Am 25. Mai 1913 stieg der damals 24-jährige Adolf Hitler auf dem Münchner Hauptbahnhof aus dem Zug. Nichts deutete darauf hin, dass der Sohn eines österreichischen Zollbeamten aus Braunau am Inn in München zu einem Mann werden könnte, der zwanzig Jahre später mit diktatorischer Gewalt über das Deutsche Reich herrschen würde. Die Realschule hatte er ohne Abschluss verlassen, seine Versuche, sich zum Kunstmaler ausbilden zu lassen, waren kläglich gescheitert. Die Allgemeine Malerschule der Wiener Kunstakademie hatte es rundweg abgelehnt, ihn als Studenten aufzunehmen. In künstlerischer Hinsicht kam er über das Kopieren der Motive von Wiener Ansichtskarten nie hinaus. Gelebt hat er vom kleinen Erbe, das ihm seine Eltern hinterließen, und von einer Waisenrente, die ihm zuerkannt wurde.
Als das Geld knapp wurde, war er gezwungen, sich in immer kleinere Zimmer einzumieten, die immer weiter vom Stadtzentrum Wiens entfernt lagen. Schon bald bedeutete Wien dem erfolglosen jungen Mann nicht mehr allzu viel. Und dann drohte auch noch der obligatorische Wehrdienst, den er offenbar in Österreich auf keinen Fall ableisten wollte. Das war wohl einer der Hauptgründe für seinen recht plötzlichen Umzug nach München.[1]
Die Angelegenheit hatte ein kleines Nachspiel. In München erhielt er bereits am 18. Januar 1914 Besuch von einem Beamten der Münchner Kriminalpolizei, der ihm eine Vorladung des Linzer Magistrats überbrachte. Hitler lebte zu diesem Zeitpunkt mit einem österreichischen Landsmann zusammen in einem kleinen Zimmer im Dachgeschoss des Hauses Schleißheimerstraße 34 am westlichen Rand von Schwabing.[2] Der Polizist nahm ihn auf der Stelle mit und brachte ihn ins österreichische Konsulat, «wo Hitler mitleidheischend auf sein schweres Leben als verwaister Künstler verwies – der Kampf um das tägliche Brot habe ihn seine staatsbürgerlichen Pflichten vergessen lassen.» Das scheint den Konsul beeindruckt zu haben, denn er sorgte dafür, dass Hitler erst zwei Wochen später zur Musterung antreten musste, und auch nicht in Linz, sondern im nähergelegenen Salzburg. Dort wurde er am 5. Februar für nicht waffentauglich befunden.[3]
Das hinderte Hitler allerdings nicht daran, seiner Begeisterung freien Lauf zu lassen, als die europäischen Mächte im Sommer 1914 auf einen großen Krieg zusteuerten. Als sich am 2. August Tausende von Menschen auf dem Münchner Odeonsplatz versammelten, um die deutsche Kriegserklärung an Russland zu bejubeln, war er mitten unter ihnen. Nicht nur für ihn, sondern für viele Menschen seiner Generation war der Ausbruch des Ersten Weltkriegs «ein emotionales Schlüsselerlebnis.»[4]
Irgendwie fand der beschäftigungslose österreichische Kunstmaler einen Weg, um ins bayerische Heer einzutreten. Bereits 1924 war nicht mehr zu rekonstruieren, wie Hitler das – gegen alle Regeln und Gepflogenheiten – gelungen war.[5] Fakt aber ist: «Der Krieg gab seinem verpfuschten, von Enttäuschungen und Entbehrungen geprägten Leben endlich einen Sinn.»[6]
Gleich im Oktober 1914 machte er in Flandern erste Schlachterfahrungen und wurde mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet, später auch mit dem EK I. Danach setzte man ihn bis zum Kriegsende vor allem als Meldegänger zwischen dem Regimentsstab und den Stäben der Bataillone ein, in aller Regel einige Kilometer hinter der Front. Hitler überstand den Krieg fast unversehrt. 1916 wurde er durch einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet. Als das Ende schon absehbar war, geriet er im Oktober 1918 in Flandern in einen Senfgasangriff. Senfgas führte meist zu einer zeitweisen Erblindung, die aber in der Regel rasch abklang. Hitler wurde am 21. Oktober als leicht Verwundeter in das Reservelazarett Pasewalk eingewiesen. Wenn er am 8. November 1923 von sich als einem «blinden Krüppel im Lazarett» sprach, so war das maßlos übertrieben. Auch seine Behauptung, er habe in Pasewalk den Entschluss gefasst, «nicht zu ruhen und zu rasten, bis die Novemberverbrecher zu Boden geworfen sind», ist ein reines Produkt seiner Fantasie, aber eine Geschichte, die seine Anhänger begeisterte. Tatsächlich gibt es kein Indiz dafür, dass die Revolution, die das Deutsche Reich Anfang November 1918 umwälzte, bei Hitler spontan irgendeinen Gedanken an Widerstand oder Konterrevolution ausgelöst haben könnte.
