Der Anlass für den Einmarsch der Truppen ins Ruhrgebiet am 11. Januar 1923 war eher marginal. Die Reichsregierung hatte Ende 1922 um ein zweijähriges Moratorium bei den Reparationszahlungen gebeten. Die Regierungschefs der Alliierten hatten das abgelehnt. Deutschland war mit seinen Zahlungen im Rückstand. Es fehlten Kohlenlieferungen im Wert von 24 Millionen Goldmark, und von 200.000 Meter Telegrafenmasten waren erst 65.000 geliefert worden. Verglichen mit den bereits geleisteten Zahlungen von 1,48 Milliarden Goldmark war dies insgesamt kaum der Rede wert. Dennoch setzten Frankreich und Belgien Truppen in Marsch.
Die Besetzung sorgte in ganz Deutschland für helle Empörung, überall im Reich kochten die nationalen Emotionen hoch. Sofort wurde eine «nationale Einheitsfront» ausgerufen, die von den Deutschnationalen bis zu den Sozialdemokraten reichte. Hitler aber scherte aus. Am Tag des Einmarschs sprach er im Circus Krone zum Thema: «Nieder mit den Novemberverbrechern». Über die «nationale Einheitsfront» zog er nur verächtlich her. «Die deutsche Wiedergeburt nach außen ist erst dann möglich, wenn die Verbrecher zur Verantwortung gezogen und ihrem gerechten Schicksal überliefert werden». Das «Geschwätz von der Einheitsfront» sei nur geeignet, das Volk von dieser Aufgabe abzulenken.[1] Hitler nahm auch nicht an einer Kundgebung am 14. Januar in München teil, zu der die Vereinigung der vaterländischen Verbände aufrief. In aller Deutlichkeit demonstrierte der NSDAP-Vorsitzende, dass er inzwischen eine «eigenständige politische Rolle» beanspruchte.[2]
Aufruf zur NSDAP-Kundgebung am 11. Januar 1923, dem Tag der Besetzung des Ruhrgebiets. Hitler wird inzwischen als «unser Führer» angekündigt. Er verweigert sich einer nationalen Einheitsfront gegen die Besetzung und nutzt sie vielmehr für seinen Kampf gegen Demokratie und «Novemberverbrecher». Auf dem Flugblatt ist beim Datum irrtümlich von 1922 die Rede.
Die Reichsregierung proklamierte am 13. Januar eine Kampagne des «passiven Widerstandes». Die Beamten im Ruhrgebiet wurden angewiesen, die Anordnungen der Besatzungsmächte nicht zu befolgen. Alle Reparationslieferungen wurden eingestellt. Frankreich reagierte mit Verhaftungs- und Ausweisungsaktionen, um den Widerstand zu brechen. Der passive Widerstand schlug bald auch in aktive Widerstandshandlungen um, und die Reichswehr förderte den Kampf gegen die Besatzungsmächte nach Kräften. Sie stellte auch die Mittel bereit, mit denen im besetzten Gebiet Sabotageakte durchgeführt wurden. Der Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, handelte damit der offiziellen deutschen Politik zuwider, aber im Einvernehmen mit dem parteilosen Reichskanzler Wilhelm Cuno, Reichswehrminister Otto Gessler (DDP) und Arbeitsminister Heinrich Brauns (Zentrum).
Die Massen der Arbeiter und der katholischen Bevölkerung am Rhein, die den Ruhrkampf trugen, sahen «mit steigender Erbitterung und Angst», wie sie von der Regierung an eine «Militärherrschaft illegaler Verbände» ausgeliefert wurden.[3] Wiederholt wandte sich auch der badische Staatspräsident Remmele an Mitglieder der Reichsregierung und klagte über geheime Sabotagetätigkeit der Reichswehr im besetzten Gebiet. Nach seiner Überzeugung lasse sich mit jedem Tag deutlicher erkennen, wohin die sinnlosen Sabotageakte führten: «Die rechtsorientierten und die vorwiegend nur militärpolitisch eingestellten Kreise des deutschen Volkes sehen denn auch in der Entwicklung des Begriffes über den passiven Widerstand den Anfang zu einer militärischen Auseinandersetzung», schrieb Remmele am 27. Juni 1923 an Gessler.[4]
Seeckt war in diesen Wochen fest davon überzeugt, dass es zu einem Krieg kommen würde[5] und traf entsprechende Vorbereitungen. Beschleunigt wurden seit dem Februar paramilitärische Verbände aufgestellt und ausgebildet, die – natürlich gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrages verstoßende – «Schwarze Reichswehr» wurde zu einem wichtigen Bestandteil der deutschen Politik. Schon seit 1921 verfolgte Seeckt den Plan, die sieben Divisionen der Reichswehr heimlich auf zunächst 21 zu erweitern, und hatte Verbindungen zur russischen Roten Armee geknüpft. Mit deren Unterstützung wurden deutsche Offiziere und Techniker geschult und im Geheimen Aufrüstung betrieben. Das geschah zunächst mit dem Ziel, einen Revanchekrieg gegen Polen zu führen,[6] aber seit Januar 1923 stand ein Krieg gegen Frankreich im Zentrum der Überlegungen.
Einmarsch französischer Truppen mit Panzerwagen in eine Kleinstadt des Ruhrgebiets. Der unübersehbar militärische Charakter der gesamten Besetzung führt auf deutscher Seite zu massiver illegaler Aufrüstung. Die Reichswehrführung rechnet mit Krieg. Die Ausbildung paramilitärischer Verbände wird verstärkt. Zu ihnen gehört auch Hitlers SA.
«Seit Sonntag», notierte Seeckts Adjutant, Oberst Hans Harald von Selchow, am 7. Februar in sein Tagebuch, «sind einige hohe russische Militärs hier und verhandeln im Truppenamt. Ich erfahre nichts, so geheim gehalten werden diese Besprechungen. Immerhin vermute ich, dass wir in Russland weniger einen Verbündeten als ein Ersatzlager oder ein Hinterland mit Rohstoffen suchen, um die im Gang befindliche Aufrüstung zu beschleunigen. Die Aufrüstung geht weiter trotz aller Kontrollkommissionen, die unglaublicher Weise noch immer in Deutschland tätig sein dürfen.»[7] Am 14. Februar trug Seeckt dem Reichspräsidenten seine Rüstungspläne und seine auf Russland gesetzten Erwartungen vor. Eine Zusammenarbeit mit den russischen Bolschewiki war Ebert zutiefst zuwider, aber im Falle feindlicher Angriffe, äußerte er gegenüber Seeckt, «müsse sich Deutschland eben wehren, so gut es gehe.»[8]
Es waren wohl vor allem Fragen der Militärpolitik, die Seeckt veranlassten, sich am 11. März 1923 in München auf ein Treffen mit Hitler einzulassen, das General Lossow, der neue Kommandeur der VII. Reichswehrdivision vorgeschlagen hatte. «Hitler malte in berauschenden Worten ein unendlich schönes Bild des neuen Deutschland und versuchte, den General von Seeckt am Schluß auf seine Seite zu ziehen, indem er ihm ‹die Führung der gesamten Arbeiterschaft Deutschlands› anbot», erinnerte sich Seeckts Adjutant Selchow später. Seeckt hörte diesen Vortrag ohne Unterbrechung wohl 1 ½ Stunden an und fragte Hitler dann, wie er eigentlich zum Eid stehe. Hitler sprang von seinem Platz auf und rief in Ekstase geratend: «Wir werden dafür sorgen, dass die jetzige Regierung in Berlin an die Laternenpfähle des Königsplatzes vor dem Reichstag kommt, wir werden dafür sorgen, dass der Reichstag in Flammen aufgeht, und wenn dann das große Tohuwabohu da ist, dann werde ich mit der Bitte an Sie herantreten, die Führung der gesamten Arbeiterschaft Deutschlands zu übernehmen.» Danach, so Selchow, habe Seeckt sich erhoben und das Treffen beendet: «Von heute ab, Herr Hitler, haben wir uns nichts mehr zu sagen.»[9]
Ein Einvernehmen zwischen Seeckt und Hitler war nach diesem Treffen nur noch schwer vorstellbar, aber in Hitlers Augen war ohnehin München wichtiger. Hier hatte er schon Ende Januar gezeigt, dass er sich als Herr der Stadt fühlte. Ab dem 27. Januar hatte er einen dreitägigen Parteitag der NSDAP angesetzt, bei dem er auf 12 Massenkundgebungen sprechen wollte. Auf dem Marsfeld sollten 6000 demonstrativ aufgebotenen SA-Männern Standarten verliehen werden. Das ging in der aufgewühlten Situation des Januar 1923 selbst der bayerischen Regierung zu weit. Am 25. Januar verhängte sie den Ausnahmezustand über die Stadt und genehmigte Hitler lediglich die Hälfte der geplanten Versammlungen, und zwar in geschlossenen Sälen. Die Standartenweihe sollte nur im Gebäude des Circus Krone stattfinden, nicht unter freiem Himmel.
Hitler gab jedoch nicht klein bei, Röhm und Epp intervenierten zu seinen Gunsten bei Lossow, und der erreichte eine Lockerung der Verbote, nachdem Hitler ihm sein Ehrenwort gegeben hatte, keinen Putschversuch zu unternehmen und die öffentliche Ordnung nicht zu stören.[10] Alle zwölf Veranstaltungen wurden schließlich genehmigt, und Hitler ließ sich «in seinem neuen roten Mercedes-Cabrio von Veranstaltung zu Veranstaltung chauffieren.»[11] Die Standartenübergabe konnte vor dem Circus Krone auf dem Marsfeld stattfinden. Hitler hielt sich nicht einmal an die wenigen noch geltenden Einschränkungen und führte den Parteitag nahezu in der ursprünglich vorgesehenen Weise durch, ohne dass die Polizei einschritt. Während des Parteitags beherrschten marschierende SA-Kolonnen das Straßenbild, die Stadt schien sich in der Hand der Nationalsozialisten zu befinden.[12]
Die Polizei machte einen geradezu hilflosen Eindruck, schien unfähig, gegen Hitlers selbstherrliches Vorgehen einzuschreiten.[13] Der württembergische Gesandte berichtete nach Stuttgart, in München herrsche «mit Recht allgemein das Gefühl, dass die Regierung sich gründlich blamiert habe». Das Ansehen der Regierung habe «einen sehr bedauerlichen Stoß erlitten».[14]
Die aktivistischen Wehrverbände verstanden die Verhängung des Ausnahmezustands als Kampfansage der Regierung. Gleich am folgenden Tag, am 26. Januar, trafen sich die Führer von Bund Oberland, Bund Unterland, Verband der vaterländischen Bezirksvereine Münchens (VVM), Reichsflagge und SA und schufen eine neue gemeinsame Spitzenorganisation, die «Arbeitsgemeinschaft vaterländischer Kampfverbände». Hauptmann Röhm, «bevollmächtigter Führer des stärksten und geschlossensten Verbandes, der Reichsflagge», war der «Vater dieses Kindes».[15] Röhm hatte bis dahin eng mit Pittinger und dessen Bund «Bayern und Reich» zusammengearbeitet, kündigte ihm nun aber am 27. Januar die Gefolgschaft auf. Damit war eine Spaltung der vaterländischen Verbände in zwei Lager vollzogen, ein konservativ-nationales mit deutlichen weiß-blauen Anteilen und ein völkisch-nationalistisches, das unter den Farben schwarz-weiß-rot agierte – mit oder ohne Hakenkreuz. Die München-Augsburger Abendzeitung machte in einer Übersicht am 16. und 17. Mai 1923 die Differenzen zwischen den beiden großen Gruppen an zwei Merkmalen fest: Der Arbeitsgemeinschaft seien erstens «nur solche Verbände angeschlossen, die ausschließlich auf dem Boden des Wehrgedankens stehen und diesen Gedanken praktisch betätigen». Die Arbeitsgemeinschaft sehe zweitens «ihre Hauptaufgabe nicht so sehr in der Stützung der Regierung, als darin, die Regierung zu einer nationalen Politik beschleunigten Tempos zu treiben.»[16]
Die politische Führung der Arbeitsgemeinschaft war zunächst Kahr angeboten worden, der damals Regierungspräsident von Oberbayern war.[17] Als der ablehnte, fiel die Wahl auf dessen früheren Justizminister Christian Roth von der Bayerischen Mittelpartei. Roth übernahm die politische Führung der Arbeitsgemeinschaft. Im Herbst wechselte er zur NSDAP und nahm am Hitlerputsch teil. In der Putschregierung war er als bayerischer Innenminister vorgesehen.
