Als die Regierung Stresemann am 26. September 1923 den Abbruch des passiven Widerstandes an der Ruhr bekanntgab, wurde das vom Großteil der deutschen Bevölkerung ruhig aufgenommen. Man hatte mit dieser Entscheidung nicht nur gerechnet, sie erschien angesichts der wirtschaftlichen Misere dringend geboten, um das Land nicht völlig im Chaos versinken zu lassen. Die Reallöhne der Arbeiter lagen inzwischen in vielen Branchen bei etwa der Hälfte des Vorkriegsniveaus. Der Hunger trieb vor allem Frauen und Kinder auf die Felder, wo sie sich mit Kartoffeln versorgten. Es gab Überfälle auf Bauernhöfe und Angriffe auf Marktstände. Lebensmittelgeschäfte, Bäckereien und Fleischereien wurden geplündert. Die materielle Not war demoralisierend, und die Angst der (noch) Beschäftigten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, schwächte die Organisationen der Arbeiterschaft außerordentlich. Der Frankfurter Bezirksleiter des ADGB, Miesbach, beklagte, das Brachliegen der gesamten Wirtschaft habe «eine sehr gedrückte Stimmung gegenüber den Gewerkschaften ausgelöst».[1] Die Inflation erreichte im November ihren Höhepunkt.
Wie nicht anders zu erwarten, löste der Abbruch des passiven Widerstands jedoch bei der politischen Rechten eine Welle massiver Proteste aus. Nationalisten jeglicher Couleur sahen in der Einstellung des Ruhrkampfes ein «zweites Versailles» und machten dafür den «sozialistischen Einschlag» der Reichsregierung verantwortlich, die mit dem «Verrat an der Ruhr» einer weiteren Kapitulation vor den Alliierten entgegensteuere.[2] Eine zweite Dolchstoßlüge machte schnell die Runde.
Besonders heftig waren die Reaktionen in Bayern, wo sowohl die Regierung als auch die vaterländischen Verbände jetzt den Zeitpunkt gekommen sahen, ihre Interessen massiv, auch mit der Androhung von Gewaltmaßnahmen und zur Not sogar mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Hitler, der Kampfbund und andere paramilitärische Verbände witterten die Chance, den erträumten «Marsch auf Berlin» anzutreten und mit den «Novemberverbrechern» abzurechnen. Die weiß-blau oder gemäßigt schwarz-weiß-rot orientierten vaterländischen Verbände wollten die Gelegenheit nutzen, Bayern zu stärken, in Berlin einen Regierungswechsel herbeizuführen, vielleicht sogar die Monarchie wiederherzustellen. Für die bayerische Regierung war darüber hinaus eine Neuordnung des Reiches im bayerischen Sinn von entscheidender Bedeutung: Rückkehr zu einem Staatenbund im Sinne des Bismarck-Reiches, nun aber mit einem starken, gleichberechtigten Bayern an der Seite Preußens. Gemeinsam verfolgten alle bayerischen Akteure als erstes Ziel die Beseitigung der «sozialistisch-jüdischen» Regierung Stresemann und die Errichtung einer «nationalen Diktatur».
Dieses Ziel hatten sie mit interessierten Kreisen «im Norden» gemeinsam. Da waren die Männer um Heinrich Claß und seinen Alldeutschen Verband. Es gab den «Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten», der den Deutschnationalen nahestand und eine ernstzunehmende paramilitärische Organisation darstellte. Franz Seldte hatte den Verband 1918 in Magdeburg gegründet und war seither dessen Vorsitzender, sein Stellvertreter war Theodor Düsterberg, der im Oktober und November Strippen ziehend in München unterwegs war. Militärisch noch bedeutsamer war der Bund Wiking von Kapitän Hermann Ehrhardt, eine Nachfolgeorganisation der Organisation Consul und der Marinebrigade Ehrhardt. Daneben arbeiteten honorige Herren auf die Errichtung einer nationalen Diktatur hin, die in diesen Kreisen allerdings meist «Direktorium» genannt wurde – gemeint war im Kern dasselbe: Der Reichstag sollte ausgeschaltet, die parlamentarische Demokratie beseitigt und der Einfluss des Volkes durch Wahlen eliminiert werden. Hugo Stinnes agierte in diesem Sinn und vertrat dabei auch die Interessen der Schwerindustriellen von der Ruhr. Besonders aktiv war Stinnes’ ehemaliger Manager Friedrich Minoux, der sich insbesondere um den Mann bemühte, ohne den «im Norden» nichts ging, um General von Seeckt, den Chef der Heeresleitung.