Ende September hatte die deutsche Oberste Heeresleitung (OHL) mit Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg als repräsentativem Chef und Generalquartiermeister Erich Ludendorff als strategischem Kopf erkannt, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Jeden Monat kamen zusätzlich 250.000 frische und gut ausgebildete amerikanische Soldaten auf die Schlachtfelder im Westen, im Südosten Europas brachen nach und nach die Verbündeten des Deutschen Reichs zusammen. Am 29. September erklärte die OHL dem überraschten Reichskanzler, nun müsse sofort US-Präsident Woodrow Wilson gebeten werden, einen Waffenstillstand herbeizuführen.
Wilson hatte in einer Rede vor dem US-Kongress im Januar 1918 erklärt, sein Ziel sei es, einen Frieden der Verständigung zu erreichen. Er hatte allerdings auch erklärt, ein solcher Verständigungsfrieden könne nicht mit den bisherigen Machthabern in Deutschland abgeschlossen werden, sondern nur mit einer Regierung, die den Willen des deutschen Volkes verkörpere. Deshalb befahl die OHL Ende September zugleich, die demokratischen Parteien des Reichstags müssten jetzt an der Regierung beteiligt werden, das Deutsche Reich müsse eine neue Verfassung bekommen und zur parlamentarischen Monarchie gemacht werden. Die Verfassungsreform wurde im Eilverfahren durchgepaukt, aber sie war nicht mehr als ein Scheinmanöver, mit dem Wilson positiv gestimmt werden sollte.
Das durchschaute die US-Administration. Es kam zu einem umfangreichen diplomatischen Notenwechsel – und am 24. Oktober zu einem radikalen Kurswechsel der OHL und der Seekriegsleitung. Der änderte nichts an der aussichtslosen militärischen Lage, wohl aber an der Stimmung unter Soldaten und Matrosen und auch unter den Arbeitern und ihren Familien, die in der Heimat seit Jahren hungerten und bittere Not litten.
Oft bricht sich revolutionäre Energie dann Bahn, wenn in Notsituationen große Hoffnungen auf Verbesserung bitter enttäuscht werden. So auch im Oktober und November 1918. Die Matrosen der Hochseeflotte hatten den Waffenstillstand vor Augen, sollten nun aber zu einer letzten großen Schlacht gegen die Flotte der Royal Navy auslaufen. Es kam zur Meuterei auf Schiffen, in Kiel gemeinsam mit den dortigen Arbeitern und Soldaten zum Aufstand, und dann erfasste innerhalb weniger Tage eine gewaltige Revolutionsbewegung das ganze Land.
Diese Bewegung stieß nirgendwo auf nennenswerten Widerstand. Am 9. November erreichte sie Berlin. Dort hatte der Militärbefehlshaber starke Truppenverbände zusammengezogen, um jeden Versuch einer Revolution niederzuschlagen, aber ein umfassender Generalstreik und Hunderttausende von Demonstranten machten all diese Pläne zur Makulatur. Am Mittag wurde die Abdankung des Kaisers verkündet und die Republik ausgerufen. Am folgenden Tag sprach der Chefredakteur des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, von der «größten aller Revolutionen», die das Kaiserreich und alles, was dazugehörte, weggefegt habe.[7] Die Macht lag nun bei den Arbeiter- und Soldatenräten, die als Organe der Revolutionsbewegung überall gebildet worden waren. Sie wählten am 10. November in Berlin eine neue Reichsregierung, an deren Spitze ein «Rat der Volksbeauftragten» stand, mit jeweils drei Vertretern der SPD und der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) – die Sozialdemokratie hatte sich wegen der Haltung zum Krieg im Jahr 1917 gespalten.