Die militärische Führung der Arbeitsgemeinschaft wurde Oberstleutnant a. D. Hermann Kriebel übertragen, dem früheren Stabschef der Einwohnerwehr. Hitler hatte keinen unmittelbaren Zugriff auf die Arbeitsgemeinschaft, lief sogar Gefahr, seine direkte Verfügung über die SA zu verlieren. Röhm bekannte in seinen 1928 erschienenen Erinnerungen aber freimütig, sein Sinnen und Trachten sei allein darauf gerichtet gewesen, «Hitler die diktatorische politische und Kriebel die diktatorische militärische Führung in den Kampfbünden zu verschaffen.»[18]
Der Regierung Knilling teilte die Arbeitsgemeinschaft am 5. Februar ihre Gründung mit – verbunden mit der als Loyalitätserklärung verpackten Drohung, sie stehe «nach wie vor hinter einer Staatsregierung, die entschlossen national ist und bleibt.»[19]
Bereits im April kam es zu einem ersten Konflikt, als der Staatsgerichtshof in Leipzig aufgrund des Republikschutzgesetzes gegen den Herausgeber und den Schriftleiter des Völkischen Beobachters, Dietrich Eckart und Hermann Esser, sowie gegen Martin Weger, einen Redakteur des Miesbacher Anzeigers, Haftbefehle erließ. Die Arbeitsgemeinschaft forderte von der Regierung, dass sie den Vollzug von Haftbefehlen «gegen vaterländisch gesinnte Männer Bayerns ein für allemal ablehnt». Da die «sehr erregte Stimmung (…) zu unüberlegten Einzelaktionen» führen könne, verlangte die Arbeitsgemeinschaft eine Antwort noch im Laufe des nächsten Tages.[20] Knilling sah freundlich über die ultimative Form der Forderung hinweg und erklärte einer Delegation, auch er befürworte eine Aufhebung des Republikschutzgesetzes, halte es aber zurzeit für völlig aussichtslos, sich darum zu bemühen. Damit ließ sich die AG zufriedenstellen.[21]
Anders verlief der Konflikt, zu dem es am 1. Mai kam. Auf der Münchner Theresienwiese sollte auch 1923 die traditionelle Maifeier der Sozialisten und der Freien Gewerkschaften stattfinden. Sie war vom Innenminister bereits genehmigt, als die Arbeitsgemeinschaft die ultimative Forderung erhob, diese Kundgebung zu verbieten, da die Bevölkerung sie gerade am Jahrestag der Befreiung Münchens von der Räteherrschaft als Provokation empfinden müsse. Die Propaganda der Nationalsozialisten malte das Gespenst einer neuen Revolution an die Wand, der man entgegentreten müsse. Die Regierung lehnte ein Verbot der Maifeier ab. Darauf entschieden die Führer der Arbeitsgemeinschaft, am 1. Mai bewaffnet auf dem Oberwiesenfeld zu exerzieren und gewaltsam gegen die sozialistische Linke vorzugehen. Dazu benötigten sie ihre bei der Reichswehr eingelagerten Waffen, doch General Lossow untersagte deren Herausgabe am 30. April. Nun zeigte sich, wie weit die Reichswehr mit den Wehrverbänden bereits verquickt war: Lossows Verbot wurde nicht überall eingehalten. Besonders aus der geheimen Feldzeugmeisterei der Reichswehr, die Hauptmann Röhm verwaltete, wurden am frühen Morgen des 1. Mai Waffen an die vaterländischen Kampfverbände ausgegeben, die dann etwa 3000 Mann auf dem Oberwiesenfeld aufmarschieren ließen.[22]
Diesmal entschied sich die Regierung für eine härtere Gangart. Sie bot Landespolizei und Reichswehrtruppen von außerhalb Münchens auf und ließ die Verbände auf dem Oberwiesenfeld einschließen. Hitler und die Führer der versammelten Kampfverbände mussten klein beigeben. Sie ließen ihre Mannschaften zwar exerzieren, brachen aber das ganze Unternehmen ab, als die sozialistische Maifeier – ohne Zwischenfälle – beendet war. Die beteiligten Verbände mussten die Waffen wieder bei der Reichswehr abliefern und marschierten unter Hitlers Führung zum Bürgerbräukeller, «wobei sie von der Maifeier Heimkehrende verprügelten und deren rote Fahnen verbrannten.»[23]
Der 1. Mai 1923 endete ohne Tote und Verletzte, aber die Brisanz der Lage war offensichtlich: Die vaterländischen Kampfverbände hatten sich trotz eines klaren Verbotes bewaffnen können. Innenminister Schweyer veranlasste Ermittlungen gegen Hitler wegen Bildung bewaffneter Haufen (§ 127 StGB). Das hätte Hitler auf jeden Fall für zwei Monate hinter Gitter bringen können, da er im Januar 1922 wegen Landfriedensbruchs (§ 125 StGB) zu einer Gefängnisstrafe von drei Monaten verurteilt worden war, aber davon nur einen Monat abgesessen hatte und bis Frühjahr 1926 unter Bewährung stand. Als aber Hitler drohte, im Falle eines Prozesses über die geheime Zusammenarbeit seiner SA und der Kampfverbände mit der Reichswehr in der Öffentlichkeit auszupacken, erteilte Justizminister Franz Gürtner (Bayerische Mittelpartei) der Staatsanwaltschaft die Anweisung, den Antrag auf Eröffnung der Hauptverhandlung aus Gründen der «Staatsräson» auf eine «ruhigere Zeit» zu verschieben.[24]
Die bayerische Regierung hatte zu den vaterländischen Kampfverbänden eine zutiefst zwiespältige Haltung: Einerseits konnte und wollte sie erpresserische Aktivitäten nicht zulassen, um die Staatsautorität zu wahren. Andererseits sah sie in den vaterländischen Kampfverbänden «national wertvolle Elemente», wichtige Einsatzkräfte gegen den äußeren Feind und durchaus auch gegenüber Berlin, und versuchte die Verbände für die eigene Politik zu nutzen.
Die bayerische Reichswehrdivision arbeitete seit langem mit den vaterländischen Verbänden zusammen, seit Gründung der Arbeitsgemeinschaft ganz besonders mit den Kampfverbänden, die ihr angehörten. Theodor von Endres, erster Generalstabsoffizier im Stab der VII. Division, beschrieb diese Verflechtungen in seinen «Aufzeichnungen über den Hitlerputsch»: Vor dem 1. Mai 1923 waren «ganze Kompanien bei der nationalsozialistischen Partei eingeschrieben und Stoßtrupps der Reichswehr machten in zivil die Strafexpeditionen Hitlers tapfer mit. In den Kasernen wurden die Waffen der Rechtsverbände aufbewahrt und gepflegt, und Abend für Abend mühten sich Offizier und Unteroffizier in Überstunden ab, der nationalen Jugend militärische Kenntnisse beizubringen und sie mit der Waffe vertraut zu machen. Übungen der Verbände fanden am helllichten Sonntagvormittag statt, wobei trotz Ententekommissionen mit Waffen, die Führer hoch zu Pferde (welch letztere die Reichswehr stellte) durch die Leopoldstraße marschiert wurde.»[25] Endres betonte, «dass kurz vor dem 1. Mai 1923 zwischen der bayerischen Regierung und ihren Machtfaktoren, der Reichswehr und der Polizeiwehr einerseits und den vaterländischen Verbänden, Nationalsozialisten, Korps Oberland usw. andererseits, ein freundliches Verhältnis bestand, das allseitig getragen war von dem Bestreben, Krieg und Versailler Diktat in gut deutschem Sinne zu liquidieren.»[26]
Die Regierung Knilling trat den Verbänden auch nach dem 1. Mai keineswegs klar entgegen. Sie wollte Hitler nicht bekämpfen, sondern so weit zähmen, dass er für die politischen Interessen der politischen Rechten, der staatstragenden Kräfte in Bayern, nutzbar war. Und doch mussten die Ereignisse vom 1. Mai 1923 gewisse Konsequenzen nach sich ziehen. Am 4. Mai befahl Lossow Röhm zu sich, löste ihn von seinem bisherigen Posten ab und versetzte ihn nach Bayreuth.[27] Reichswehr und Kampfverbände sollten nach dem 1. Mai zunächst nicht mehr «ein Herz und eine Seele» sein,[28] aber die organisatorischen Fäden durften natürlich nicht abreißen, schon aus militärstrategischen und außenpolitischen Gründen. General Lossow forderte ab dem 23. Mai jedoch eine schriftliche Verpflichtung von den Verbänden und jedem einzelnen, der ausgebildet wurde: «Dafür, dass die Reichswehr es übernimmt, mich im Waffenhandwerk auszubilden, verpflichte ich mich: a) dem Aufruf des Landeskommandanten zum Dienst mit der Waffe ohne Vorbehalt zu folgen; b) nicht aufgerufen mich an keiner feindseligen oder gewalttätigen Handlung gegen die bayerische Reichswehr oder Landespolizei zu beteiligen; c) davon, dass ich von der Reichswehr (von dem Reichsheer) ausgebildet werde, nicht zu sprechen».[29] Nach anfänglichem Sträuben gaben die Führer der Kampfverbände – und auch Hitler – diese Erklärung ab.[30]
Für Hitler waren die Ereignisse des 1. Mai zweifellos ein Rückschlag, aber auch ein wertvolles Lehrstück. Sie zeigten ihm in aller Deutlichkeit vor allem eines: «Ohne die Reichswehr war er machtlos.»[31] Diese Lehre sollte Hitlers Verhalten im November entscheidend prägen. Zunächst aber zog er sich für einige Zeit aus der Öffentlichkeit zurück und reiste in die Abgeschiedenheit der Berchtesgadener Bergwelt, wo sich Dietrich Eckart schon seit längerem versteckt hielt, um sich einer drohenden Verhaftung zu entziehen. Damals, so hat Hitler später bekannt, habe er sich «ganz verliebt in die Landschaft».[32]
Während Hitler in der Berchtesgadener Landschaft Erholung von den Strapazen der permanenten Agitation und Propaganda suchte, verschlechterte sich die soziale Lage der Bevölkerung massiv – und von Woche zu Woche mehr. Der Prozess hatte nicht erst 1923 begonnen, sondern schon während des Krieges. Das Kaiserreich hatte im November 1918 eine bereits stark zerrüttete Währung hinterlassen. Die Staatsschuld hatte 1913 fünf Milliarden betragen und war bis 1919 auf 144 Milliarden angewachsen, denn die kaiserliche Regierung hatte den Krieg nicht etwa durch höhere Steuern oder andere Einnahmen finanziert, sondern durch eine langfristige Verschuldung des Staates. Auch nach 1918 wurde die Politik der Staatsverschuldung fortgesetzt. Statt Einnahmen und Ausgaben in Einklang zu bringen, wurde Papiergeld gedruckt und damit die Inflation immer mehr in Fahrt gebracht. Bereits 1921 hätte nur noch eine drastische Währungsreform helfen können. Im Dezember 1922 betrug das Defizit des Reiches 469 Milliarden.[33] Ein Tausendmarkschein reichte schon zum Jahreswechsel kaum mehr zum Bezahlen einer Straßenbahnfahrkarte.
