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«Brodelnder Hexenkessel» –
Der Kapp-Putsch, München und Hitler

Kaum war Hitler Mitglied in der DAP geworden, ging alles sehr schnell. Er sah die Chance, die ihm diese Partei bot, und er war entschlossen, sie zu nutzen. Den bisherigen leitenden Parteimitgliedern war er nicht nur aufgrund seines Rednertalents überlegen. Er hatte ihnen auch voraus, dass er sich den gesamten Tag der Parteiarbeit widmen konnte, während Anton Drexler, Karl Harrer und die anderen mit Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Noch stand Hitler im Sold der Reichswehr, die ihm nicht nur ermöglicht hatte, seine Fähigkeiten als Redner zu entdecken und auszubauen, sondern auch sein Engagement in der DAP kräftig unterstützte.

Hitler war gleich nach seinem ersten Auftauchen in einer Veranstaltung der DAP zur nächsten Sitzung des Parteiausschusses eingeladen worden, aber er hatte in diesem Gremium weder Sitz noch Stimme. Entscheidungen trafen die offiziellen Mitglieder des Ausschusses. Das war ihm ein Dorn im Auge. Schon im Dezember 1919 formulierte Hitler eine neue Geschäftsordnung für den Parteiausschuss, deren Hauptzweck es war, den Einfluss des ersten Vorsitzenden Karl Harrer und seines Zirkels auf die Parteiführung einzudämmen und wenn möglich auszuschalten. Harrer hatte Vorbehalte gegen Hitler und wollte dessen Einfluss möglichst klein halten.[1] Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf sich Drexler auf Hitlers Seite stellte. Im Januar schied Harrer aus, und Drexler wurde erster Vorsitzender der Partei.

Drexler und Hitler formulierten nun ein 25 Punkte umfassendes «Parteiprogramm», und auf Hitlers vehementes Drängen wurde beschlossen, die Partei in «Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei» (NSDAP) umzubenennen. Hitlers Ziel war es vor allem, die sozialistisch beeinflussten Arbeiter für die «nationale Sache» zurückzugewinnen, und dieses Anliegen sollte bereits im Parteinamen sichtbar werden.[2] Am Dienstag, 24. Februar 1920, wurde zu einer großen Versammlung im Hofbräusaal geladen, bei der das Parteiprogramm vorgestellt werden sollte. Als Zugpferd engagierte die Parteileitung den damals populären völkisch-nationalistischen Redner Dr. med. Johann Dingfelder, der 2000 Münchner anlockte. Dingfelder referierte sehr allgemein über aktuelle Fragen der Zeit. Im Verlauf der anschließenden Diskussion kam Hitler dann eher nebenbei auf das Programm der Partei zu sprechen.[3] Damit war die NSDAP zwar an die Öffentlichkeit getreten, bekannt aber war sie noch lange nicht, als die Republik im März 1920 in ihre bis dahin schwerste Krise gestürzt wurde.

Schon seit Sommer 1919 hatte eine Gruppe um General Ludendorff und den ostpreußischen Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp einen Staatsstreich vorbereitet. Kapp hatte 1917 zu den Mitbegründern der Vaterlandspartei gehört, deren Ziel ein Siegfrieden mit großen Gebietsgewinnen für das Deutsche Reich war. Im Oktober 1919 hatte die zunächst lose Gruppe um Ludendorff und Kapp die «Nationale Vereinigung» gegründet und damit einen organisatorischen Rahmen, eine Schaltstelle, für den geplanten Staatsstreich geschaffen. Zugleich hatte sie sich intensiv darum bemüht, aktive Offiziere für die Verschwörung zu gewinnen. Der Zeitpunkt dafür war günstig, weil im ersten Halbjahr 1920 die Reichswehr von etwa 250.000 Mann, die sie einschließlich der Freikorps noch umfasste, auf die vom Versailler Friedensvertrag vorgeschriebene Stärke von 100.000 Mann reduziert werden sollte. Das löste bei vielen Angehörigen der Truppe Existenzängste aus und erhöhte die ohnehin vorhandene Bereitschaft, gegen die Regierung der verhassten Republik vorzugehen.

Als am 29. Februar 1920 angeordnet wurde, die Marinebrigade Ehrhardt aufzulösen, sahen die Putschisten darin den geeigneten Zeitpunkt zum Losschlagen. General Walther Freiherr von Lüttwitz, der sich seit dem Ausscheiden Hindenburgs und der Auflösung der Obersten Heeresleitung im Sommer 1919 als militärischer Führer der gesamten Armee sah, forderte am Abend des 10. März Reichspräsident und Reichsregierung ultimativ auf, jeden weiteren Truppenabbau zu unterlassen, die Nationalversammlung sofort aufzulösen und Neuwahlen zum Reichstag auszuschreiben. Er verlangte personelle Veränderungen in der Regierung, seine eigene Ernennung zum Oberbefehlshaber der Reichswehr und die Ablösung von General Walther Reinhardt, dem Chef der Heeresleitung, der loyal zur Regierung stand.[4]

Lüttwitz wurde nicht etwa sofort verhaftet, sondern lediglich am folgenden Tag seines Kommandos enthoben. Gegen die Mitverschwörer Kapp und Hauptmann a. D. Waldemar Pabst ergingen Haftbefehle, die aber nicht vollstreckt werden konnten, weil die beiden aus Kreisen des Berliner Polizeipräsidiums gewarnt worden waren. In der Nacht zum 13. März setzte Lüttwitz die Marinebrigade Ehrhardt in Marsch gegen Berlin.