Seeckt stand dem Gedanken einer nationalen Diktatur bzw. eines Direktoriums seit langem positiv gegenüber, konnte sich gar nicht vorstellen, dass der Reichstag mit seinem Streit der Parteien den Karren aus dem Dreck ziehen könnte. Seeckts Staatsverständnis war vordemokratisch, seine Loyalität galt nicht der Weimarer Republik, nicht der Demokratie, sondern dem Reich, dem abstrakten deutschen Staat und dessen Einheit. Die Reichswehr verkörperte in seinen Augen den Staat und hatte dessen Existenz zu garantieren. Eine schlichte Machtübernahme durch einen Militärputsch war mit diesem Verständnis vom Staat und seiner bewaffneten Macht schwer zu vereinbaren, weshalb Seeckt in diesen entscheidenden Wochen stets nach Lösungen suchte, unter Wahrung der Staatsautorität in den Besitz der Macht zu kommen. Idealerweise konnte das geschehen, indem der Reichspräsident ihn zum Kanzler ernannte und ihn per Notverordnung nach Artikel 48 der Weimarer Verfassung mit diktatorischer Macht ausstattete.
Seeckt war keineswegs der Einzige in der Reichswehrführung, der auf eine national orientierte Diktatur hinarbeitete. Demokraten waren im Offizierskorps dünn gesät. Seeckt hatte durch seine Personalpolitik seit 1920 viel zu diesem Zustand beigetragen, aber er konnte sich dennoch nicht völlig sicher sein, dass tatsächlich die gesamte Reichswehr mit ihren sieben Divisionen ein zuverlässiges Instrument in den Händen seiner Führung sein würde – gerade in Krisenzeiten.
Neben den zahlreichen und mächtigen Gegnern von rechts waren Ende September auch die Kommunisten entschlossen, die extreme Krisensituation zu nutzen, um die parlamentarische Republik zu beseitigen. Eine zweite Revolution, ein deutscher «Oktober», sollte Deutschland zum neuen Zentrum der Weltrevolution machen und Entlastung für die noch immer bedrängte Sowjetmacht in Russland bringen. Es stand wahrlich nicht gut um die deutsche Demokratie, als die Regierung Stresemann am 26. September 1923 den Abbruch des passiven Widerstands bekanntgab.
Bayern reagierte noch am selben Tag mit der Verhängung des Ausnahmezustands, setzte Gustav von Kahr als Generalstaatskommissar ein und übertrug ihm die vollziehende Gewalt. Artikel 48, Absatz 4 der Weimarer Verfassung räumte einer Landesregierung das Recht ein, derartige Anordnungen «bei Gefahr im Verzuge» und als «einstweilige Maßnahmen» zu treffen. Er bestimmte auch: «Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstages außer Kraft zu setzen.»
Offiziell fiel die Entscheidung zu diesem Vorgehen in der Sitzung des Ministerrates vom 26. September, an der auch Lossow, Seißer, der Münchner Polizeipräsident, der Präsident des Landtags und – gegen Schluss – Kahr teilnahmen. Die wesentlichen Vorentscheidungen waren in den Parteispitzen der Regierungskoalition längst erfolgt, die jetzt den geeigneten Zeitpunkt für das lange diskutierte Handeln gekommen sahen. Nach bayerischer Auffassung lieferte die Beendigung des passiven Widerstands an der Ruhr eine überzeugende Begründung für die Maßnahmen, zu denen man sich bereits zuvor entschlossen hatte. Sämtliche vaterländischen Verbände, erklärte Knilling gegenüber dem württembergischen Gesandten, seien im Begriff gewesen, «in das Lager Hitlers überzugehen, und wenn man nicht rechtzeitig etwas dagegen getan hätte, so wäre die Gefahr eines Sturzes der Regierung in der Nacht von heute auf morgen eine sehr große gewesen.»[3] Später wurde in einer Denkschrift, die das Generalstaatskommissariat unmittelbar nach dem 9. November 1923 erstellte, konkret behauptet, es hätten Anzeichen dafür vorgelegen, «dass Hitler am 28.9. einen Staatsstreich versuchen wollte.»[4] Belege für diese Behauptung sind nie vorgelegt worden, und Hitler hat entsprechende Absichten stets bestritten. Weit mehr als es zum üblichen politischen «Geschäft» gehört, wurden in den entscheidenden Wochen des Jahres 1923 wahre Absichten verschleiert und falsche Fährten gelegt. Es wurde getrickst und gelogen, und es wurde Vorsorge getroffen für den Fall, dass am Ende doch alles schief gehen würde.