Mit Beginn des passiven Widerstandes gegen die Besetzung des Ruhrgebiets mussten Millionen von «Zwangsarbeitslosen» unterstützt werden. Dazu kamen Kohlekäufe im Ausland, mit denen die Lieferungen von der Ruhr ersetzt wurden. All dies wurde finanziert durch Papiergeld aus der Notenpresse, was zu galoppierender Inflation führte und die ohnehin zerrüttete Währung vollends entwertete. Für einen US-Dollar mussten im Januar 1923 10.000 Papiermark bezahlt werden, im Juli 35.000 und im August 4,6 Millionen. Die Folgen der exorbitanten Teuerung waren für den größten Teil der Bevölkerung verheerend. Geldvermögen wurden innerhalb kurzer Zeit wertlos. Wer von früher Erarbeitetem oder Geerbtem lebte, das er auf einer Bank deponiert hatte, stand buchstäblich vor dem Nichts. Das traf die bürgerlichen Mittelschichten, vor allem das Kleinbürgertum, das häufig gezwungen war, Sachwerte wie Grundstücke oder Wertgegenstände zu verkaufen, ohne das Abrutschen in Armut und Not damit wirklich verhindern zu können.
Der Münchner Historiker Karl Alexander von Müller hat eindrucksvoll beschrieben, was sich in seiner bürgerlichen Umgebung abspielte: «Man sah im eignen Umkreis alte Bekannte, die erwerbsunfähig wurden, nach einem arbeitsreichen Leben darben und frieren; man sah Kinder vor Entbehrungen krank werden und Kranke aus Mangel an Notwendigem zugrunde gehen; man sah Familien fleißiger Menschen von einem generationenlang festgehaltenen Lebensstand ohne Schuld heruntersinken in Unsicherheit und drückende Armut. Es war nicht mehr möglich, sich darüber hinwegzutäuschen: dies war nicht das Los einzelner Unglücklicher, die unter die Räder kamen, es war eine ganze große Schicht des Volkes, die ohnmächtig hinabgedrängt wurde, mittlere Bürger, Handwerker und Kleinhändler, geistige Arbeiter und Künstler, frühere Offiziers- und Beamtenfamilien (…) Und nun fühlte sie, wie ihr, langsam aber unaufhaltsam, der gewohnte Lebensboden unter den Füßen weggezogen wurde, während neben ihr hartgesottene Schieber den papiernen Überfluss in gedankenlosem Genuss verschleuderten.»[34]
Die «Schieber», auf die Müller anspielte, waren die skrupellosen Profiteure der Inflation, die aus der Not vieler ihren ganz persönlichen Gewinn zogen. Zu ihnen gehörten nicht nur kleine Gauner, sondern auch große Unternehmer wie Hugo Stinnes. Männer wie Stinnes verstanden es glänzend, für den Kauf von Grundstücken und Industrieanlagen große Summen bei Banken aufzunehmen, die sie später lächelnd in entwerteter Währung zurückzahlten. Stinnes baute in dieser Zeit seinen «gigantischen Privatkonzern» auf, die Hugo Stinnes GmbH, die sechzig Unternehmen kontrollierte und auch die Rhein-Elbe-Siemens-Schuckert Union beherrschte, einen Riesentrust, der selbst an etwa fünfzig Unternehmen beteiligt war.[35] Stinnes und die anderen Männer seines Schlages profitierten so massiv von der Inflation, dass sie an einer Stabilisierung der Währung vorerst gar nicht interessiert waren.
Auch Landwirte gehörten zu den Gewinnern der Inflation. Sie konnten einerseits die Preise ihrer Produkte der Teuerung angleichen, andererseits konnten sie noch in Goldmark aufgenommene Hypotheken und Schulden – nach dem gesetzlich festgelegten Grundsatz «Mark gleich Mark» – jetzt in entwerteter Papiermark zurückzahlen.
Für die Arbeiterschaft versuchten die Gewerkschaften zu retten, was zu retten war, indem sie mit Hilfe von Tarifverträgen die Löhne an die Lebenshaltungskosten koppelten. So konnte die völlige Verelendung der Arbeiterfamilien verhindert werden, aber wer arbeitslos wurde, rutschte immer tiefer in Elend und Not. Die Gewerkschaften erkannten früh, dass die Politik des «passiven Widerstands» immer mehr zu einer Politik gegen die eigene Bevölkerung wurde, ohne dass sie gegenüber Frankreich erkennbar Wirkung zeigte. Einmal begonnen, war sie angesichts der hochgeputschten nationalen Emotionen jedoch nur schwer zu beenden. Gewerkschaften und Sozialdemokratie fürchteten zurecht eine neue Dolchstoßlegende. Der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, Theodor Leipart, brachte deshalb schon am 17. April 1923 eine Große Koalition ins Gespräch. Nur eine breit aufgestellte Regierung hatte nach seiner Überzeugung die Kraft und den Handlungsspielraum, die Konfrontation mit Frankreich zu beenden und den Konflikt auf dem Verhandlungsweg zu lösen.[36]
Am selben Tag hielt Gustav Stresemann, der Vorsitzende der Deutschen Volkspartei (DVP), im Reichstag eine Rede, die nicht weniger als das Symbol eines grundsätzlichen Kurswechsels war. Die DVP hatte sich 1919 nicht auf den Boden der Republik gestellt, sondern keinen Zweifel an ihrer Vorliebe für eine Monarchie gelassen. Mit seiner Rede präsentierte Stresemann sich nun «als Staatsmann der Weimarer Republik, als Träger dieser neuen Staatsform». Es ging ihm darum, «Gemeinsamkeiten auf breiter Ebene herzustellen» und «innenpolitische Gräben zu überwinden». Nach dieser Rede erschien eine Zusammenarbeit der DVP mit der Sozialdemokratie möglich, die bis dahin undenkbar war. Betrachtet man den Vorstoß Leiparts und die Rede Stresemanns gemeinsam, dessen Partei mehr als jede andere auch die deutsche Großindustrie repräsentierte, dann deutete sich eine Verständigung von Kapital und Arbeit zur Beendigung des «passiven Widerstands» bereits am 17. April an. Es sollte aber noch schmerzhafte und leidvolle Monate dauern, bis die Große Koalition, das Bündnis von SPD, Zentrum, DDP und DVP, realisiert werden konnte. Immer wieder kam es aufgrund der akuten Notlage in diesen Monaten zu Hungerunruhen und Plünderungen.
Viele der Arbeitslosen wandten sich der KPD zu, die von einer Splitterpartei zur Massenpartei geworden war, seit es im Dezember 1920 zur Spaltung der USPD gekommen und deren linker Flügel zur KPD gestoßen war. Schon im März 1921 hatte die KPD in völliger Überschätzung ihres Potentials und auf Weisung von Komintern-Gesandten einen Aufstand im mitteldeutschen Industriegebiet vom Zaun gebrochen, der von der preußischen Polizei innerhalb weniger Tage niedergeschlagen wurde. Im Sommer 1923 bescherte die wachsende Verzweiflung in der Arbeiterschaft der KPD neue Anhänger. Die Partei erzielte deutliche Stimmengewinne bei Wahlen zu Betriebsräten und Verbandstagen von Einzelgewerkschaften, in Stadtverordnetenversammlungen und Landtagen. Die KPD schaltete sich in viele der zahlreichen Streiks ein, die in diesen Monaten von Gewerkschaften organisiert wurden. Gelegentlich war sie auch Initiator von Ausständen. Teile der KPD-Zentrale und mehr noch die Komintern-Funktionäre in Moskau träumten angesichts dieser Bewegung von einer zweiten Revolution in Deutschland. Im August 1923 wurde im Exekutivkomitee der Komintern und im Politbüro der russischen KP über die «zunehmend revolutionäre Stimmung in Deutschland» beraten und schließlich festgelegt, dass die KPD auf eine Revolution im November hinarbeiten sollte.[37]
Eine wichtige Rolle war dabei Sachsen und Thüringen zugedacht. In Sachsen regierte seit 1919 die SPD, zunächst allein, dann im Bündnis mit der DDP und seit Dezember 1920 in einer Minderheitskoalition mit der Rest-USPD. Nach der sozialdemokratischen Wiedervereinigung im September 1922 wurde die SPD-Minderheitsregierung unter Ministerpräsident Wilhelm Buck zeitweise von den Kommunisten gestützt. Nach einem Misstrauensantrag gegen Buck wählten SPD und KPD im März 1923 den bisherigen Justizminister Erich Zeigner zum Ministerpräsidenten einer reinen SPD-Regierung. Zeigner war gerade einmal 37 Jahre alt und gehörte der SPD erst seit der Revolutionszeit an. Er war ein Akademiker mit Doktortitel, dem es darum ging, Versäumnisse der sozialdemokratischen Politik nach 1918 zu korrigieren, dem es Ernst damit war, die revolutionären Versprechungen von einem neuen, demokratischen Staat und die Hoffnungen auf eine «andere» Gesellschaft zu erfüllen.[38]
Als «überzeugter Pazifist»[39] hielt es Zeigner auch für dringend notwendig, in der deutschen Außenpolitik ein wirklich neues Kapitel aufzuschlagen. Kaum im Amt markierte die Regierung Zeigner – «sicherlich in grotesker Überschätzung ihrer Möglichkeiten» – wichtige außenpolitische Ziele. Sie plädierte dafür, den passiven Widerstand an der Ruhr möglichst bald zu beenden und ganz generell die Konfrontation mit Frankreich durch Kooperation zu ersetzen. Zeigner forderte, die Zusammenarbeit mit rechten Wehrverbänden und nationalistischen Kreisen zu beenden und die Reichswehr vollständig demokratischer Führung zu unterwerfen.[40] Dass sich Zeigner damit weder bei der Reichswehr noch bei den vaterländischen Wehrverbänden Freunde machte, liegt auf der Hand.