Die führenden Generale der Reichswehr weigerten sich durchweg, gegen die Putschisten vorzugehen. Lediglich General Reinhardt war bereit, den Putsch mit Waffengewalt niederzuschlagen. Der Chef des Truppenamtes, General von Seeckt, drohte dagegen, er werde militärischen Widerstand gegen die anrückenden Truppen der Putschisten nicht zulassen. Gegen 4 Uhr am frühen Morgen des 13. März beschlossen Reichspräsident und Regierung Berlin zu verlassen und nach Dresden zu fliehen.

Im Morgengrauen rückte die Marinebrigade Ehrhardt unter Lüttwitz’ Führung in die völlig ungeschützte Hauptstadt ein und besetzte das Regierungsviertel. Kapp wurde zum neuen Reichskanzler ausgerufen. In verschiedenen Teilen des Reiches waren Reichswehrkommandeure bereit, sich den Putschisten anzuschließen. Am 13. März 1920 schien die erste deutsche Demokratie am Ende.

Soldaten der Marine-Brigade Erhardt marschieren durch die Straßen Berlins.

Die Marinebrigade Ehrhardt marschiert in das völlig ungeschützte Berlin ein. Kapitän Hermann Ehrhardt spielt nicht nur eine zentrale Rolle beim Kapp-Putsch, sondern ist auch Kopf der Geheimorganisation Consul, die den Zentrumspolitiker Matthias Erzberger und Reichsaußenminister Walther Rathenau ermordet. 1923 bereitet er in Bayern den «Marsch auf Berlin» vor.

Gerettet wurde die Republik von denen, die sie ins Leben gerufen hatten: von der Arbeiterschaft. Bereits am folgenden Tag legte ein Generalstreik das Land vollständig lahm, die Stimmung glich zeitweise der in den revolutionären Novembertagen 1918.

Vor allem im Ruhrgebiet flammten aber auch wieder die gewaltsamen Auseinandersetzungen auf, die es hier bereits im Frühjahr 1919 gegeben hatte. Der in Münster als militärischer Kommandeur amtierende General Oskar von Watter setzte wieder Truppen gegen streikende Arbeiter in Marsch und unterließ zugleich jede klare Stellungnahme gegen die rechtsextremen Putschisten. Am 15. März 1920 ließ Watter Standgerichte einsetzen. Die streikenden Arbeiter wussten noch aus dem Vorjahr, was ihnen jetzt blühte. Innerhalb kürzester Zeit bildeten sie eine Rote Armee und traten zum bewaffneten Kampf gegen Watters Verbände an.

Bereits am 17. März musste Kapp zurücktreten, nach nur vier Tagen war der Putsch abgewehrt. Die Gewerkschaften erhoben nach diesem «glänzenden Sieg» den Anspruch, an einer «Neuordnung der Verhältnisse» mitzuwirken, die den Wünschen des Volkes entspreche und Gewähr für eine sichere Zukunft biete. Nach langen Verhandlungen akzeptierten die Regierungsparteien in den Morgenstunden des 20. März einen acht Punkte umfassenden Katalog der Gewerkschaften, der Kernforderungen der Revolutionsbewegung enthielt: Entwaffnung und Bestrafung aller am Putsch Beteiligten; Säuberung und Demokratisierung der Verwaltung; Ausbau der Sozialgesetzgebung; sofortige Inangriffnahme der Sozialisierung der dazu reifen Wirtschaftszweige; Einberufung der Sozialisierungskommission; Auflösung aller konterrevolutionären militärischen Formationen und ihre Ersetzung durch Formationen aus den Kreisen der zuverlässigen republikanischen Bevölkerung, insbesondere der organisierten Arbeiter, Angestellten und Beamten; wirksame Erfassung der Lebensmittel, Bekämpfung des Wuchers und Schiebertums. Der Generalstreik wurde am 20. März um 7.05 Uhr beendet.[5]

Diese Forderungen waren in der Sozialdemokratie seit langem äußerst populär. Jetzt herrschte die Meinung vor, sie müssten endlich erfüllt werden, der Putsch von rechts habe eine neue Situation geschaffen. Die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung dürfe nicht zum alten Zustand zurückführen, der vor dem Putsch geherrscht hatte. Es ging Sozialdemokraten und Gewerkschaftsführern auch darum, radikalen Kräften in der Arbeiterschaft soweit wie möglich den Wind aus den Segeln zu nehmen, doch das erwies sich im Ruhrgebiet als unmöglich. Dort setzte sich die Rote Armee gegen Watters Truppen durch und vertrieb sie aus dem Revier. Beim fluchtartigen Rückzug des Militärs erbeuteten die Arbeiterwehren große Mengen von Waffen und Munition. Noch bis Anfang April 1920 wurde hier erbittert gekämpft, und die Regierung setzte Truppen ein, deren Kommandeure sich eben noch geweigert hatten, die Republik zu schützen. Sogar die Marinebrigade Ehrhardt wurde gegen die aufständischen Arbeiter in Marsch gesetzt.

