht liegt oder an der Persönlichkeit?
Ich weiß noch, wie ich Michael bei einem Streit angeschrien habe: Deine Unfähigkeit, Emotionen zu zeigen, gibt mir unentwegt das Gefühl, einsam zu sein!
Woraufhin er zurückschrie: Dann heirate doch eine Frau!
Es ist so ein hässlicher Streit gewesen. Aber jetzt, hier im Wartezimmer von Dr. Goldman, muss ich kichern. Der war nicht schlecht, Michael! Die Frau und der Mann werfen mir gleichzeitig einen Blick zu.
Heute werden Sybil und ich uns einige ausgedachte Geschichten erzählen, hatte mir Dr. Goldman erklärt, als ich vor ihrem Schreibtisch Platz genommen und versucht hatte, nicht zu weinen. Sonnenlicht war durch die großen, sauberen Fenster auf Dr. Goldman und Sybil gefallen. Diese Geschichten werden mir dabei helfen, Sybil kennenzulernen, hatte sie hinzugefügt, und sie werden uns auch dabei helfen, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, wenn Sie so wollen. Damit uns, wenn wir beginnen, über die Geschehnisse im wahren Leben zu sprechen, Metaphern zur Verfügung stehen, auf die wir zurückgreifen können. Diese Geschichten sind eine Art Eingang
.
Oh, sagte ich. Das macht bestimmt Spaß.
Sybil nickte auf ihrem Sitzsack.
Sybil hat sehr viel Fantasie, sagte ich. Und dann, unfähig, mich zurückzuhalten, plapperte ich weiter: Sie erzählt endlos
Geschichten. Sie fängt morgens an, und wenn ich sie abends ins Bett bringe, erzählt sie immer noch dieselbe Geschichte.
Sie ist meine kleine Scheherazade. Aber Sie wissen schon: alles nur, um bloß noch nicht schlafen zu müssen! Manchmal wünschte ich natürlich, sie würde sich ein bisschen kürzer fassen. Am Ende des Tages bringen einen diese tausend niedlichen …
Ich verzog das Gesicht vor Dr. Goldman, die geduldig mein Lächeln erwiderte, aber nicht gelacht hatte.
Na schön, Sybil. Dann wollen wir mal. Wir haben jetzt ein bisschen Zeit, um zusammen über ein paar Dinge zu plaudern. In diesem Raum darfst du über alles reden, über das du reden möchtest. Über großartige Dinge oder über Dinge, die dir Angst machen. Ich höre zu. Deine Mom sagt, du erzählst gern Geschichten. Es macht doch Spaß, sich so kennenzulernen. Würdest du mir gerne eine Geschichte erzählen?
Eine Geschichte worüber?
Ganz egal, über irgendwas auf der Welt.
Irgendwas auf der Welt?
Ja. Was du möchtest.
Okay. Es war einmal eine Kuh, aber die Kuh konnte keine Milch machen, sie machte Saft. Dann traf sie eine Fee, und die hieß Juice. Ihr Haar bestand aus frisch gewaschener Wäsche. Nein, Moment. Es waren einmal mehrere Feen. Sie hießen Cathy, Jill, Junis und Blatch. Sie lebten in einem Kreis. In einem großen, rosa Kreis …
(…)
Und was passierte dann?
(…)
Sybil?
Was?
Was passierte dann?
Nichts. Nichts passierte dann.