In Sachsen hatten Verhaftungen nach dem Reichsparteitag der NSDAP im Januar 1923 so viel republikfeindliches Material zutage gefördert, dass sich das Land von den Wehrverbänden und von Bayern bedroht sah, wo der «Marsch auf Berlin» immer mehr zum politischen Tagesgespräch wurde.[41] Bereits bei der Vorstellung seiner Regierung formulierte Zeigner am 10. April in der 29. Sitzung des sächsischen Landtags, seine Besorgnis im Hinblick auf die Festigung und Behauptung der Republik. «Über ganz Deutschland haben sich zahlreiche Organisationen verbreitet, die, verborgen oder offen, gegen die Republik, gegen die Arbeiterschaft hetzen. Mit Bitterkeit haben wir feststellen müssen, dass die Reichswehr sich nicht freigehalten hat von engen Beziehungen zu diesen reaktionären, faschistischen Organisationen. Sie, die der Republik dienen, sie schützen sollte, die gedacht ist als ein Machtinstrument der Republik, hat sich mehr und mehr zu einer Bedrohung der Republik entwickelt. In dieser Situation kann es zunächst einmal der Arbeiterschaft nicht verdacht werden, wenn sie, zum Schutze ihrer Versammlungen, ihrer Einrichtungen, ihrer Führer Abwehrmaßnahmen gegen Übergriffe putschistischer Elemente beschlossen hat. Aber nicht nur der Arbeiterschaft und ihren Einrichtungen droht Gefahr, die Republik selbst ist bedroht, sie kämpft um ihre Existenz.»[42]
Zu den Abwehrmaßnahmen, von denen Zeigner sprach, gehörten insbesondere «Proletarische Hundertschaften», die von der Regierung als Hilfspolizei aufgestellt werden sollten. Sie entwickelten sich rasch zu einem Stein des Anstoßes für weitreichende politische Konflikte. Vom Bürgertum und von Industriellen wurden sie als Bedrohung begriffen. Der Reichspräsident lehnte solche bewaffneten Selbstschutzorganisationen rundweg ab, in Preußen verbot sie Innenminister Severing (SPD) im Mai 1923 auf Grundlage des Republikschutzgesetzes.
Ein anderer permanenter Konfliktherd entwickelte sich aus Zeigners – völlig zutreffender – Kritik an der Zusammenarbeit der Reichswehr mit nationalistischen Wehrverbänden. In Gesprächen mit der sächsischen Staatsregierung sagte die Reichswehrführung Ende Mai zu, «die Kontakte zu republikfeindlichen Verbänden abzubrechen, ihnen keine Waffen mehr zu liefern, illegale ‹Selbstverteidigungsverbände› aufzulösen und der Landesregierung rechtzeitig Informationen über Truppenverschiebungen zukommen zu lassen.» Zeigner versprach im Gegenzug, die Reichswehr bei der Rekrutierung von Zeitfreiwilligen zu unterstützen und sagte zu, Rücksprache mit der Reichswehr zu suchen, bevor er sie öffentlich attackierte.[43]
Die Reichswehr unterstützte republikfeindliche Wehrverbände trotz dieser Vereinbarung weiterhin, und Zeigner kritisierte sie dafür, so auch in einer Rede am 7. August 1923, in der Zeigner die Reichswehr öffentlich – und wiederum völlig zutreffend – verdächtigte, Beziehungen zu rechtsradikalen Organisationen zu unterhalten. Der Befehlshaber des Wehrkreises IV, General Alfred Müller, brach daraufhin jeden Verkehr mit der sächsischen Regierung ab, und die Angelegenheit beschäftigte von nun an auch den Reichswehrminister, das gesamte Kabinett sowie den Reichspräsidenten. Schon zu diesem Zeitpunkt wurde die Regierung Zeigner zum roten Tuch für die Reichswehrführung, und Sachsen begann sich zum Problemfall zu entwickeln, der im Herbst akut werden sollte. Hier und im benachbarten Thüringen trat die KPD im Oktober in die bestehenden SPD-Regierungen ein.
Während die KPD von Not und Arbeitslosigkeit der Arbeiterschaft profitierte, schlossen sich Angehörige der von «Proletarisierung» betroffenen oder bedrohten Mittelschichten vielfach rechtsextremen, völkisch-nationalistischen Parteien und Bewegungen an. Das nutzte auch der NSDAP. Sie hatte zu Jahresbeginn 1923 etwas mehr als 20.000 Mitglieder. Bis November kamen 35.000 neue hinzu, so dass die Partei am Vorabend des Putsches etwa 55.000 Mitglieder besaß.[44] Maria Enders, Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle in der Münchner Corneliusstraße, berichtete später, der Andrang sei zeitweise so stark gewesen, dass sie kaum mit dem Ausfüllen der Karteikarten hinterherkam.[45]
Dieser anhaltende Zustrom half der Partei recht schnell über den Misserfolg am 1. Mai hinweg. Bereits zum 13. Deutschen Turnfest, das vom 14. bis 18. Juli mit etwa 250.000 Teilnehmern in München stattfand, wollte Hitler wieder alle Register nationalsozialistischer Propaganda ziehen. Bereits im Vorfeld war es zu einer Kontroverse über die Teilnahme jüdischer Sportler gekommen. Die Münchner Polizei hatte vorab das Zeigen von Parteifahnen und Armbinden, die die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei zum Ausdruck brachten, ausdrücklich verboten. Zum Auftakt sprach Hitler am 14. Juli bei einer Kundgebung im Circus Krone über «Fluch der Novemberrevolution. Internationale Sklavenkolonie oder deutscher Freiheitsstaat!» Während seiner Rede wurden entgegen dem polizeilichen Verbot nationalsozialistische Fahnen und Standarten entrollt und präsentiert. Die Polizei versuchte einzuschreiten, der leitende Polizeibeamte wandte sich auch direkt an Hitler. Der erklärte nur lapidar, er habe den Zirkus gemietet und könne darin machen, was er wolle. Die Polizei habe kein Recht, ihm im Zirkus das Entfalten von Fahnen zu verbieten. Die Polizei ließ die Sache auf sich beruhen. Es gelang ihr zunächst auch nicht, den ungenehmigten Demonstrationszug durch die Stadt zu verhindern, zu dem die Versammelten im Anschluss an die Kundgebung aufbrachen. In der Innenstadt griff die Polizei dann doch zu, löste den Zug auf und beschlagnahmte dabei eine der Standarten, die Hitler im Januar der SA verliehen hatte.[46] Während des gesamten Turnfestes beherrschten jedoch die Kampfverbände die Stadt und machten daraus eine «machtvolle Demonstration des erwachenden, völkischen Deutschlands».[47]
Zum wiederholten Mal verstieß Hitler damit in provozierender Weise gegen Auflagen von Polizei und bayerischer Staatsregierung – und wieder geschah nichts. In Baden, Preußen, Thüringen, Mecklenburg-Schwerin, Hamburg und Bremen war die NSDAP zu dieser Zeit verboten. In Sachsen waren Versammlungen und Aufzüge der Nationalsozialisten untersagt. Schon am 15. März 1923 hatte der 1. Senat des Staatsgerichtshofes des Deutschen Reiches diese Verbote der NSDAP, ihrer Gliederungen und Presseorgane bestätigt. Die bayerische Regierung Knilling interessierte dieses Urteil nicht. In Bayern genoss Hitler trotz aller Verstöße gegen behördliche Auflagen vollständige Handlungs- und Bewegungsfreiheit und nutzte sie intensiv, um durch massive Agitation und zahllose Veranstaltungen seine Partei voranzubringen.
Dabei spielte Hitler selbst im Lauf des Jahres 1923 eine immer bedeutsamere Rolle. Schon beim Parteitag im Januar war er als «Führer der deutschen Freiheitsbewegung» herausgestellt worden.[48] Immer häufiger ließ er sich nun als «Führer» der Nationalsozialisten bezeichnen, und am 20. April, Hitlers Geburtstag, machte der Völkische Beobachter mit der Balkenüberschrift «Deutschlands Führer» auf, darunter ein Gedicht Eckarts, dessen letzte Zeilen lauteten: «Die Herzen auf! Wer sehen will, der sieht!/Die Kraft ist da, vor der die Nacht entflieht!» Rosenberg jubelte in dieser Ausgabe über Hitlers Wirken, das von «Monat zu Monat reifer, größer und hinreißender» werde. Scharen Verzweifelter, die sich nach einem «Führer des deutschen Volkes» sehnten, blickten «immer erwartungsvoller auf den Mann in München».[49]
Hitler selbst sprach von sich in diesen Monaten zwar gelegentlich auch noch als «Trommler», dessen Aufgabe es sei, dem zukünftigen Führer den Weg zu bereiten, so wie er das auch in den beiden Jahren zuvor getan hatte, aber sein Selbstbild war 1923 dabei, sich zu ändern. Für diesen Prozess spricht auch sein Umgang mit dem Thema Fotografie. Bis zum Spätsommer 1923 existierte kein Foto, das Hitler zeigte. Es gehörte offenbar bis dahin zur Inszenierung seiner Persönlichkeit, denn er und seine SA haben peinlich darauf geachtet, dass der Führer der Nationalsozialisten nicht fotografiert wurde. Noch im April 1923 schlug Hitler in Berlin mit einem Stock auf einen Pressefotografen ein, der ihn abgelichtet hatte, bis der sich bereit erklärte, das Foto herauszugeben. Nach dem «Deutschen Tag» Anfang September in Nürnberg gab Hitler dann das Versteckspiel auf und meldete sich beim Fotografen Heinrich Hoffmann zur Porträtsitzung an. In der Berliner Illustrierten Zeitung vom 16. September 1923 erschien das erste gedruckte Hitler-Porträt mit dem Zusatz: «Adolf Hitler, der Führer der bayerischen Nationalsozialisten, der es bisher ablehnte, sich fotografieren zu lassen, aber nun seinem Prinzip untreu geworden ist.»[50] Schon die ersten Porträtaufnahmen Hoffmanns zeigten Hitler in der Pose der späteren Führerbildnisse – «mit einer forciert männlichen Haltung, verschränkten Armen oder herrisch in die Hüfte gestemmten Linken, mit zusammengezogenen Augenbrauen und zusammengepresstem Mund unter dem gestutzten Oberlippenbart. Körpersprache und Gesichtsausdruck demonstrieren Willenskraft, Entschlossenheit und Härte.»[51] Es war nicht der «Trommler», der da zu sehen war, sondern der «Führer».