Auf Seiten der Reichswehr und der Freikorps zählte man am Ende 208 Tote und 123 Vermisste, bei der Sicherheitspolizei 41 Tote. Die Zahl der Toten, die die Ruhrarbeiter zu beklagen hatten, ist niemals genau ermittelt worden, liegt aber mit Sicherheit weit über 1000. Die militärischen Standgerichte fällten 205 Todesurteile, von denen 50 vollstreckt wurden, bevor die Reichsregierung die Standgerichte am 3. April 1920 auflöste.

Trotz aller Forderungen aus den Reihen der SPD und der Gewerkschaften wurde nichts Einschneidendes gegen die konterrevolutionäre Gefahr unternommen, die von diesen Truppen ausging. Am Ende schied ausgerechnet General Reinhardt, der als einziger aus der Reichswehrführung militärisch gegen die Putschisten vorgehen wollte, aus seinem Amt als Chef der Heeresleitung aus, und General von Seeckt wurde sein Nachfolger.[6]

Die Regierung wurde zwar umgebildet, aber nicht etwa so, dass ein «Ruck nach links» erkennbar gewesen wäre, wie ihn die Gewerkschaften gefordert hatten. Neuer Reichskanzler wurde am 27. März der bisherige Außenminister Hermann Müller (SPD). Gustav Noske musste als Reichswehrminister seinen Hut nehmen.[7] Weil sich für seine Nachfolge kein geeigneter SPD-Kandidat fand, gaben die Sozialdemokraten das Amt aus der Hand. Nachfolger Noskes wurde der ehemalige Nürnberger Oberbürgermeister Otto Gessler (DDP), der wenig sachliche Kompetenz für das Amt mitbrachte und von sich selbst in diesen Tagen erklärte, er hänge noch immer am Bayerischen Königshaus und sei «höchstens Vernunftrepublikaner» geworden.

Es spricht Bände über das Justizwesen der Republik, dass nur einer der Putschisten des März 1920 gerichtlich abgeurteilt wurde. Traugott von Jagow, der als Innenminister vorgesehene frühere Regierungspräsident von Breslau, wurde zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, von denen er drei verbüßte. Das Gericht rechnete ihm «selbstlose Vaterlandsliebe» als mildernden Umstand an. Alle anderen Beteiligten flohen ins Ausland oder nach Bayern, wurden gar nicht angeklagt oder freigesprochen.

Als Hitler am 14. März vom Putsch in Berlin gehört hatte, war er völlig euphorisch gewesen. Auch Hauptmann Mayr, Hitlers Vorgesetzter, begrüßte den Putsch und schickte Hitler nach Berlin, wo der sich ein Bild von den Vorgängen machen sollte. Hitler war nicht nur einverstanden, sondern so erpicht auf diese Mission, dass er sich zum ersten Mal in seinem Leben in die Luft wagte. Mit von der Partie war Dietrich Eckart, der von Hitlers Rednertalent begeistert war und sich im Hinblick auf seine eigenen völkischen Visionen viel von ihm versprach. In Berlin wollte Eckart Hitler mit den Putschisten um Kapp bekannt machen, von denen er einige persönlich kannte. In einem Flugzeug, dass die Reichswehr stellte, starteten sie am 16. März vom Flugplatz Augsburg aus. Die Maschine, in der sie nach Berlin geflogen wurden, war ein kleiner Doppeldecker, der unterwegs so kräftig durchgeschüttelt wurde, dass Hitler sich mehrmals übergeben musste. Als sie in Berlin landeten, war der Staatsstreich bereits gescheitert und die Putschisten liefen auseinander. «Hitler wäre trotzdem gerne eine Weile in Berlin geblieben, doch Eckart bestand auf sofortiger Rückkehr nach München. Hitler blieb einzig der Trost, dass er mit dem Zug nach Hause fahren durfte.»[8]

Auf Reichsebene blieb die Lage auch nach dem Putsch labil. Das Ergebnis der Reichstagswahl am 6. Juni 1920 zeigte eine deutliche Polarisierung der Wählerschaft. Die SPD büßte im Vergleich zur Wahl der Nationalversammlung am 19. Januar 1919 16 Prozent ein und erhielt nur noch 21,9 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die USPD lag nun mit 17,6 Prozent fast gleichauf – sie bekannte sich seit ihrem Leipziger Parteitag im Dezember 1919 zur «Diktatur des Proletariats» und zum «Rätesystem».[9] Der zweite große Verlierer war die DDP, damals die einzige wirklich republikanische Partei des Bürgertums. Sie erhielt nur noch 8,3 Prozent der abgegebenen Stimmen gegenüber 18,5 Prozent im Januar 1919. Die katholische Deutsche Zentrumspartei, der dritte Partner der Weimarer Koalition, rutschte bei den Juniwahlen von 19,7 Prozent auf 13,6 Prozent ab. Stärkster Profiteur des Polarisierungsprozesses im bürgerlichen Lager war die DVP. Sie kletterte im Juni 1920 von 4,4 Prozent auf 13,9 Prozent der Wählerstimmen. Die früheren Nationalliberalen machten mehrheitlich kein Hehl daraus, dass sie Anhänger der Monarchie waren und der Republik ablehnend gegenüberstanden. Zugleich aber wollten sie auf dem Boden der Verfassung für ihre Überzeugungen streiten und lehnten gewaltsame Methoden ab. Die DVP akzeptierte die Republik vorläufig und unter Vorbehalt.