Kahr wurde bei seiner Ernennung zugesichert, er unterstehe als Generalstaatskommissar zwar dem Gesamtstaatsministerium, also der Regierung, bekomme aber für die Ausübung der vollziehenden Gewalt freie Hand. Ausdrücklich betonte man, dass er nicht nur Vollzugsorgan der Staatsregierung sei.[5] Die Staatsanwaltschaft hat im Hitlerprozess allerdings Wert darauf gelegt, dass Kahr nicht «die Stellung eines Diktators» gehabt habe. «Sein Machtbereich war nur ein Ausschnitt aus der Gesamtstaatsgewalt, die in der Hauptsache den ordnungsmäßigen Organen, dem Gesamtministerium und dem Landtage verblieb. Sein Machtbereich erschöpfte sich in der Ausübung der vollziehenden Gewalt und in den Anordnungen zur Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe und Ordnung.»[6]
Die Wahl war auf Kahr gefallen, weil dessen Name bei den vaterländischen Verbänden einen hervorragenden Klang besaß. Als Ministerpräsident hatte er ab März 1920 Bayern zu einem Eldorado des Rechtsextremismus gemacht und Berlin beharrlicher die Stirn geboten als seine beiden Nachfolger. Ihm traute man zu, die Verbände gemeinsam hinter sich zu sammeln. Darin sah auch Kahr selbst seine wichtigste Aufgabe. Kaum im Amt, ließ er am Vormittag des 26. September die Führer der vaterländischen Verbände zu sich kommen und forderte sie auf, sich ihm anzuschließen. Wer dazu nicht bereit sei, den betrachte er als Gegner. Alle stellten sich sofort hinter ihn – bis auf den Kampfbund. Dessen Geschäftsführer Scheubner-Richter erklärte, er habe zu einem solchen Schritt keine Vollmacht, sondern müsse erst eine Entscheidung der Kampfbundführung einholen. Darauf verbot Kahr kurzerhand 14 Versammlungen, auf denen Hitler am folgenden Tag in München sprechen wollte. Hitler tobte. Schon um die Mittagszeit schrieb er an Kahr: Dessen erster Akt sei ein Verbot der völkischen Freiheitsbewegung; er, Hitler, werde die Konsequenzen daraus ziehen. Der Münchner Historiker Karl Alexander von Müller, ein enger Vertrauter Kahrs, erlebte unmittelbar, was dann folgte. «Nachmittags, während ich da bin, schickt der Kronprinz den Chef seiner Verwaltung zu Kahr: dieser solle sofort an Hitler antworten: vollkommenes Missverständnis; er (Kahr) stehe selbst auf dem Boden der völkischen Freiheitsbewegung, das Verbot sei eine technische Polizeinotwendigkeit gewesen, im übrigen hätte Hitler am Vormittag selbst kommen sollen; diese Antwort sofort veröffentlichen.»[7] Kahr handelte entsprechend.