Hitler sah sich bereits 1923 nicht mehr in der zweiten Reihe, sondern in der ersten. Wenn er sich im Lauf des Jahres Ludendorff immer mehr näherte, dem «legendären Feldherrn des Krieges», der in München die große Hoffnung der schwarz-weiß-roten vaterländischen Verbände war, dann ging es keineswegs darum, auf eine Diktatur Ludendorffs hinzuarbeiten. Ludendorffs Ansehen sollte vielmehr helfen, sich die Unterstützung der Reichswehr zu sichern. Ludendorff andererseits sah in Hitler lediglich den «politischen Berater, der die Massen zu mobilisieren verstand».[52] Die Rangordnung zwischen den beiden war keineswegs geklärt, aber in der Sache bestand weitgehende Einigkeit, jedenfalls über den nächsten großen Schritt, der jetzt zu machen war: den Marsch nach Berlin.
In seinen Erinnerungen an den Putsch und die Jahre davor schrieb Ludendorff lapidar: «Der Ruf: ‹Los von Berlin›, der bis dahin nur allzu oft in München zu hören war, wandelte sich in den Ruf: ‹Auf nach Berlin›.»[53] Er selbst war daran nicht unbeteiligt. Als Gegner jedes Separatismus arbeitete er nach Kräften dafür, dass Bayern seine «deutsche Aufgabe» erkannte und zu erfüllen suchte. Die reichspolitischen Entwicklungen in den Sommermonaten lieferten ihm dazu kräftigen Rückenwind.
Von galoppierender Inflation zu sprechen, war inzwischen eine maßlose Untertreibung, aber auch der Begriff Hyperinflation bringt nicht angemessen zum Ausdruck, was im Sommer 1923 in Deutschland stattfand. Musste man im August 4,6 Millionen Mark für einen Dollar auf den Tisch legen, so waren im November 4 Billionen fällig. Immer häufiger kam es im Sommer zu Unruhen, Streiks und Plünderungen. Unter solchen Bedingungen konnte keine Volkswirtschaft längere Zeit funktionsfähig bleiben. Klar war aber auch, dass eine Währungsreform nur gelingen konnte, wenn die aktuell maßgebliche Ursache des Währungsverfalls zuvor aus der Welt geschafft wurde. An einer Beendigung des «passiven Widerstands» führte jetzt kein Weg mehr vorbei. Was immer an Aktionen der nationalen Rechten, der vaterländische Verbände und der völkisch-nationalistischen Wehrverbände zu befürchten war: Es musste in Kauf genommen werden, um den völligen Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft und des Reiches abzuwenden. Je breiter die Basis war, auf die sich die Entscheidung zur Beendigung stützte, desto eher würde man alle Reaktionen und Folgeerscheinungen bewältigen.
Ab dem Spätsommer 1923 wird die zuvor schon galoppierende Inflation vollends zur Hyperinflation. Papierscheinbündel, für die man morgens noch Brot kaufen konnte, taugen am Nachmittag oft nur noch als Bauklötze für Kinder. Wenn die deutsche Wirtschaft gerettet werden soll, muss der Ruhrkampf beendet und die Währung saniert werden.
Diese Erkenntnis setzte sich in der SPD und in der DVP durch. Auch Hugo Stinnes, der auf dem Wirtschaftsflügel der DVP eine gewichtige Rolle spielte, bejahte die Bildung der Großen Koalition anfänglich, um die Verantwortung für diesen entscheidenden Schritt auf möglichst viele Schultern zu laden.[54] Die Mehrheit in beiden Reichstagsfraktionen signalisierte Anfang August 1923 Zustimmung für die Große Koalition, die Stresemann in seiner Aprilrede bereits in den Bereich des Möglichen gerückt hatte. In beiden Parteien gab es allerdings auch Widerspruch, in der DVP von Teilen des Wirtschaftsflügels, in der SPD vom linken Flügel der Fraktion, vor allem von ehemaligen Unabhängigen. Am 11. August beschloss die SPD-Fraktion, ein Misstrauensvotum gegen den parteilosen Reichskanzler Wilhelm Cuno in den Reichstag einzubringen. Die Sozialdemokraten waren zwar nicht an dessen Regierung beteiligt, aber Cunos bürgerliche Minderheitsregierung war auf ihre Unterstützung angewiesen. Am folgenden Tag trat Cuno zurück.
Bereits wenige Stunden danach beauftragte Reichspräsident Ebert den DVP-Vorsitzenden Stresemann mit der Kabinettsbildung. In der verzweifelten Lage des Reiches führte kein Weg mehr an Stresemann vorbei – auch nach Überzeugung des österreichischen Gesandten in Berlin: «Die Regierung der Großen Koalition ist die letzte Rettung, die Deutschland im Rahmen der Weimarer Republik aufzubringen vermag. Noch niemals hat eine Regierung ihr Amt in einem schwierigeren Augenblick übernommen als dem gegenwärtigen.»[55] Am 13. August wurde Stresemann zum Reichskanzler ernannt, einen Tag danach war die Regierungsbildung abgeschlossen.
Die Regierung hatte eine Fülle fast unlösbarer Aufgaben vor sich, von denen zwei absolute Priorität hatten: die Beendigung des passiven Widerstands und die Sanierung der Währung. Die Vorbereitung der Währungsreform überließ Stresemann weitgehend seinem Finanzminister Rudolf Hilferding (SPD) und den Fachleuten, die Beendigung des passiven Widerstands erforderte seinen ganzen Einsatz als Reichskanzler.
Jeder wusste, dass aufreibende und gefährliche Wochen auf die Koalitionäre zukommen würden. Stresemann und Reichspräsident Ebert sahen aufgrund der wirtschaftlichen Misere und der dramatischen Notlage der Ärmsten vor allem einen kommunistischen Aufstand drohen. In der SPD fürchtete man mehr einen Putsch von Rechtsaußen, womöglich mit Beteiligung von Einheiten der Reichswehr. Hermann Müller, Vorsitzender der SPD-Reichstagsfraktion und einer der beiden Parteivorsitzenden der SPD, appellierte gleich in seiner Rede zum Antritt des Kabinetts Stresemann am 14. August an die Reichswehr, sich nicht für die «volksfeindlichen parteipolitischen Zwecke» extremer Parteien missbrauchen zu lassen. «Ein neuer Putschversuch würde das Reich in seiner Folgewirkung sprengen. Mit dem Reich fiele auch die Reichswehr.» Die Reichsregierung habe deshalb unter allen Umständen dafür Sorge zu tragen, «dass kein Organ der Reichswehr Verbindungen zu illegalen Organisationen unterhält.»[56]
Das war nicht nur eine Aufforderung an die Regierung, sondern zugleich ein geradezu beschwörender Appell an die Reichswehrführung, nicht die Grundlage ihrer eigenen Existenz aufs Spiel zu setzen. Es war nicht nur die Erinnerung an den Kapp-Putsch von 1920, die in der SPD erhebliche Zweifel an der Republiktreue der Reichswehr wachhielt. Sorge bereiteten auch die intensive Zusammenarbeit mit demokratiefeindlichen, nationalistischen Wehrverbänden und die Infiltration der Reichswehr durch die extreme politische Rechte. Seeckt selbst unternahm wenig, um Zweifel an der Republiktreue der Reichswehr zu zerstreuen. Als im Kabinett die Frage an ihn gerichtet wurde, ob die Reichswehr zuverlässig sei, antwortete Seeckt: «Ob sie zuverlässig ist, weiß ich nicht, aber mir gehorcht sie.» Als einige Wochen später der Reichspräsident selbst, immerhin der offizielle Oberbefehlshaber der Reichswehr, im Rahmen einer Debatte Seeckt ziemlich erregt ansprach: «Ich möchte wirklich nun wissen, wo steht denn eigentlich die Reichswehr?» bekam Ebert von Seeckt die schroffe Antwort: «Die Reichswehr steht hinter mir.»[57]
Die Antwort war nicht gerade hilfreich und verbindlich, aber sie traf den Nagel auf den Kopf. Die Reichswehr gehorchte nicht ihrem Oberbefehlshaber – das war der Reichspräsident – und auch nicht dem Reichswehrminister, sondern dem Chef der Heeresleitung – und selbst das war nicht in allen Teilen der Truppe garantiert. Die Reichswehr fühlte sich in der Ära Seeckt lediglich einem «abstrakten Staatsgedanken» verpflichtet, nicht dem konkreten Staat der parlamentarischen Demokratie. «Das Offizierskorps betrachtete die Reichswehr als einen eigenständigen innenpolitischen Machtfaktor».[58] Seeckt selbst nahm als Chef der Heeresleitung von Anfang an für sich in Anspruch, die «Neutralität» der Armee, den «Staat im Staate» zu repräsentieren. Die ideologische Vorstellungswelt des Offizierskorps war geprägt durch Reste monarchistisch-obrigkeitsstaatlichen Denkens, das Gefühl der Demütigung durch die Niederlage und das System von Versailles sowie ein elitäres Sendungsbewusstsein. Man fühlte sich als Schutzherr des «Staatsganzen» gegenüber dem demokratischen Parteienstaat, den man in seiner Pluralität nur negativ sah. Die Reichswehr war 1923 keine republikanische Armee, sondern durchaus eine Gefahr für die Demokratie. Seeckt selbst besaß «keine Bindung an die Republik».[59]
Friedrich von Rabenau, Seeckts erster Biograf, war 1922/23 Offizier im Truppenamt, ab 1936 war er zuständig für den Aufbau eines eigenständigen zentralen Heeresarchivs. Seine 1940 erschienene Biografie atmete den Geist der Zeit, aber sie stützte sich zugleich auf umfangreiches Material in Seeckts Nachlass und beste Beziehungen zu dessen politisch wacher und von ihrem Mann stets eingeweihter Frau Dorothee – Seeckt selbst war 1936 gestorben. Folgt man Rabenau, dann war an der Spitze der Heeresleitung und auch bei Seeckt persönlich bereits zur Jahreswende 1922/23 der Gedanke aufgekommen, dass man zur «Rettung Deutschlands» die Demokratie beseitigen müsse – ganz ähnlich wie in der Ordnungszelle Bayern. Anfang 1923, so Rabenau, hatten sich in Berlin und München zwei Strömungen entwickelt, die im Grunde das Gleiche wollten, «nur in verschiedener Art». Dass die «Linksregierung» in Berlin beseitigt werden müsse, «war in München und Berlin gemeinsames Ziel.» Gemeint war, wohlgemerkt, die rein bürgerliche Regierung Cuno, die von der SPD gestützt wurde. Seeckt habe im Januar, so Rabenau weiter, die Macht für sich selbst angestrebt und eine Diktatur Seeckt für möglich gehalten.[60] In den folgenden Monaten hat sich Seeckts Haltung in dieser Frage modifiziert, und er hat über Lösungen mit Hilfe eines Direktoriums nachgedacht.
Zu einem akuten Problemfall entwickelte sich im Verlauf des Jahres die VII. Reichswehrdivision, die oft auch als die «bayerische» bezeichnet wird, obwohl es Heereskontingente wie zu Zeiten des Kaiserreichs in der Zeit der Republik nicht mehr gab. Die VII. Division war Teil der einheitlichen Reichswehr und unterstand ohne Wenn und Aber dem Befehl der Reichswehrspitze. Schon Anfang Januar hatte der Chef des Generalstabs der VII. Division, General Freiherr Otto von Berchem, Seeckt gemeldet, «auf die bayerische Reichswehrdivision sei kein Verlass mehr, sie werde nicht auf ‹Nationale› schießen.»[61] Je mehr die Bayerische Reichswehrdivision «ein Herz und eine Seele» mit den vaterländischen Wehrverbänden wurde, desto weniger war gewährleistet, dass sie Seeckts Befehlen bedingungslos gehorchte.