Nicht so die DNVP, die sich zum Sammelbecken nationalistischer, monarchistischer und antisemitischer Strömungen entwickelte. Sie wurde bei den Juniwahlen 1920 mit 15 Prozent stärkste Kraft im bürgerlichen Lager, ein Stimmenzuwachs von 4,7 Prozent.

Nach langen Verhandlungen verständigten sich Zentrum, DVP und DDP auf eine rein bürgerliche Minderheitsregierung, die bereits nach einem knappen Jahr am Ende war. Es folgten weitere Minderheitsregierungen, auf Reichsebene blieb die Lage unsicher.

In Preußen allerdings, dem weitaus größten Land der Republik, konnte die Koalition aus SPD, Zentrum und DDP trotz Verlusten bei der Wahl zum Preußischen Landtag im Februar 1921 ihre Mehrheit behaupten. Im Verlauf des Jahres kam es unter Einbeziehung der DVP zu einer Großen Koalition. Die Regierung unter Führung von Otto Braun (SPD) erwies sich als ausgesprochen stabil. Bis auf eine kurze Unterbrechung 1925 regierte Braun als Chef einer Mitte-Links-Koalition bis Mitte 1932, und Preußen erarbeitete sich in diesen Jahren den Ruf, ein Bollwerk der Demokratie zu sein.

Die gegenteilige Entwicklung nahm Bayern. Dort nutzten Militärführung und vaterländische Verbände die Gelegenheit zu einem «kalten Putsch», der im Gegensatz zum Kapp-Lüttwitz-Putsch Bestand hatte und den Freistaat nachhaltig veränderte. Treibende Kräfte waren vor allem Forstrat Escherich mit der Bayerischen Einwohnerwehr, der Münchner Polizeipräsident Pöhner, der Regierungspräsident von Oberbayern, Gustav Ritter von Kahr sowie General Franz Ritter von Epp, der Kommandeur des bayerischen Freikorps Epp, das sich bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik besonders hervorgetan hatte.

Gemeinsam setzten die Verschwörer die Regierung unter Druck und forderten, die vollziehende Gewalt müsse sofort dem Kommandeur der bayerischen Reichswehrdivision, General Arnold Ritter von Möhl, übertragen werden. Nur so könne die angeblich auch in Bayern bedrohte staatliche Ordnung wiederhergestellt werden. Die Stimmung beim entscheidenden Ministerrat am 14. März 1920 wurde durch ständig hereingereichte Polizeimeldungen über Verschärfungen der Sicherheitslage beeinflusst. Diese Meldungen kamen aus der politischen Abteilung der Münchner Polizeidirektion, deren Leiter Wilhelm Frick war, ein enger Vertrauter Pöhners. Vor dem Gebäude marschierten drohend Einheiten des Kampfverbands «Oberland» auf, eines der zahlreichen paramilitärischen Verbände, die in Bayern seit dem Sommer entstanden waren.[10] Von einer freien Entscheidung des Kabinetts konnte keine Rede sein. Ministerpräsident Hoffmann blieb als einziger standhaft: Mit 6:1 Stimmen übertrug der Ministerrat Möhl die vollziehende Gewalt. Hoffmann und die beiden sozialdemokratischen Minister traten noch am selben Tag von ihren Ämtern zurück.

Am 16. März 1920 wählte der Bayerische Landtag auf Vorschlag der Bayerischen Volkspartei Gustav von Kahr zum Ministerpräsidenten des Freistaats. Kahr bildete die erste bürgerliche Regierung seit 1918. Die SPD war nicht mehr beteiligt und blieb bis zum Jahre 1933 auf der Oppositionsbank. Im Gegensatz zum Kapp-Putsch wurde das bayerische Unternehmen mit begrenztem Ziel durchgeführt, brachte aber einen nachhaltigen Ruck nach Rechts.

Portrait des bayerischen Ministerpr‰sidenten Gustav Ritter von Kahr. Von Kahr hatte bei der Niederschlagung des Hitlerputsches 1923 einen groflen Anteil. Er war Mitbegr¸nder des Bayerischen Landesvereins f¸r Heimatpflege.

Unter militärischem Druck wählt der Landtag am 16. März 1920 Gustav von Kahr zum bayerischen Ministerpräsidenten. Unter Kahr rückt Bayern weit nach rechts und stilisiert sich zur «Ordnungszelle», aus der heraus das «jüdisch und marxistisch verseuchte Berlin» wieder auf den rechten Weg gebracht werden soll.