Bereits bei Kahrs Ernennung zum Generalstaatskommissar hatte der ehemalige Kronprinz Rupprecht eine entscheidende Rolle im Hintergrund gespielt. Nach einer Unterredung mit Rupprecht hatte der Fraktionsvorsitzende der BVP, Heinrich Held, den Anstoß zur Beauftragung Kahrs gegeben. Rupprecht war es auch, der durch sein klares Bekenntnis zu Kahr Ministerpräsident Knilling dazu brachte, seinen Widerstand gegen Kahr aufzugeben. «Im Kabinett des Kronprinzen bestätigte man dessen ausschlaggebenden Anteil an der Einsetzung Kahrs. Dieser betrachte sich loyal als dessen Stellvertreter.»[8]
Kahrs Aufgabe bestand offenbar nicht darin, Hitler und den Kampfbund von den «gemäßigten» Verbänden zu isolieren, die durch die Vereinigung vaterländischer Verbände in Bayern (VVVB) repräsentiert wurden. Er sollte ganz im Gegenteil die verschiedenen Strömungen wieder zusammenfassen und die vaterländische Bewegung in ihrer ganzen Breite hinter sich bringen. Die entscheidende Frage war: zu welchem Zweck? Während die bayerische Politik erklärte, Kahrs Aufgabe sei es, mäßigend auf die Verbände einzuwirken, Hitler und den Kampfbund von «Dummheiten» abzuhalten, sah man in Berlin Kahrs Ernennung und auch deren Begleitumstände als Alarmzeichen. Weder der Reichspräsident noch das Reichskabinett waren vorab von den Absichten der bayerischen Staatsregierung informiert, geschweige denn von ihr konsultiert worden. In einem Telefongespräch mit Knilling erklärte Stresemann am 27. September, dass sie «einigermaßen unangenehm dadurch überrascht worden seien, aus den Redaktionen der Presse von dem Beschluss der bayerischen Regierung zu hören.»[9]
Noch in der Nacht vom 26. zum 27. September tagten Reichspräsident und Kabinett im Beisein des Chefs der Heeresleitung. Berlin reagierte auf die Entscheidungen Bayerns mit einer Notverordnung des Reichspräsidenten nach Artikel 48 Abs. 2 der Weimarer Verfassung. Ebert verhängte den militärischen Ausnahmezustand und übertrug die vollziehende Gewalt dem Reichswehrminister, der sie an die militärischen Befehlshaber der sieben Wehrkreise delegieren konnte. Diese Lösung war offensichtlich nicht im Sinne Seeckts, von dem berichtet wird, bei einer späteren Besprechung mit Reichswehrminister Gessler und führenden Offizieren sei er «pikiert» beiseite gestanden. Gegenüber dem Chef des Truppenamtes, General Hasse, erklärte er vielsagend: «Wenn’s eine Komödie wird, komme ich überhaupt nicht, wird’s ein Drama, komme ich im 3. Akt.»[10] Die Nacht vom 26. zum 27. September brachte jedenfalls noch nicht Seeckts Auftritt.
Die nächtliche Entscheidung betraf nicht nur Bayern, sondern das gesamte Reichsgebiet und damit sämtliche Länder. Württemberg, Hessen und Baden protestierten mit unterschiedlichen Begründungen dagegen, einer Militärdiktatur unterworfen zu werden. Der badische Staatspräsident Remmele nannte es in einem Schreiben an Stresemann einen beschämenden Zustand, dass ein Offizier «als Vormund für eine vom Volk gewählte Regierung» ins Gebäude des Staatsministeriums gesetzt werde.[11]
Am härtesten betroffen war Sachsen, wo Gessler mit seiner Ernennung zum Inhaber der vollziehenden Gewalt «den entscheidenden Hebel» erhielt, «um den Konflikt mit Zeigner machtbewusst zu eskalieren und auszutragen.»[12] Gessler nutzte seine neue Machtposition sofort und übertrug seine Befugnisse auf General Alfred Müller, der sich als Befehlshaber des Wehrkreises IV bereits heftige Auseinandersetzungen mit dem sächsischen Ministerpräsidenten geliefert hatte. Damit begann ein kalter Krieg zwischen dem Reichswehrminister und dem Militärbefehlshaber auf der einen und der Sächsischen Staatsregierung auf der anderen Seite.