Lossow verfolgte als Kommandeur der VII. Division im Hinblick auf Hitler und die NSDAP eine Art Umarmungsstrategie. Über Lossows «Auffassung vom Nationalsozialismus» teilte der Vertreter der Reichsregierung in München, Gesandter Edgar Haniel von Haimhausen, dem Staatssekretär in der Reichskanzlei, Eduard Hamm, bereits am 29. Januar 1923 «Vertraulich. Persönlich» mit, der General sei der Meinung, «die ganze Bewegung sei so bedeutsam und so tragfähig, dass man sie eingehend studieren müsse. Gerade die besten und gebildetsten Elemente unserer heutigen hiesigen Jugend bekennten sich zum Nationalsozialismus.» Das könne man nicht von heute auf morgen aus der Welt schaffen. Es gelte deshalb «den Nationalsozialismus von den unzweifelhaft vorhandenen Schlacken und Auswüchsen zu reinigen, um den ebenso unzweifelhaft gesunden und erfreulichen nationalen Kern heraus zu schälen und zu erhalten. Dies sei aber nur durch enge Fühlungnahme gerade mit den Führern und den besten Elementen der Bewegung und durch aufklärende Arbeit unter diesen zu erreichen.»[62] Lossow, berichtete Haniel von Haimhausen weiter, sei auch der Auffassung, «in Reichswehr und Schutzpolizei stünden gerade die Tüchtigsten dem Nationalsozialismus in patriotischer Begeisterung innerlich nahe.»[63] Diese Stimmung in der bayerischen Reichswehrdivision und der Landespolizei bot Hitler und seiner NSDAP, aber auch den anderen paramilitärischen Wehrverbänden, geradezu ideale Entwicklungsmöglichkeiten.
Um den Zusammenhalt der nationalen und völkischen Gruppen zu kräftigen und gleichzeitig Stärke nach außen zu demonstrieren, führten die vaterländischen Verbände im Sommer und Herbst 1923 in verschiedenen bayerischen Städten «Deutsche Tage» durch. In der Regel handelte es sich vor allem um Heerschauen der völkisch-nationalistischen Bewegung.
Von besonderer Bedeutung war der «Deutsche Tag» in Nürnberg am 1./2. September 1923. Am Jahrestag des Siegs über Frankreich 1870 in der Schlacht bei Sedan fand in Nürnberg eine gewaltige Kundgebung statt – die Polizei schätzte 100.000 Teilnehmer. Der Regierungspräsident von Mittelfranken überbrachte zur Eröffnung die Grüße des Bayerischen Staatsministeriums, am zweiten Tag folgte der große Vorbeimarsch, der über zwei Stunden dauerte. Ludendorff, Prinz Ludwig Ferdinand von Bayern, Hitler, Pittinger, Hauptmann Adolf Heiß von der Reichsflagge, Friedrich Weber von Oberland und andere nahmen die Parade auf dem Marktplatz ab. Der Berichterstatter des Staatspolizeiamtes Nürnberg-Fürth geriet in schwärmerische Verzückung: «voran die Fahnen der alten Armee, begleitet von Landespolizei zu Pferd und zu Fuß, dann die Kriegervereine, Offiziersbünde und Vaterländischen Verbände. Die Straßenzüge waren in ein Meer von schwarzweißroten und weißblauen Fahnen gehüllt, brausende Heilrufe der Straßen, Gehsteige und Fenster in dichtgedrängten Massen füllenden Bevölkerung umtosten Ehrengäste und Zug, zahllose Arme strecken sich ihm mit wehenden Tüchern entgegen, ein Regen von Blumen und Kränzen schüttete sich von allen Seiten über ihn: Es war ein freudiger Aufschrei hunderttausender Verzagter, Verschüchterter, Getretener, Verzweifelnder, denen sich ein Hoffnungsstrahl auf Befreiung aus Knechtschaft und Not offenbarte.» Die Stadt sei erfüllt gewesen von «einer Begeisterung, wie sie Nürnberg seit dem Jahr 1914 nicht mehr erlebt hat.»[64]
Beim «Deutschen Tag» in Nürnberg nimmt Hitler (im Bild links) am 2. September 1923 auf dem Hauptmarkt einen Vorbeimarsch «vaterländischer» Verbände ab. Ganz selbstverständlich steht er in einer Reihe mit politischen und militärischen Würdenträgern. Mit 100.000 Teilnehmern wird die Nürnberger Veranstaltung zu einer großen Heerschau der weiß-blauen und der schwarz-weiß-roten Rechten.
Ludendorff forderte in Nürnberg öffentlich die Wiedereinsetzung der Hohenzollern, was in Bayern nicht ohne Widerspruch blieb. Der ehemalige Kronprinz Rupprecht meldete mit einer Rede am 8. September Führungsansprüche von Bayern an. Der monarchische Gedanke gewann jetzt in Bayern stark an Boden.
Mindestens ebenso bedeutsam war, dass der Deutsche Tag in Nürnberg zu einer noch stärkeren Verflechtung der drei stärksten Wehrbünde der «Arbeitsgemeinschaft vaterländischer Kampfverbände» führte. Reichsflagge, SA und Oberland schlossen sich zum «Deutschen Kampfbund» zusammen und gaben sich ein eigenes politisches Programm. Dessen Kern: «Wir bekämpfen vor allem die Schergen des äußeren Feindes: die marxistische Bewegung, die Internationale in jeder Form, das Judentum als Fäulniserreger im Völkerleben, den Pazifismus. Wir bekämpfen den Geist der Weimarer Verfassung, die Erfüllungspolitik, das parlamentarische System mit seiner öden Mehrheitsanbetung; wir sind Gegner der Herrschaft des internationalen Kapitals und des volkszerstörerischen Klassenkampfes.»[65]
Hermann Kriebel wurde militärischer Führer des Kampfbunds, Hitlers Gefolgsmann Max Erwin von Scheubner-Richter Geschäftsführer. Hitler selbst wurde drei Wochen nach der Gründung «dank der Winkelzüge Röhms» die «politische Führung» des Kampfbunds übertragen. Was mit «politischer Führung» in der Praxis gemeint war, blieb unklar. Es war jedenfalls nicht Hitler, der das «Aktionsprogramm» des Kampfbundes entwarf, sondern Scheubner-Richter. Dieses am 24. September 1923 präsentierte Programm enthielt strategische Elemente und stellte klar, dass vor der «nationalen Revolution» in Bayern die Stützen der Macht im Staat gewonnen werden müssten. Erst wenn Armee und Polizei auf der Seite des Kampfbundes seien, könne die «nationale Revolution» folgen.[66] Das war eine bedeutsame Festlegung, die bei der Beurteilung des Putschversuchs am 8./9. November zu berücksichtigen ist.
Den bayerischen Innenminister Franz Xaver Schweyer (BVP) beschäftigte im Zusammenhang mit dem Deutschen Tag in Nürnberg allerdings nicht die Gründung des Deutschen Kampfbundes. Er monierte gegenüber dem württembergischen Gesandten Moser, dass, «die Sozialdemokraten die Gelegenheit genutzt hätten, um die gar nicht bestehende Gefahr eines Putsches von rechts an die Wand zu malen, ihre Leute zu alarmieren und nach Nürnberg zum Schutz der Republik zu senden.»[67] Als am 1. September der Deutsche Kampfbund gegründet wurde, war Schweyers Partei längst dabei, den Schulterschluss mit den vaterländischen Verbänden zu suchen, bei denen der Name Kahr immer noch einen sehr guten Klang hatte.