Das bayerische Bürgertum erwartete von Kahr «nicht nur die Liquidation der Revolutionsepoche, sondern die Wiederherstellung der vorrevolutionären Zustände. Dabei waren starke und ohne Zweifel tief verankerte monarchistische Erwartungen im Spiel.»[11] Man hatte auch die Hoffnung, unter Kahr als Ministerpräsident könnte die mit der Verabschiedung der Weimarer Verfassung verloren gegangene Sonderstellung Bayerns zurückgewonnen werden.

Er sei «eine ausgesprochen bürgerliche Gestalt, der Typus eines verdienten und erfahrenen bayerischen Verwaltungsbeamten der monarchischen Zeit», schrieb der zeitgenössische Historiker Karl Alexander von Müller über den ihm politisch nahestehenden Kahr: «kein rasch beweglicher Geist, ein Mann des bedächtigen Regelwegs – ohne herrscherlichen Ehrgeiz; ein Mann, dem die pünktliche, wohl auch die wegeweisende Verwaltung Lebensaufgabe und Freude ist».[12] Dem Bürgertum erschien Kahr als ein «Kabinettchef, wie man ihn aus der ‹guten alten Zeit› gewöhnt war, der Mann, der Ruhe, Sicherheit und Ordnung garantierte.»[13]

Ähnliche Charakterisierungen findet man häufig, sie entsprechen auch Kahrs äußerem Erscheinungsbild, aber sie passen nicht recht zum aggressiven politischen Kurs, den Kahr sofort gegenüber Berlin einschlug. Kahr unternahm keinerlei Versuch, durch Gespräche und Verhandlungen die Position Bayerns im Reich zu verbessern, sondern betrieb Fundamentalopposition gegen das angeblich marxistisch und jüdisch verseuchte Berlin. Unter Kahr wurde Bayern zur «Ordnungszelle» stilisiert, von der aus die nationale Wiedergeburt Deutschlands in die Wege geleitet werden konnte und musste. Kahr sah in den Einwohnerwehren mit ihren damals rund 300.000 Mann und in den anderen paramilitärischen Verbänden einen wesentlichen Pfeiler seiner Macht. Als die Reichsregierung gleich nach dem Kapp-Putsch die Entwaffnung aller Wehrverbände verfügte, lehnte Kahr das für Bayern rundweg ab. Er bot vielmehr all jenen Zuflucht in Bayern, denen in anderen Teilen Deutschlands der Boden zu heiß wurde. Zu den ersten, die nun nach München kamen, gehörte Kapitän Ehrhardt, nach dem die Berliner Polizei wegen seiner Beteiligung am Kapp-Putsch fahndete. In der Münchner Franz-Josef-Straße richtete Ehrhardt sein neues Hauptquartier ein. Die Thule-Gesellschaft half ihm dabei, seine Männer als Saisonarbeiter bei Landwirten in der Umgebung Münchens unterzubringen. Damit ihr militärischer Drill nicht verloren ging, traten sie in die Einwohnerwehr oder in einen der paramilitärischen vaterländischen Kampfverbände ein, die unter der Regierung Kahr immer stärkeren Zulauf fanden.[14]

Auch General Ludendorff setzte sich nach dem gescheiterten Putsch nach München ab. Er residierte nun in einer Villa im Nobelvorort Prinz-Ludwigs-Höhe, die sich schon bald zur Pilgerstätte und zum Sammelpunkt völkischer, antisemitischer und nationalrevolutionärer Gruppen und Aktivisten entwickelte, «die ohne ein festes Programm und ohne einen äußeren Zusammenhalt nur ein Ziel kannten: die Republik zu stürzen.»[15]

Ein anderer flüchtiger Kapp-Putschist war Dr. Max Erwin von Scheubner-Richter, «ein geschniegelter kleiner Mann und überzeugter Monokel- und Maßanzugträger. Der gebürtige Baltendeutsche wurde zum wichtigsten Verbindungsmann zwischen den völkischen Kräften Münchens und der großen Gemeinde weißrussischer Exilanten, die in der Stadt entstanden war.»[16]

Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich der Freistaat zum Rückzugs- und Aktionsraum völkischer, nationalrevolutionärer und nationalistischer Kräfte aus dem ganzen Deutschen Reich, und es ist schwer vorstellbar, dass dies ohne ausdrückliche Billigung des Ministerpräsidenten vonstatten gehen konnte. Viel spricht im Gegenteil dafür, dass Kahr schon als Ministerpräsident die Idee der «Ordnungszelle» Bayern sehr ernst nahm, aus der heraus das ganze Deutsche Reich wieder auf den rechten Weg gebracht werden sollte, und dass er dabei auch die Einwohnerwehren und die vaterländischen Verbände im Blick hatte.

Als die Entente Ende Juni 1920 die Entwaffnung der Einwohnerwehren forderte, stellte Kahr sich taub, und die Stimmung in Bayern kochte hoch. Auch als Ende September der Reichsentwaffnungskommissar die Abgabe der schweren Waffen verlangte, reagierte Kahr einfach nicht. Weder die Bestimmungen des Friedensvertrages schienen den bayerischen Ministerpräsidenten zu interessieren, noch mögliche Sanktionen bis hin zur Besetzung des Landes durch fremde Truppen. In ganz Bayern wurden in diesen Monaten zahlreiche geheime Waffenlager aus Beständen der Reichswehr angelegt. Nicht nur die schwarz-weiß-roten und die weiß-blauen vaterländischen Vereine erhielten immer mehr Zulauf, sondern auch die diversen paramilitärischen Kampfverbände. Bayern unter Kahr steuerte schon 1920 auf eine Kraftprobe mit Berlin zu – und die stärkste Partei im Landtag, die Bayerische Volkspartei, begab sich fürs erste in die Rolle des wohlwollend abwartenden Zuschauers.