Am 11. November wurde in Compiègne nördlich von Paris der Waffenstillstand unterzeichnet – auf deutscher Seite nicht etwa vom Chef der OHL, Generalfeldmarschall von Hindenburg, sondern von einem Minister, Staatssekretär Matthias Erzberger. Erzberger konnte nicht ahnen, welche Folgen das haben würde. Ludendorff hatte die Falle schon am 29. September vorbereitet, als er die demokratischen Parteien in die Pflicht nahm, und Hindenburg wusste sehr genau, was er tat, als er im deutschen Hauptquartier an Erzbergers patriotisches Verantwortungsgefühl appellierte. Geschmeichelt tat der, wozu Hindenburg ihn aufforderte. Es war ein nicht wiedergutzumachender politischer Fehler, der Erzberger 1921 das Leben kosten sollte.
Am 12. November erließ der Rat der Volksbeauftragten einen «Aufruf an das deutsche Volk» und kündigte darin mit Gesetzeskraft an, dass von nun an in Deutschland alle Parlamente in direkter, allgemeiner, freier, gleicher und geheimer Wahl bestimmt werden sollten. Frauen bekamen das Wahlrecht. Das preußische Dreiklassenwahlrecht wurde abgeschafft. Für Betriebe und Behörden wurde der Acht-Stunden-Tag verkündet.[8] Die deutsche Republik sollte auch eine soziale Republik werden. Dieser Aufruf gilt als Magna Charta der deutschen Revolution.
Von alledem hat Hitler wohl in Pasewalk mit etwas Verzögerung erfahren. Es ist keine Äußerung aus der damaligen Zeit von ihm bekannt, mit der er das Geschehen negativ bewertet hätte. Am 19. November wurde er als «kriegsverwendungsfähig» zum Ersatzbataillon des 2. Bayerischen Infanterieregiments nach München entlassen.
Hitler kam in eine Stadt, die ihre eigene Revolution bereits zwei Tage vor der Ausrufung der Republik in Berlin erlebt hatte. Am 7. November 1918 hielt Kurt Eisner, seit 1917 die charismatische Führungsgestalt der Münchner Unabhängigen Sozialdemokratie, auf der Theresienwiese eine große Friedenskundgebung ab.[9] Dabei wurde auch lautstark das Ende der Monarchie gefordert. Anschließend zogen die Teilnehmer in einem gewaltigen Demonstrationszug durch die Straßen der Stadt. Viele Soldaten schlossen sich an. Die Stimmung heizte sich immer mehr auf. Mit lauten antimonarchistischen Parolen ging es zur Residenz. Der größte Teil des Zuges war bereits vorbei, als eine Gruppe von Demonstranten zu den Portalen der Residenz stürmte, Eisner vorneweg. Die Wachen leisteten keinen Widerstand – so war es ihnen befohlen worden. Niemand griff ein. Kein Offizier, kein Ministerium, keine Behörde, kein Beamter wurde aktiv. Die Bayerische Monarchie fiel widerstandslos in sich zusammen wie alle anderen Monarchien im Reich. In der Nacht wurde das Landtagsgebäude besetzt, und Eisner proklamierte den Freistaat Bayern. «Als die Münchner Bürger sich am Morgen des 8. den Schlaf aus den Augen rieben, waren sie Republikaner geworden.»[10]
In einem Aufruf an die Bevölkerung Münchens kündigte Eisner die schnellstmögliche Wahl einer konstituierenden Nationalversammlung durch alle mündigen Männer und Frauen an, garantierte die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sowie die Sicherheit der Person und des Eigentums. Grundsätzliche soziale und politische Reformen würden unverzüglich auf den Weg gebracht werden. All dies wollten SPD und USPD gemeinsam umsetzen. «Der Bruderkrieg der Sozialisten ist für Bayern beendet.» [11]
Die Novemberrevolution war auch in Bayern eine demokratische und soziale Revolution, wollte nicht die Herrschaft einer Partei oder die Diktatur des Proletariats errichten. Am 8. November wählte der in der Nacht entstandene «Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat» Kurt Eisner zum Ministerpräsidenten des Freistaats. Das wichtige Innenministerium übernahm Erhard Auer, der Vorsitzende der SPD, und auch der Minister für militärische Angelegenheiten – bewusst kein Kriegsminister – war ein Sozialdemokrat. Der Regierung gehörten aber auch bürgerliche Fachmänner an.