Bereits im März 1923 hatte Moser von Filseck nach Stuttgart berichtet, die Bayerische Volkspartei plane, das neue Amt eines Staatspräsidenten zu schaffen. Ministerpräsident Knilling habe ihm bestätigt, dass dahinter der Wunsch stehe, «die durch den Rücktritt Kahrs enttäuschten Parteimitglieder durch die Hoffnung zu trösten, dass sie ihn als Staatspräsidenten wiedersehen würden». Die Idee eines Staatspräsidenten sei hier außerordentlich populär, habe Knilling ihm erläutert, «in ihr verkörpere sich das Verlangen nach dem starken Mann, den man angeblich brauche, um das Volk aus dieser schlimmen Zeit herauszuführen, und der Wunsch, der eigenen Staatspersönlichkeit Bayerns einen erhöhten Ausdruck zu verleihen.»[68] Zu diesem Zeitpunkt erklärte Knilling noch entschieden, er selbst werde «keinen Augenblick auf seinem Posten bleiben, wenn Herr von Kahr Staatspräsident würde.» Kahr sei nicht mehr der zuverlässige Charakter, der bescheidene, einfach denkende Mann, als den er ihn jahrzehntelang geschätzt habe, «der viele Weihrauch, der ihm gestreut worden sei, habe ihm den Kopf verdreht.» Knilling warnte im Gespräch mit Moser, Kahrs «Schwäche den rechtsradikalen Einflüssen gegenüber sei zu groß, und wenn er Staatspräsident werden sollte, wäre er nur eine Puppe in der Hand solcher Kreise.»[69]
Nach der Bildung der Großen Koalition in Berlin scheint der bayerische Ministerpräsident seine Meinung geändert zu haben. Als jetzt der Name Kahr als starker Mann mit diktatorischen Befugnissen massiv ins Spiel gebracht wurde, formulierte Knilling keine Bedenken, jedenfalls finden sich keinerlei entsprechende Hinweise. Bereits die Bildung der Großen Koalition brachte offenbar in Bayern die Gemüter derart in Wallung, dass man sich entschloss, den schwelenden Konflikt mit dem Reich zu eskalieren und wenn möglich für eine Änderung der Verhältnisse in Berlin zu sorgen. «Ende August», so die Aussage Friedrich Webers vom Bund Oberland am 27. Februar 1924 im Hitlerprozess, sei ihm «von dem Führer des Bundes Bayern und Reich, Herrn Sanitätsrat Dr. Pittinger, in eingehenden Besprechungen die Notwendigkeit der Bildung eines Generalstaatskommissariats mit dem damaligen Regierungspräsidenten von Oberbayern, Herrn von Kahr, als Leiter dargelegt worden!» In den «letzten Augusttagen» sei ihm «dann derselbe Plan im Justizministerium von einer zuständigen Stelle entwickelt worden». Am 3. September seien er und Hauptmann Heiß, der Leiter von Reichsflagge, daraufhin nach Mittenwald zu Ministerpräsident Knilling gefahren, um ihm zu erklären, «dass wir es selbstverständlich auf das lebhafteste begrüßen würden, wenn die gesamte Macht in Form einer Diktatur in Bayern in einer Hand vereinigt würde, dass wir nur große Bedenken gegen den Mann hätten, der uns hier an verschiedenen Stellen genannt worden war». Kahr trauten die beiden Wehrverbandsführer nicht den eisernen Willen und die rücksichtslose Durchsetzungskraft zu, die sie für notwendig hielten, damit «die deutsche Frage entscheidend in Angriff genommen und zu einer Lösung gebracht werden» konnte. Im Lauf des Septembers, so Weber weiter, sei er dann «von einer hohen, als Bayer für mich maßgebenden, entscheidenden Stelle» – eine Umschreibung für den früheren Kronprinzen Rupprecht – ebenfalls über die geplante Ernennung Kahrs zum Generalstaatskommissar informiert worden.[70]
Am 9. September berichtete der württembergische Gesandte nach Stuttgart, er habe vom Schriftleiter der Bayerischen Volkspartei-Korrespondenz, «der über die Stimmung innerhalb der Partei immer besonders gut informiert ist und dem Abgeordneten Held nahesteht», gehört, «man begegne hier dem Ministerium Stresemann mit großem Misstrauen, vor allem wegen des starken sozialistischen Einschlags.» Der Schriftleiter «vermöge dem Ministerium Stresemann kein langes Leben zu prophezeien und was dann komme, das werde noch schlimmer sein. Der Reichswagen rolle immer mehr dem Abgrund zu, man sei aber in Bayern nicht gesonnen, diese Fahrt bis ans Ende mitzumachen. Wenn man diesen Entschluss gefasst habe, so sei das noch lange kein Separatismus. Bayern wolle nicht vom Reich los, aber wenn in Berlin das Chaos komme, dann müsse Bayern bemüht sein, vom Reich zu retten, was noch davon zu retten sei, und man hoffe hier sehr, dass der ganze Süden sich zusammentue, um sich gegen einen bolschewistischen Norden abzuschließen und so einen Rest des Deutschen Reichs aufrechtzuerhalten.»[71]
Drei Tage später wurde Moser von Ministerpräsident Knilling empfangen, der ebenfalls über «den starken sozialistischen Einschlag» des Kabinetts Stresemann klagte, der in Bayern «sehr schwer ertragen» werde. «Wenn nun Stresemann scheitere und zurücktreten müsse, so könne man sich nichts anderes denken, als dass ein ganz aus Sozialdemokraten, womöglich unter Teilnahme von Kommunisten gebildetes Ministerium komme. Das sei dann der kritische Moment, wo es sich frage, ob man diese Politik weiter mitmachen solle, die ein Ende der Reichsverfassung bedeuten würde, oder ob man nicht versuchen solle, hier im Süden das Deutsche Reich zu erhalten. Wenn dieser Fall eintrete, so sei es besonders wichtig, dass es nicht von Seiten der Rechtsaktivisten zu einem Gewaltakt komme.»[72]
Am 18. September berichtete Moser nach Stuttgart, dass sich der BVP-Fraktionsvorsitzende Heinrich Held «kürzlich» mit dem Kronprinzen Rupprecht zu einer Besprechung getroffen habe, bei der es darum gegangen sei, wie Kahr «an eine einflussreiche Stelle in der Regierung» zu bringen wäre, ohne dass dadurch ein Regierungswechsel nötig würde. «Man kann sich das nur so denken, dass Herr von Kahr Staatspräsident oder eine Art Diktator werden soll, und zwar ohne dass das Ministerium Knilling zurückzutreten hätte.» Über die Hintergründe konnte auch Moser nur spekulieren: «Man hat hier das Gefühl, dass eine große Spannung herrscht (…) Man hört immer mehr von einer Trennung Bayerns vom Reich sprechen, die unvermeidlich sei. Natürlich wird sie nach Kräften beschönigt und als patriotische Tat im Interesse des Reiches hingestellt.»[73]
Während Mosers Berichte im September 1923 eher nach bayerischem Separatismus klangen, bezog Hermann Bauer, der Vorsitzende der «Vereinigung vaterländischer Verbände in Bayern», schon am 22. August entschieden die Gegenposition: «Was Bayern anlangt, so dürften bald Konflikte mit der Reichsregierung entstehen, die Bayern vor eine Schicksalsfrage stellen. Man glaube aber nicht, dass Bayern sich den Reichsgedanken verekeln lassen wird, im Gegenteil: (…) Wir werden der neuen Berliner Richtung nicht den Gefallen tun, uns egoistisch abzukapseln. Wir werden nicht rufen: Los von Berlin, sondern vielmehr: Auf nach Berlin! Wir werden da sein und wach sein, gestärkt durch den Sauerstoff unserer freien weißblauen Berge, und gegen die verderblichen Berliner Gasdämpfe werden wir mit schwarzweiß-roten Gasmasken ausgerüstet sein.»[74]
Ähnlich kampfentschlossen klang Ministerpräsident Knilling, als er am 16. September vor dem Bayerischen Bauernbund in Tuntenhausen sprach: «Unüberbrückbar stehen sich in Deutschland die national-germanisch-christliche und die international-marxistische Weltanschauung gegenüber. Der Kampf zwischen beiden wird früher oder später auszutragen sein. Dazu bedarf es nicht eines blutigen Bürgerkrieges, es genügt, wenn die vaterländische Bewegung in Deutschland so erstarkt, dass Gegenbewegungen nicht mehr aufkommen können.»[75] Das Drehbuch für die Politik Bayerns im Herbst 1923 war Mitte September offenbar schon geschrieben, und wichtige Akteure waren bereits mit ihren Rollen vertraut gemacht worden.
In einem Aufruf des Bundes Bayern und Reich vom 22. September hieß es: «Die Stunde ist da! In dem Augenblick, wo das Unheilgebilde von Weimar mit der Unerbittlichkeit der Naturgesetze den Weg all dessen getrieben wird, was nicht lebensfähig ist, ist die Zukunft des unsterblichen Reichsgedankens unserem Bayernlande zu treuen Händen überantwortet. Die Stunde, an die wir seit Jahren, leider mehr mit den Worten als mit ernstlichen Vorbereitungen gedacht haben, rückt heran; jetzt gilt die Tat.»[76]
In München machte sich immer mehr bayerisches Sendungsgefühl breit. Die Parole von der «deutschen Aufgabe Bayerns» berauschte. Da die politische und wirtschaftliche Lage des Reiches in Bayern als ausweglos angesehen wurde, sah man in einem «Losschlagen» Bayerns die einzige Chance, «um die Tür in eine bessere Zukunft aufzustoßen».[77]
Die Parole «Auf nach Berlin!» war in diesen Wochen keineswegs nur die Parole Hitlers und des Kampfbundes, sondern auch die der konservativ-nationalen vaterländischen Verbände, denen Kahr seit Jahren sehr nahestand. Es ist schwer vorstellbar, dass die Spitzen des Bayerischen Staates sich mit eben diesen Verbänden im Vorfeld über die Einsetzung von Kahr als Generalstaatskommissar besprachen, ohne dass die entscheidende Frage auf den Tisch kam: Wie geht es weiter mit Berlin? Viel plausibler erscheint, dass Kahr – allen Dementis zum Trotz – eingesetzt wurde, um die Empörung im nationalen Lager über die Beendigung des passiven Widerstands zu nutzen, um gegen die Reichsregierung vorzugehen und den Konflikt Bayerns mit dem Reich nachhaltig zu lösen – und zwar nicht durch eine Abspaltung Bayerns vom Reich.
Die offizielle Begründung, man habe durch die Ernennung des Generalstaatskommissars einem geplanten Putsch der Nationalsozialisten vorbeugen wollen, erscheint demgegenüber wenig glaubhaft. Ein isolierter Putsch Hitlers oder des Kampfbunds mag die Fantasie des einen oder anderen Bürgers und Politikers beschäftigt haben, aber er war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Er hätte nicht nur vollständig dem Aktionsprogramm des Kampfbundes widersprochen, in dem festgehalten war, dass man erst dann nach der Macht greifen könne, wenn Reichswehr und Polizei für die Sache gewonnen seien. Ein solcher isolierter Putsch hätte mit vorhersehbarer Sicherheit das Ende der nationalsozialistischen Bewegung bedeutet und war für Hitler aufgrund der Erfahrung vom 1. Mai 1923 undenkbar.
Während man in Bayern auf das Signal zum «Losschlagen» wartete, also die offizielle Beendigung des passiven Widerstands, spielten sich auch in der Reichspolitik besorgniserregende Entwicklungen ab. Stinnes meldete sich am 8. September mit einem Artikel in der Deutschen Allgemeinen Zeitung zu Wort, in dem er den Achtstundentag in Frage stellte, für Gewerkschaften und Arbeiterschaft eine der zentralen Errungenschaften der Novemberrevolution: «Das deutsche Volk muss, wo immer es Arbeit gibt, sofort mindestens zwei Stunden länger und mit mindestens der gleichen Intensität arbeiten wie vor dem Kriege. Das ist kein Opfer, das von dem arbeitenden Volke verlangt wird, sondern das Gebot der natürlichen Selbsterhaltung.»[78] Die Verlängerung der Arbeitszeit hatte Stinnes bereits Ende Oktober 1922 gegenüber dem US-amerikanischen Botschafter Houghton als Plan zur umfassenden Lösung des Reparationsproblems ins Spiel gebracht. 10 bis 15 Jahre lang sollte nach seinen Vorstellungen die Arbeiterschaft länger arbeiten, ohne dass dafür ein besonderer Lohnzuschlag gezahlt werden sollte. Streiks sollten für die Dauer von mindestens fünf Jahren verboten und als strafbare Handlungen betrachtet werden. Als Stinnes diese Vorstellungen am 9. November 1922 etwas abgemildert im wirtschafts- und finanzpolitischen Ausschuss des Reichswirtschaftsrates präsentiert hatte, waren sie in der sozialdemokratischen und kommunistischen Presse empört abgelehnt worden. Jeder Versuch, die Arbeitszeit wieder zu verlängern, wurde von der Arbeiterschaft als Versuch betrachtet, die Novemberrevolution rückgängig zu machen. Unter den Rahmenbedingungen des Herbstes 1922 konnte keine Regierung es wagen, ein solches Programm durchzusetzen.