Ganz anders Adolf Hitler, dessen Aktivitätsdrang keine Grenzen zu kennen schien. Hitler war am 31. März 1920 aus der Reichswehr entlassen worden, und am 8. Juli schied auch Hauptmann Mayr aus, aber Hitler war inzwischen auf dessen Führung und Unterstützung nicht mehr angewiesen. Er hatte neue Förderer gefunden, die seine politische Karriere voranbrachten.

Der zunächst wichtigste war zweifellos der schon erwähnte Dietrich Eckart, der 1913 durch die Heirat mit einer vermögenden Witwe zu Geld gekommen war und bei den Angehörigen der Münchner «besseren Gesellschaft» aus und ein ging. Eckart war Autor und hatte vor 1914 versucht, sich in Berlin als Dramatiker zu etablieren. Während des Krieges zog er nach München und fand hier in alldeutschen Kreisen eine geistige Heimat. Mit Unterstützung der Thule-Gesellschaft gab er nach Kriegsende die Wochenschrift Auf gut deutsch heraus, ein Sprachrohr antisemitischer Autoren. Hitler lernte er im Winter 1919/20 kennen und wurde für den zwanzig Jahre Jüngeren eine Art «väterlicher Freund». Eckart war ein guter und gewandter Gesellschafter und hielt äußerlich auf gepflegte Sitten. Er brachte dem gesellschaftlich unsicheren, von seiner Herkunft gehemmten und etwas linkischen Hitler sicheres Auftreten bei[17] und half ihm beim Verfassen seiner ersten Artikel. «Eckart war weit mehr als nur ein Begleiter Hitlers; er war sein wichtigster Mentor in den ersten beiden Jahren seines politischen Wirkens.»[18] Zwischen den beiden Männern entwickelte sich eine sehr enge Beziehung. Das «Prachtexemplar eines Altbayern mit dem Aussehen eines alten Walrosses»[19] war seit der ersten Begegnung vom rhetorischen Talent Hitlers überzeugt und erkannte dessen Potential als Propagandist der völkischen Sache. Eckart trug wesentlich dazu bei, die antisemitische und nationalistische Orientierung zu festigen, die bei Hitler im Lauf des Jahres 1919 immer deutlicher sichtbar wurde.

Eckart war für Hitler und die Partei aber auch als Geldgeber und Kreditvermittler von großer Bedeutung. Als Ende 1920 der Münchner Beobachter zum Verkauf stand, verpfändete Eckart «sein Haus und sein ganzes Hab und Gut», um der Partei den Erwerb der Zeitung zu ermöglichen. General Epp gab ein Darlehen von 60.000 RM aus einem Reichswehrfonds, für das Eckart bürgte, und so gingen der Münchner Beobachter und der Verlag Franz Eher Nachf. GmbH am Freitag, 17. Dezember 1920, ins Eigentum der NSDAP über. Der Kaufpreis betrug 120.000 RM.[20] Unter dem Namen Völkischer Beobachter erschien das Blatt nun als Parteizeitung der NSDAP. Nach zwei Kurzzeit-Chefredakteuren übernahm Eckart im August 1921 die Leitung der Redaktion. Trotz dieser engen Bindung an die Partei ist er aber offenbar selbst nie Mitglied geworden.[21]

Durch Eckart lernte Hitler Alfred Rosenberg kennen, der aus dem Baltikum stammte und im November 1918 nach München gekommen war. Rosenberg war ein fanatischer Antisemit, der hinter allem die «jüdische Weltverschwörung» am Werk sah. Für ihn war die russische Revolution ebenso ein Werk der Juden wie die deutsche.[22] Rosenberg trug wichtige Elemente zur Ausformung von Hitlers Antisemitismus bei. An Hitlers Reden lässt sich nachvollziehen, «wie er seit Sommer 1920 die Verhältnisse im revolutionären Russland immer mehr durch die Brille Rosenbergs betrachtete und sie mit der fixen Idee von einer ‹jüdischen Weltverschwörung› verknüpfte.»[23]

Auch der Student Rudolf Heß gehörte früh zu Hitlers Entourage, und auch ihn lernte Hitler über Eckart kennen. Heß stammte aus einem vermögenden Elternhaus, hatte sich 1914 wie Hitler als Kriegsfreiwilliger gemeldet und kam – wie viele aus seiner Generation – nach dem Krieg mit dem bürgerlichen Leben nicht zurecht. Er wurde Mitglied der Thule-Gesellschaft und war als Mitglied einer Bürgerwehr an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik beteiligt. Heß war geradezu krankhaft schüchtern und ein «geborener Gefolgsmann».[24] Er verkörperte den «zunächst eher noch seltenen Typus des gläubigen Jüngers»[25] und widmete sein Leben ganz der Sache Hitlers. Heß trat der NSDAP Anfang Juli 1920 bei.