Es war der besonderen sozialen und wirtschaftlichen Situation in Bayern geschuldet, dass Eisner die Arbeiter- und Soldatenräte um Bauernräte erweiterte. Bayern wurde 1918 in weiten Teilen noch immer von mittlerem Bauerntum und mittelständischem Handwerk geprägt. Industriestandorte gab es durchaus – etwa in den Räumen München, Nürnberg-Fürth, Augsburg –, aber in Ober- und Niederbayern sperrte man sich gegen jeden Industriekapitalismus. Dem versuchte die SPD schon seit langem gerecht zu werden, indem sie einen betont konservativen Kurs eingeschlagen hatte. Auch Eisners USPD hielt daran im Kern fest.
Noch am 8. November verließ König Ludwig III. die Stadt. Fünf Tage später verzichtete er vom bayerischen Krongut Salzburg aus auf den Thron und entband Beamte, Offiziere und Soldaten von dem Treueid, den sie ihm gegenüber geleistet hatten. Die bayerische Revolution geriet im November schnell in ruhiges Fahrwasser und wurde nicht nur von der Arbeiterschaft, sondern auch von großen Teilen des Bürgertums positiv wahrgenommen. Sein Verhältnis zur Entwicklung der Dinge, notierte Thomas Mann am 10. November in sein Tagebuch, sei «freundlich, hoffnungsvoll, empfänglich, bereitwillig».[12] Auch Rainer Maria Rilke erlebte Kriegsende und Revolution in München. Er bekannte, dass er eine «rasche und freudige Zuversicht» fassen konnte, weil er darauf hoffte, dass die Menschheit in der Lage wäre, «eine ganz neue Seite der Zukunft aufzuschlagen».[13]
Ganz anders war die Stimmung im völkisch-nationalistischen Lager, das in Bayern besonders stark war. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert war München eine Hochburg des Antisemitismus gewesen und spielte auch eine prominente Rolle in der alldeutschen Bewegung.[14] Am 17. August 1918 wurde hier die «Thule-Gesellschaft» gegründet. Offiziell war sie ein Studienkreis, der sich mit alter deutscher Geschichte und Kultur befasste, doch in Wirklichkeit handelte es sich um eine «sektiererische Geheimgesellschaft, die für deutsche Machtentfaltung nach außen und rassische Reinheit im Innern eintrat.» Wer Mitglied werden wollte, musste nachweisen, dass es in seiner Familie «mindestens in den letzten drei Generationen ausschließlich deutsche Vorfahren gegeben hatte». Das Hauptquartier der Gesellschaft war eine Suite im vornehmsten Münchner Hotel, dem «Vier Jahreszeiten». «Die Gesellschaft konnte sich eine so luxuriöse Bleibe leisten, weil sich unter ihren etwa 200 Mitgliedern etliche sehr wohlhabende und hochgestellte Persönlichkeiten befanden.»[15] In diesem Milieu stand man der Revolution von Anfang an feindlich gegenüber. Schon am 10. November gründete die Thule-Gesellschaft eine paramilitärische Geheimorganisation zum Sturz der Revolutionsregierung. «Zu diesem ‹Kampfbund Thule› gehörten auch die späteren Nazi-Größen Rudolf Heß, Hans Frank und Alfred Rosenberg.»[16]
In nationalistischen Kreisen war man nicht bereit zu akzeptieren, dass die deutschen Armeen militärisch besiegt worden waren. Man suchte nach Schuldigen an der Niederlage und fand sie in streikenden Arbeitern und demokratischen Politikern. Schon im November 1918 wurde die Novemberrevolution als «Dolchstoß» in den Rücken des kämpfenden Heeres bezeichnet.[17] Für diese Kreise fügte es sich ins Bild, dass Eisner am 23. November 1918 geheime Berichte der bayerischen Gesandtschaft in Berlin aus dem Sommer 1914 veröffentlichte. Ihm ging es um einen ehrlichen Neuanfang in der internationalen Politik, zu dem in seinen Augen auch gehörte, deutsche Verantwortlichkeiten im Hinblick auf den Kriegsbeginn offenzulegen. Für die nationale Rechte war seine Veröffentlichung schlichter Landesverrat. Als Eisner Anfang Februar 1919 bei einer internationalen Konferenz sozialistischer Parteien in Bern von deutscher Kriegsschuld sprach, bekam er vom Kongress viel Beifall, hatte aber wohl auch sein Todesurteil gesprochen. Er war jetzt der «bestgehasste Mann in Deutschland».[18] Ein Attentat auf Eisner liege in der Luft, notierte Mitte Februar Herbert Field in sein Tagebuch, der sich als Repräsentant der amerikanischen Kommission für die Friedensverhandlungen in München aufhielt.[19]