Im Herbst 1923 war die Situation eine ganz andere, und Stinnes konnte einen neuen Vorstoß wagen. Am 15. September 1923 traf Stinnes erneut mit dem amerikanischen Botschafter zusammen. Sechs Tage danach erstattete Houghton dem State Department Bericht. Zu Beginn habe Stinnes erklärt, nun sei das Ende da, die Ruhr und das Rheinland müssten kapitulieren. Wenn Deutschland leben solle, müssten die Arbeiter länger und schwerer arbeiten. Er habe aber Zweifel, dass die Arbeiterschaft dieser Forderung nachkommen werde, sie müsse dazu gezwungen werden. «Deshalb, sagte er, muss ein Diktator gefunden werden, ausgestattet mit Macht, alles zu tun, was irgendwie nötig ist. So ein Mann muss die Sprache des Volkes sprechen und selbst bürgerlich sein, und so ein Mann steht bereit. Eine große, von Bayern ausgehende Bewegung, entschlossen die alten Monarchien wieder herzustellen, sei nahe. Ich fragte ihn, wie nahe, – und er sagte mir, vielleicht zwei bis drei Wochen entfernt. (…) Der Bewegung, sagte er, würden sich alle Rechtsparteien anschließen und eine ansehnliche Gruppe gemäßigter Männer in der Mitte, und sie würde in erster Linie einen Kampf gegen den Kommunismus bedeuten, da der kommunistische Flügel die Arbeiter zur Opposition treiben würde. Ich fragte ihn, ob die Industriellen sich mit der Bewegung vereinen würden. Stinnes erwiderte, dass sie das würden.»[79]
Stinnes hatte die Große Koalition nur notgedrungen zur Beendigung des passiven Widerstands befürwortet, weil er für diesen Schritt auch die Sozialdemokratie in die Verantwortung nehmen wollte. Kaum war die Entscheidung getroffen, «hatte aus seiner Sicht die Große Koalition ihren Zweck erfüllt und konnte durch eine industriefreundlichere Regierung ersetzt werden.»[80] Bereits in der Sitzung der DVP-Fraktion am 12. September griff Stinnes die Regierung Stresemann heftig an.
Der Herbst 1923 würde dramatische Auseinandersetzungen und Belastungen bringen. Das war bereits klar, noch bevor das Ende des passiven Widerstands am 26. September offiziell vom Reichspräsidenten und der Reichsregierung verkündet wurde. Lange hatte Stresemann darauf gehofft, irgendein Zugeständnis der französischen Seite erreichen zu können. Aber die Fronten waren hart geblieben. Stresemanns Vorgänger Cuno hatte gleich zu Anfang die Formel geprägt: «Keine Verhandlung ohne vorherige Räumung.» Frankreich und Belgien hatten sich festgelegt auf die Formel: «Keine Verhandlung ohne vorherige Aufgabe des passiven Widerstandes». Ein Weg zu einem Kompromiss war nicht erkennbar. Italien und Großbritannien hatten im Übrigen «die grundsätzliche Haltung Frankreichs in der Reparationsfrage gebilligt und Deutschland wiederholt nahegelegt, den passiven Widerstand aufzugeben.»[81] Woher sollte also Unterstützung im Lager der Siegermächte kommen?
Stresemann war sich aber zugleich darüber im Klaren, dass eine Beendigung des passiven Widerstandes ohne irgendwelche französischen Zusicherungen «von weiten und politisch mächtigen Teilen der öffentlichen Meinung Deutschlands nicht gebilligt und von den politischen Radikalen beider Richtungen ausgenutzt werden» würde.[82] Deshalb gab er die Hoffnung nicht auf, bis der britische Premierminister bei einem Paris-Besuch am 19. September demonstrativ den Schulterschluss mit Frankreich vollzog. Damit war klar, dass kein Weg an der «deutschen Kapitulation» vorbeiführte. Nun bereitete die Reichsregierung den bedingungslosen Abbruch des passiven Widerstands im Ruhrgebiet sorgfältig vor, unter anderem durch eine Konferenz mit den Ministerpräsidenten der deutschen Länder.
Bei dieser Konferenz wurde die unabwendbare Notwendigkeit des Abbruchs von allen Ministerpräsidenten anerkannt, auch von Knilling. Der allerdings betonte, dass durch die Besetzung des Ruhrgebiets der Vertrag von Versailles gebrochen worden sei und nun «nicht mehr als verbindlich angesehen werden dürfe.»[83] Das war kaum mehr als ein hilfloser und durchsichtiger Versuch, sich in München als Ministerpräsident präsentieren zu können, der nicht einfach nur «ja» gesagt hatte. Verantwortungslos war das Ansinnen zudem, weil eine entsprechende «Aufkündigung» des Versailler Vertrages völlig unvorhersehbare Reaktionen der Alliierten auslösen konnte. Für die Regierung Stresemann konnte es auch nicht ernsthaft zur Debatte stehen, da sie eine realistische Lösung des Reparationsproblems durch Verhandlungen erreichen wollte.
Die beim Abbruch des passiven Widerstands zu erwartenden Auseinandersetzungen betrafen ganz unmittelbar auch den Chef der Heeresleitung, denn nach Art. 160 des Versailler Vertrages war das Heer «für die Erhaltung der Ordnung innerhalb des deutschen Gebietes und zur Grenzpolizei bestimmt».[84] Schon am 10. September hatte sich Seeckt mit einem dramatischen Befehl an das Heer gewandt: «Wir stehen vor der größten Krise, die das Reich bisher durchgemacht hat. Nur durch die unbedingte und rücksichtslose Aufrechterhaltung der Staatsautorität wird diese Krise überwunden werden können. Die Abneigung des Soldaten, in den inneren Kampf einzugreifen und Polizeidienste zu verrichten, ist begründet. Sie darf aber nicht dazu führen, dass durch übermäßige Zurückhaltung der Truppe die Staatsautorität als solche aufs Spiel gesetzt wird.»[85]
Seeckt hatte, wenn er «die unbedingte und rücksichtslose Aufrechterhaltung der Staatsautorität» einforderte, wohl in erster Linie kommunistische Aufstände vor Augen. Das geht aus seinen Aussagen zum Gebrauch der Waffen hervor, die nicht den Kampf gegen paramilitärische Verbände unterstellten, sondern das Vorgehen gegen unbewaffnete Menschenmengen. «Eine Truppe, die schießt, löst die schwierigsten Aufgaben; ein Bataillon, das Gewehr bei Fuß steht, ist hilflos. Diese wichtigste Erfahrung der Revolutionskämpfe scheint manchen Stellen bereits nicht mehr bekannt zu sein. Zu meiner größten Überraschung habe ich in Berichten Wendungen folgender Art gelesen: ‹Die Truppe scheute sich, von der Waffe gegen die vorwiegend aus Frauen und Kindern bestehende Menge Gebrauch zu machen›, ‹die Truppe ließ sich ins Gedränge bringen› (…) Es muss in aller Deutlichkeit gesagt werden, dass ein Überhandnehmen derartiger Anschauungen letzten Endes zum Selbstmord der Staatsgewalt führen würde.»[86]
Der Chef der Heeresleitung, General Hans von Seeckt, entwickelt 1923 Ambitionen, allein oder mit einem Direktorium das Parlament auszuschalten und mit diktatorischer Macht zu regieren. Er versucht, Reichspräsident Ebert für seine Pläne zu gewinnen.
Die aktuellen politischen Entwicklungen forderten von Seeckt nach seiner eigenen Überzeugung aber auch, ganz persönlich, entscheidend zur «Rettung des Vaterlandes» beizutragen. Schon zu Jahresbeginn hatte er, wie erwähnt, mit dem Gedanken geliebäugelt, die parlamentarische Demokratie durch eine nationale Diktatur (unter seiner Führung) zu ersetzen. Im Lauf des Jahres sei Seeckt von der Vorstellung abgerückt, dass die Diktatur eines einzelnen die richtige Lösung für das Reich sei, berichtet sein Biograf Rabenau. «Er gewann den Eindruck, dass die Voraussetzungen dazu wahrscheinlich überhaupt noch nicht gegeben waren. Er hat auch eingesehen, dass für ihn selbst die Resonanz in weiten Volkskreisen nicht ausreicht. Er sah ebenso ein, dass zu dieser Zeit noch keine Persönlichkeit ausreichende Resonanz hatte. (…) Seeckt hat dann an ein Direktorium von mehreren Männern gedacht, darunter an den deutschen Botschafter Wiedfeldt in Washington und an eine hervortretende Persönlichkeit des Wirtschaftslebens, Minoux, vielleicht auch noch an diesen und jenen. Bis in die ersten Novembertage hinein hat Seeckt die Macht nun nicht mehr für sich, wohl aber für ein solches Direktorium angestrebt.»[87]
Offenbar war es Justizrat Heinrich Claß, der Führer des Alldeutschen Verbandes, der den Gedanken eines Direktoriums an Seeckt herangetragen hatte. Hinter Claß standen «Kreise des Großbürgertums, der Industrie, des Handels, der Bankwelt und der Großagrarier».[88] Im geplanten Direktorium sollten Wehrmacht, Wirtschaft und Staatsapparat zusammenwirken. In einem ersten Schritt ging es den Verschwörern um die «Stabilisierung des Staates als der Voraussetzung einer Wirtschaftssanierung, wozu sie die parlamentarische Reichsregierung mit ihrer Abhängigkeit von den Linksparteien nicht für fähig hielten.» Ihnen schwebte ein «von der Armee garantierter Ordnungsstaat mit letztlich recht eindeutig kapitalistischem Akzent» vor, «der dem kaiserlichen Vorkriegsdeutschland verzweifelt ähnlich sah».[89]
Auch aufgrund seiner Machtposition stand Seeckt im Mittelpunkt der Direktoriums-Bestrebungen, und so gaben sich, je näher der Abbruch des passiven Widerstands rückte, Politiker und Lobbyisten bei Seeckt die Klinke in die Hand. Am 23. September war Oskar Hergt, der Vorsitzende der DNVP, bei ihm. Er drängte Seeckt, eine führende politische Rolle zu übernehmen, ohne dass der sich in die Karten schauen ließ. Am 24. September besuchte ihn Claß, dem Seeckt erklärte, dass er «jedem Umsturz, ob von rechts oder links, mit allen Mitteln begegne.» Von da an galt Seeckt in diesen Kreisen als «Schildhalter Eberts». Am selben Tag empfing Seeckt auch Vertreter der Christlichen Gewerkschaften, die ihn baten, die Kanzlerschaft anzunehmen. Der General habe erklärt, sich einem «loyalen Angebot» nicht versagen zu wollen. Am 25. September erläuterte der Manager und frühere Stinnes-Vertraute Friedrich Minoux Seeckt sein Programm. General Otto Hasse, der Chef des Truppenamtes der Reichswehr, notierte: «Seeckt ist ganz benommen von dem gewaltigen Eindruck dieser Persönlichkeit.»[90]
Am Abend des 25. September schrieb Seeckt seiner Frau über den «bunten Wechsel der Gesprächspartner»: «Es ist wohl nirgends so wirr und aufgeregt wie hier, wo alle Narren zusammenlaufen und am liebsten bei mir. Einige Ausnahmen gibt es, aber nicht viele unter dieser allgemeinen Narrenzunft.» Später legte er nach: «Ich lasse mich nicht hetzen und brauche keinen Antrieb.»[91]
So ernst aber nahm Seeckt die Lage doch, insbesondere die in Bayern, dass er seiner Frau am 23. September nach München schrieb: «Es herrscht eine riesige Erregung und dem zu Folge Unsicherheit. Meines Erachtens über das Berechtigte hinaus, aber freilich die Lage spitzt sich zu, wie man sagt. Auch über die Zustände unten in Bayern herrscht natürlich Angst. (…) Nach langem Erwägen möchte ich Dir raten, an Deine Rückkehr zu denken. Ich sehe keineswegs schwarz; aber ich halte es doch für möglich, dass die Verhältnisse in den nächsten Tagen sich so entwickeln, dass Du Ihnen lieber von hier aus zusiehst …»[92]