Eine wichtige Persönlichkeit für Hitlers Entwicklung in München war auch Julius Friedrich Lehmann, der sein Geld als Verleger medizinischer Bücher verdiente. Lehmann hatte in München den Ortsverein des Alldeutschen Verbands mitgegründet, war ein in der Wolle gefärbter Antisemit und publizierte in seinem Verlag auch extrem rassistische und nationalistische Schriften. Hier erschien beispielsweise Houston Stewart Chamberlains zweibändige Schrift «Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts», mit der der britisch-deutsche Schriftsteller die ideologische Basis der völkischen Bewegung und des rassistischen Antisemitismus in Deutschland lieferte. Lehmann gab auch einen Wehrschatz heraus, der «zur Kräftigung und Festigung des Deutschtums an den Sprachgrenzen und im Auslande» beitragen sollte.[26] Seine Zeitschrift Deutschlands Erneuerung war ein wichtiges Publikationsorgan des Rechtsextremismus nach 1918.[27] Lehmann förderte Hitler nach Kräften und wurde später einer der ersten Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP.[28]

Noch bedeutsamer dürfte allerdings der Münchner Polizeipräsident Ernst Pöhner gewesen sein, der 1919 nach der Niederwerfung der Räterepublik ins Amt gekommen war, und mit ihm der Leiter der politischen Abteilung der Münchner Polizeidirektion, Oberamtmann Wilhelm Frick. Frick erklärte im Prozess gegen die Putschisten des 8./9. November 1923 in aller Klarheit: «Wir erkannten, dass diese Bewegung der Nationalsozialisten, die damals ja noch klein war – es wäre ein leichtes gewesen, sie damals noch zu unterdrücken, 1919 und 1920 – nicht unterdrückt werden dürfe. Wir taten das bewusst nicht, weil wir in ihr den Keim einer Erneuerung Deutschlands sahen, weil wir von Anfang an die Überzeugung hatten, dass diese Bewegung geeignet wäre, in der marxistisch verseuchten Arbeiterschaft wieder festen Fuß zu fassen und sie ins nationale Lager zurückzuführen. Deshalb hielten wir unsere schützende Hand über die Nationalsozialistische Arbeiterpartei und Herrn Hitler.» Kahr habe diese Haltung «stillschweigend geduldet». Als Kahr dann aber im Herbst 1921 ausschied, sei es nicht mehr möglich gewesen, die Praxis der «schützenden Hand» aufrechtzuerhalten.[29]

Hitler wusste nur allzu gut, was er den Unterstützern im bayerischen Polizeiapparat zu verdanken hatte. In Mein Kampf fand er lobende Worte für Pöhner und Frick, weil sie sich nicht gescheut hätten, «erst Deutsche und dann Beamte zu sein».[30] Frick zog als einer der ersten Nationalsozialisten in den Reichstag ein. Hitler hat Fricks Unterstützung nie vergessen und machte ihn 1933 zum Reichsinnenminister. Noch Ende März 1942 sang er im Führerhauptquartier ein Loblied auf Frick, der sich immer «tadellos benommen» und «mit seinen Fingerzeigen die Parteiarbeit im damaligen Umfang erst ermöglicht» habe.[31]

Wenn Frick im Prozess davon sprach, man habe Hitler zugetraut, «in der marxistisch verseuchten Arbeiterschaft wieder festen Fuß zu fassen und sie ins nationale Lager zurückzuführen», so brachte er ein zentrales Motiv für die Unterstützung der Nationalsozialisten zum Ausdruck, das weit über die Münchner Polizei hinaus galt. Das national-konservative Münchner Bürgertum musste staunend anerkennen, dass der «Volksredner» Hitler Menschen erreichte, zu denen kein anderer Zugang fand. Dass es sich dabei vor allem um verarmten Mittelstand und bedrohtes Kleinbürgertum handelte und nicht etwa um die klassische Arbeiterschaft, erkannte die «bessere Gesellschaft» nicht, sondern setzte ihre ganze Hoffnung beim Kampf gegen den «Marxismus» auf den Chefagitator der NSDAP.

Dass Hitler bei seinem Publikum so gut ankam, hatte nicht nur mit seinem rhetorischen Talent zu tun, sondern auch mit den Themen, auf die er regelmäßig zu sprechen kam. Zum Standardinhalt seiner Reden gehörte es, von der deutschen Vergangenheit in den herrlichsten Tönen zu schwärmen, die Gegenwart in den düstersten Farben zu schildern und die «Novemberverbrecher» für diesen Niedergang verantwortlich zu machen. Die Dolchstoßlüge war ebenso fester Bestandteil der Hitlerreden wie maßlose Polemik gegen den Versailler Vertrag, den «Schand- und Schmachfrieden», von dem Hitler behauptete, in 6000 Jahren Weltgeschichte habe es kein solches Diktat gegeben. An der Republik von Weimar ließ er kein gutes Haar, sprach von der «Lumpenrepublik», der «Berliner Judenregierung» oder der «Schieberrepublik»[32] – und traf damit genau den richtigen Ton für sein Münchner Publikum.