Die Bayerische Volkspartei (BVP) und viele Zeitungen forderten jetzt ultimativ Eisners Rücktritt als Ministerpräsident. Der war schon deshalb unvermeidbar, weil die Wahlen zur bayerischen Landesversammlung am 12. Januar 1919 Eisners USPD eine dramatische Niederlage beschert hatten. Sie hatte weniger als drei Prozent der Stimmen erhalten. Stärkste Partei war mit 35 Prozent die Bayerische Volkspartei geworden, die Schwesterpartei der katholischen Zentrumspartei, die allerdings einen sehr eigenen politischen Kurs verfolgte. Dicht dahinter lag die SPD mit 33 Prozent, sie hatte im Vergleich zur Wahl von 1912 mehr als 13 Prozent dazugewonnen. Am 21. Februar sollte der neu gewählte Landtag zu seiner ersten Sitzung zusammentreten, und Eisner wollte bei dieser Sitzung seinen Rücktritt erklären. Doch dazu kam es nicht, der 21. Februar wurde zu einem «Schicksalstag für Bayern».[20]
Auf dem Weg zum Landtag wurde Eisner vom 21-jährigen Anton Graf von Arco auf Valley von hinten erschossen, einem völkisch-nationalistischen Studenten und beurlaubten Leutnant des Königlich Bayerischen Infanterie-Leib-Regiments. Arco tötete den Ministerpräsidenten durch zwei Schüsse in Rücken und Kopf, die er aus nächster Nähe abgab. Eisners Leibwächter schossen auf den Attentäter und verletzten ihn schwer. In einer handschriftlichen Notiz erklärte Arco vor dem Attentat: «Eisner ist Bolschewist, er ist Jude, er ist kein Deutscher, er fühlt nicht deutsch, untergräbt jedes vaterländische Denken und Fühlen, ist ein Landesverräter.» Später nannte er insbesondere den «Geheimnisverrat Eisners an die Alliierten» als Motiv für sein Attentat.[21]
Die Nachricht von der Ermordung Eisners löste keineswegs nur Trauer und Entsetzen aus. In Teilen des Bürgertums wurde sie begrüßt. An der Universität herrschte ein solcher Jubel, dass Professor Wilhelm Röntgen seine Vorlesung aussetzen musste. Thomas Mann notierte in sein Tagebuch: «Die Schulkameraden unserer Jungen haben bei der Nachricht applaudiert und getanzt.» Zwei Tage nach dem Mord besuchte der Schriftsteller den Tatort. «An der Straßenstelle, wo Eisner fiel, liegt ein Kranz mit seinem Bild, und ein Häufchen blutigen Straßenschmutzes ist zusammengekehrt.»[22]
In der bayerischen Politik löste die Ermordung Eisners Chaos und völlige Verwirrung aus. Eine Stunde nach dem Mord stürzte ein Mitglied des Revolutionären Arbeiterrats in den Saal des Bayerischen Landtags und feuerte zwei Schüsse auf Erhard Auer ab, den Innenminister und Vorsitzenden der SPD, weil er Auer für politisch verantwortlich hielt. In dem anschließenden Tumult wurden ein Abgeordneter der Bayerischen Volkspartei und ein als Besucher anwesender Major getötet. Auer überlebte das Attentat schwer verletzt, aber die politischen Folgen waren enorm. «In wilder Panik stieben die Abgeordneten davon», beschrieb Ernst Toller die Szene, «sie lassen das Parlament, das Volk, ihre Mandate, ihre Hüte und Mäntel im Stich, Bayern hat keine Regierung.»[23]
Eisners Beisetzung am 26. Februar zeigte eindrucksvoll die Popularität des charismatischen Sozialistenführers im linken Lager und war wohl auch ein deutliches Statement gegen politisch motivierten Mord. Mehr als 100.000 Menschen folgten dem Sarg durch München oder standen am Straßenrand. Heinrich Mann erklärte, «die hundert Tage» von Eisners Regierung hätten «mehr Ideen, mehr Freuden der Vernunft, mehr Belebung der Geister gebracht als die fünfzig Jahre vorher».[24]