Das galt ganz besonders für das zentrale Motiv, das sich durch fast alle Reden zog: die Kampfansage an das Judentum. Dabei schlug Hitler die radikalsten Töne an und begeisterte damit seine Zuhörer. So hielt er am 20. August 1920 im Hofbräuhaus vor 2000 Zuhörern eine Grundsatzrede zum Thema «Warum sind wir Antisemiten?». Als er im Verlauf dieser Rede die «Entfernung der Juden aus unserem Volke» forderte, verzeichnete das Protokoll: «Stürmischer lange anhaltender Beifall und Händeklatschen». Insgesamt wurde der Redner während seiner zweistündigen Ausführungen 56-mal durch Beifall und Zustimmung unterbrochen. Ein Beobachter der sozialdemokratischen Zeitung Münchener Post kommentierte den Auftritt: «Eines hat Hitler los, das muss man ihm lassen, er ist der gerissenste Hetzer, der derzeit in München sein Unwesen treibt.»[33]

Ganz anders empfand das Hans Frank, der später große Karriere bis hin zum Generalgouverneur im besetzten Polen machte und noch später in Nürnberg angeklagt und hingerichtet wurde. Er besuchte im Januar 1920 als Neunzehnjähriger zum ersten Mal eine der Hitler-Veranstaltungen. In der Nürnberger Haft erinnerte er sich, dass aus Hitler seinerzeit der unbekannte Soldat des Weltkriegs gesprochen habe, der die Nöte und Wünsche seines Publikums teilte, dass er eine Aura des Wahrhaftigen und Authentischen verbreitete. «Das erste war, dass man fühlte: der da sprach, der meint es irgendwie ehrlich, der will nicht überzeugen von etwas, dem er selbst nicht ganz ‹traute› (…) Er sprach sich alles von der Seele und uns allen aus der Seele.»[34]

Hitler hatte schnell gelernt, effektvolle Propaganda zu entwerfen, mit der er die Massen mobilisieren konnte. Reden in kleinem Kreis waren seine Sache nicht. «Ich brauche Massen, wenn ich spreche», stellte er schon Anfang 1920 fest. Er brauchte «die orgasmische Erregung, die ihm nur die ekstatischen Massen gaben.» Er brauchte «die Befriedigung, die er aus den verzückten Reaktionen und dem wilden Applaus der jubelnden Menge zog».[35]

Was bei vielen den Eindruck erweckte, es komme tief aus Hitlers Innerstem, war allerdings in Wahrheit genauestens vorbereitet. Hitler war kein Stegreifredner, sondern notierte vorab auf rund einem Dutzend Bogen Stichworte und prägnante Parolen als Leitfaden für seine meist zwei- bis dreistündigen Reden.[36] Der Ablauf der Reden folgte einem strikt auf Wirkung berechneten Muster. In der Regel begann Hitler sehr ruhig, fast zögernd. In diesen ersten zehn Minuten «suchte er mit der Feinfühligkeit eines Schauspielers die Stimmung seines Publikums zu erspüren».[37] Sobald er sich der Zustimmung sicher war, lockerte sich seine Haltung. Er begann, seine Ausführungen durch ausdrucksstarke Gesten zu unterstreichen, zugleich wurden Tonart und Wortwahl aggressiver. «Je öfter Beifall und Zurufe aufklangen, um so mehr steigerte er das Tempo und die Lautstärke seines Vortrages.» Auf opponierende Zwischenrufe reagierte er mit Witz und Humor – und hatte die Lacher auf seiner Seite. Je länger Hitler sprach, desto mehr wurde sein Publikum «eine bis ins Innerste ergriffene Gemeinde», die ihm nach der Beendigung seiner Rede «begeistert und rückhaltlos Beifall zollte». Hitler selbst nahm jetzt «in Schweiß gebadet» die Glückwünsche seiner Anhänger entgegen.[38]

Hitler trat in München häufiger als jeder andere Redner auf. Im Jahr 1920 war er in den großen Münchner Brauereisälen 27-mal der Hauptredner und in mindestens sieben weiteren Versammlungen trat er als Kurz- oder Diskussionsredner auf. Noch war die NSDAP in München eine völkisch-nationalistische Gruppe unter vielen, aber Hitler nutzte all seine Möglichkeiten, für die Partei zu trommeln. Er war es, der mit seinem missionarischen Eifer, seiner Rednergabe und Überzeugungskraft regelmäßig Hunderte und später Tausende von Menschen in die Versammlungen lockte.[39]

Als es Hitler am 3. Februar 1921 gelang, 6500 Zuhörer im Circus Krone, Münchens größtem Saalbau, zu «glühender Begeisterung» mitzureißen, begann er selbst an sein Charisma zu glauben. Er sah sich nun als «Trommler» der kommenden nationalen Revolution. Drei Monate später empfing ihn Ministerpräsident von Kahr. Die NSDAP hatte einen Platz im politischen Leben der Stadt gefunden.[40] Mit seiner hämmernden Agitation gegen die Republik befand Hitler sich auch im Einklang mit der amtlichen bayerischen Politik. «Jetzt war er politisch salonfähig.»[41]