Auch Adolf Hitler erwies Eisner offenbar mit einer roten Armbinde die letzte Ehre – manche Experten sind überzeugt, ihn auf einer Fotografie im Trauerzug entdeckt zu haben.[25] Das ist weniger erstaunlich, als es zunächst scheint. Hitler hatte sich unter seinen Kameraden den Ruf eines engagierten und redegewandten Soldaten erworben und war Mitte Februar zum Vertrauensmann seiner Kompanie gewählt worden, die treu zur Eisner-Regierung stand. Hitler hätte sich in den Wochen zuvor durchaus einem der Freikorps oder einer der sektiererischen Vereinigungen im völkisch-nationalistischen Dunstkreis anschließen können, hat dies aber nicht getan. Er soll zu diesem Zeitpunkt der Revolution positiv gegenüber gestanden haben.[26] Die sozialdemokratische Münchener Post berichtete am 25. März 1923, Hitler habe im Frühjahr 1919 einer Propagandaabteilung angehört, die der Arbeiter- und Soldatenrat in Hitlers Bataillon eingerichtet hatte. Ziel sei es gewesen, «die demokratisch-republikanische Staatsform als das erstrebenswerte politische Ziel zu unterstreichen.» Hitler habe Vorträge vor Soldaten gehalten, «galt seiner politischen Überzeugung nach in den Kreisen der Propagandaabteilung als Mehrheitssozialist und gab sich auch als solcher aus, wie so viele, war aber nie politisch oder gewerkschaftlich organisiert.»[27] Ob Hitler sich aus Überzeugung oder aus reinem Opportunismus zur Revolution bekannte, ist hier nicht zu klären. Es war für ihn zweifellos von großer Bedeutung, möglichst lange in der Reichswehr verbleiben zu können, wollte er nicht mittellos und ohne jede Perspektive auf der Straße stehen.
Während die Ermordung Eisners Bayern in große Unsicherheiten stürzte, kam es auf Reichsebene im Februar zunächst zu einer gewissen Beruhigung der politischen Verhältnisse. Nach erfolglosen Putschversuchen der Militärs im Dezember und dilettantischen Umsturzversuchen der radikalen Linken Anfang Januar hatten am 19. Januar 1919 die Wahlen zur Nationalversammlung eine Dreiviertel-Mehrheit für eine sozialdemokratisch-bürgerliche Koalition aus SPD, Zentrumspartei und Deutscher Demokratischer Partei (DDP) ergeben. Am 6. Februar kam die Nationalversammlung in Weimar zu ihrer ersten Sitzung zusammen, am 11. Februar wählte sie den Sozialdemokraten Friedrich Ebert zum Reichspräsidenten, und der setzte die neue Regierung ein, an deren Spitze sein Parteifreund Philipp Scheidemann stand.
Diese Regierung war mit gewaltigen Herausforderungen konfrontiert. Die wirtschaftliche und soziale Lage im Land war katastrophal. Vor allem in den Industriegebieten an der Ruhr und in Mitteldeutschland kam es immer wieder zu großen Streiks der unzufriedenen Arbeiterschaft, deren materielle Lage sich nicht erkennbar verbesserte. Auch die Sozialisierung des Bergbaus und der Schwerindustrie, ein wichtiges Ziel der sozialistischen Arbeiterbewegung, kam nicht voran. Streiks und Unruhen ließ die Regierung im Frühjahr 1919 von Freikorps und letzten Einheiten der alten Armee niederschlagen, die sie schon im Januar gegen die Aufständischen in Berlin eingesetzt hatte. Damals waren von diesen Einheiten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die führenden Köpfe der gerade gegründeten KPD, ermordet worden. Auch jetzt, im Frühjahr, griffen diese Einheiten schnell zu exzessiver Gewalt. Während die Novemberrevolution ausgesprochen friedlich verlaufen war, fielen im Frühjahr mehrere Tausend streikende oder aufständische linksorientierte Arbeiter dem brutalen Vorgehen der Freikorps zum Opfer, in denen rechtsextreme Gesinnung dominierte und das Hakenkreuz am Stahlhelm Karriere machte.
Karriere machte im Frühjahr 1919 auch die Dolchstoßlüge. Scheidemann hatte in seiner Regierungserklärung am 13. Februar die Niederlage im Weltkrieg als unvermeidlich bezeichnet. Die Antwort der rechtsorientierten Presse war eine regelrechte Kampagne, in der die Revolution für den militärischen Zusammenbruch verantwortlich gemacht wurde. General Ludendorff nutzte die Gelegenheit, um jede Verantwortung für das Waffenstillstandsgesuch von sich zu weisen. Das war verlogen und perfide – aber erfolgreich. Ludendorff kehrte am 21. Februar 1919 nach Deutschland zurück, er hatte sich im November nach Schweden abgesetzt.[28] Er gehörte schon im Frühjahr 1919 zu den aktivsten Feinden der jungen deutschen Demokratie und hinterließ eine breite Spur, die bis zum Hitlerputsch von 1923 führen sollte.
München kam nach der Ermordung Eisners nicht zur Ruhe. Nach einem kurzen, aber militanten Regime eines «Zentralrats», der nur aus Vertretern der radikalen Linken bestand, trat am 28. Februar in München ein Kongress der bayerischen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte zusammen, der bis zum 8. März tagte. Die Räte lehnten einerseits die Errichtung einer Räterepublik ab, konnten sich aber andererseits auch nicht darauf verständigen, den gesprengten Landtag so schnell wie möglich wieder zusammentreten zu lassen. Auf der Suche nach einem Ausweg aus der komplexen und verfahrenen Situation verständigte man sich schließlich auf eine sozialistische Minderheitsregierung unter der Leitung des bisherigen Kultusministers und stellvertretenden Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann (SPD). Am 17. März trat der Bayerische Landtag zusammen und wählte Hoffmann zum neuen Ministerpräsidenten.
Die Regierung bemühte sich zwar nach Kräften, die politisch völlig divergierenden Richtungen zusammenzuhalten und die desaströse wirtschaftliche Situation in Bayern zu lindern, war aber damit unter den gegebenen Umständen schlicht überfordert. Als in Ungarn am 21. März eine Räterepublik ausgerufen wurde, sah die extreme Linke darin ein Signal auch für Bayern. Sie forderte Bündnisse mit Moskau und Budapest. Als Hoffmann ankündigte, am 8. April den Landtag erneut zusammentreten zu lassen, rief sie am 7. April die «Bayerische Räterepublik» aus.
Die herausragenden Köpfe dieser Räterepublik waren zunächst sozialistische und anarchistische Schriftsteller, namentlich Ernst Toller, Gustav Landauer und Erich Mühsam. Die Münchner Kommunisten hatten im Vorfeld polemisiert, es handele sich um eine «Schein»-Räterepublik, die lediglich dazu diene, den Rätegedanken zu diskreditieren. Kaum war die Räterepublik ins Leben gerufen, vollzog die KPD dann allerdings eine Wende und versuchte, Anschluss an sie zu gewinnen. Die Regierung Hoffmann war bereits vor der Proklamation von München nach Bamberg ausgewichen. Ebert und die Reichsregierung bedrängten Hoffmann, so rasch wie möglich gegen die Räteregierung vorzugehen. Ein Versuch Hoffmanns mit eigenen militärischen Kräften scheiterte am 13. April, worauf nun die KPD die Chance sah, sich maßgeblich an der Räterepublik zu beteiligen.
Zwei Tage danach, am 15. April, wurde Hitler «Ersatz-Bataillons-Rat des Demobilisierungs-Bataillons des 2. Infanterieregiments». In seiner Gesamtheit verhielt sich dieser Soldatenrat «sehr loyal» gegenüber der Räteregierung.[29]
Nach der maßgeblichen Beteiligung der Kommunisten an der Räterepublik wandte sich Ministerpräsident Hoffmann aus dem Bamberger Regierungs-Exil um Unterstützung an Reichswehrminister Gustav Noske, der in der zweiten Aprilhälfte etwa 35.000 Mann gegen die Bayerische Räterepublik in Marsch setzte. Schon beim Vormarsch auf München hinterließen die Freikorps eine Blutspur, wie man sie schon aus dem rheinisch-westfälischen und dem mitteldeutschen Industriegebiet kannte.
Am 30. April erschossen Angehörige der «Roten Armee» der Räterepublik zehn Gefangene, die sie als Konterrevolutionäre betrachteten, darunter sieben Angehörige der Thule-Gesellschaft. Diese Mordaktion ist durch nichts zu rechtfertigen – es war die einzige, die in diesen Tagen von Anhängern der Räterepublik verübt wurde. Bis heute ist der «Geiselmord im Luitpold-Gymnasium» fester Bestandteil jeder Erzählung über die Münchner Räterepublik. Der Geiselmord wurde auch von den Anhängern der Räteregierung scharf verurteilt, dennoch bot er den Regierungstruppen beim Einmarsch eine brauchbare Legitimation, keinerlei Rücksichten zu nehmen und barbarisch zu wüten. Am 3. Mai war München in der Hand der Regierungstruppen, die fast eine Woche lang auf alles schossen, was irgendwie verdächtig war. 52 ehemalige russische Kriegsgefangene wurden ebenso getötet wie zwölf Einwohner von Perlach, die meisten Sozialdemokraten, und 21 Mitglieder eines katholischen Gesellenvereins, die zu Unrecht als Spartakisten denunziert worden waren. Mehr als 600 Menschen kamen in diesen Tagen ums Leben, die meisten völlig unbeteiligte Zivilisten. Erst nach dem 8. Mai hörten die willkürlichen Erschießungen auf. 38 Angehörige der Regierungstruppen wurden bei der Niederschlagung der Räterepublik getötet.
Die Aufarbeitung des Geschehens durch die bayerische Justiz war bezeichnend. Gerichte verhängten in Verfahren, die mit der Räterepublik zusammenhingen, mehr als 1800 Freiheitsstrafen; im Durchschnitt mussten die Verurteilten ihre Strafe zu drei Vierteln verbüßen. Dagegen wurde von denen, die bei der Niederschlagung der Räterepublik Morde und andere Gräueltaten begangen hatten, kein einziger für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen.[30]
Der weiße Terror übertraf in diesen Tagen deutlich den roten, aber im Bewusstsein des Münchner Bürgertums und der konservativen Landbevölkerung blieb ausschließlich die «rote Schreckensherrschaft» der Räterepublik präsent, gegen die man sich für die Zukunft mit sogenannten Einwohnerwehren wappnen müsse. Jedenfalls fehlt in keiner Darstellung der Entwicklung Bayerns in den folgenden Jahren der Hinweis, die Entstehung der Einwohnerwehren und anderer bewaffneter Verbände habe ihren Ausgangspunkt in der Räterepublik gehabt und sei nur als Reaktion auf die schrecklichen Wochen im April 1919 zu verstehen.
Bei Hitler scheint das Erleben der Räterepublik zunächst keinen Sinneswandel ausgelöst zu haben. Unmittelbar nach der Niederschlagung der Räteherrschaft war jedenfalls keine grundsätzliche Wende oder Radikalisierung in seiner politischen Orientierung festzustellen. Am 3. Mai bekannte er sich in einer Versammlung der Angehörigen des 2. Infanterieregiments in der Mannschaftskantine auf dem Oberwiesenfeld zur Demokratie und «unter Vorbehalt zur Mehrheitssozialdemokratie.»[31] So jedenfalls war das am 29. Oktober 1930 im Berliner Tageblatt zu lesen. Berichte von Augenzeugen dürfen gewiss nicht überbewertet werden, zumal, wenn sie sich auf Jahre zurückliegende Ereignisse beziehen. Und doch deuten sie darauf hin, dass sich bei Hitler erst in den Monaten nach der Niederschlagung der Räterepublik diejenigen politischen Überzeugungen herausbildeten, die wir mit seinem Namen verbinden. Der amerikanische Historiker David Clay Large, der an der University of California in Berkeley lehrte, ist überzeugt: «Die eigentliche politische Sozialisation Hitlers setzte erst nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik ein.»[32]