Für Bayern hatte die Übertragung der vollziehenden Gewalt auf den Reichswehrminister die Folge, dass nun aus der Perspektive des Reiches General Lossow als Militärbefehlshaber unmittelbar die Weisungen Gesslers auszuführen hatte, während nach den Vorstellungen Bayerns allein Kahr Inhaber der vollziehenden Gewalt im Freistaat war. Die konfliktträchtige Situation hätte theoretisch leicht aus der Welt geschafft werden können, indem der Reichspräsident nach Artikel 48 Abs. 4 der Weimarer Verfassung von der bayerischen Staatsregierung die Aufhebung des von ihr verhängten Ausnahmezustands verlangt hätte. Die SPD-Minister brachten das im Kabinett zur Sprache, aber der Kanzler und die bürgerlichen Kabinettskollegen winkten ab. Sie gingen davon aus, dass Bayern einer solchen Aufforderung nicht nachkommen würde, und hielten es für klüger, sie deshalb gar nicht erst zu erheben. Auch der Reichspräsident versprach sich nichts von einem solchen Schritt.
Am 27. September meldete sich der bayerische Ministerpräsident telefonisch beim Reichskanzler und versuchte, ihn zu beruhigen. Gegenüber Kahr sei kein Misstrauen angebracht, erklärte Knilling, auch wenn Kahr «spezielle Beziehungen zu Rechtsorganisationen habe» – so die Notiz Stresemanns nach dem Gespräch. Der Ministerpräsident «bat mich, davon überzeugt zu sein, dass Herr v. Kahr seine Aufgabe in vollkommen loyaler Weise erfüllen werde.» Stresemann dagegen führte nach eigenen Angaben «Rückwirkungen bei unseren eigenen rechtsradikalen Kreisen» ins Feld, denen man sofort vorbeugen müsse. «Nachdem in Nürnberg (beim Deutschen Tag am 1./2. September – WN) erklärt worden sei, dass die bayrischen Fäuste in Berlin Ordnung schaffen müssten, würden diejenigen Kreise im übrigen Deutschland, die eine solche Entwicklung wünschten, sich durch die Mitteilung über die Übergabe der Gewalt an Herrn v. Kahr angereizt fühlen und auch ihrerseits den Moment zum Losschlagen für gekommen erachten.»[13] Der Reichskanzler ließ sich von Knillings Beschwichtigungsversuchen nicht beeindrucken. Ihm war völlig klar, dass es hier um mehr ging als um eine Vorsorgemaßnahme gegen Übergriffe der vaterländischen Verbände, dass die Vorgänge in Bayern «erst die Anfänge einer Entwicklung waren, die eine tiefgreifende Veränderung anstrebte.»[14]
Hitler hatte dagegen Schwierigkeiten, die Einsetzung Kahrs als Generalstaatskommissar zu deuten. Anfangs waren er, Scheubner-Richter und Pöhner der Überzeugung, sie sei «die Kriegserklärung» an den Kampfbund.[15] Zu dieser Deutung passte das Verbot der 14 NSDAP-Versammlungen durch Kahr. Hitler ordnete deshalb noch am 26. September an, NSDAP-Mitglieder müssten aus allen Verbänden austreten, die nicht zum Kampfbund gehörten.
Andere Maßnahmen Kahrs sprachen jedoch eine andere Sprache. So traf in der Nacht vom 28. zum 29. September Kapitän Ehrhardt in München ein. Er war mit einem PKW der Reichswehr aus Tirol geholt worden, wohin er sich abgesetzt hatte, nachdem ihn Kameraden aus der Untersuchungshaft beim Staatsgerichtshof in Leipzig befreit hatten. Nach seiner Ankunft in München konferierte Ehrhardt mehrere Stunden mit dem Chef der Landespolizei, Oberst Seißer, der auch Chef der wehrtechnischen Abteilung im Stab des Generalstaatskommissariats war und bei Kahr residierte. Auch Kahr begrüßte Ehrhardt in jener Nacht. Bei späteren Vernehmungen und im Prozess bestritt Kahr, Ehrhardt nach München geholt zu haben. Bei seiner Vernehmung am 29. Dezember 1923 erklärte er: «Ich habe Ehrhardt in dieser Zeit nur einmal flüchtig zu Gesicht bekommen, ohne mit ihm ein politisches Wort zu wechseln.»[16]
Seißer stattete Ehrhardt mit einem polizeilichen Sonderausweis aus, denn der wurde noch immer vom Leipziger Oberreichsanwalt steckbrieflich gesucht. Nach Kahrs und Seißers Aussage übernahm Ehrhardt den Auftrag, mit seinem Bund Wiking als Notpolizei den Grenzschutz in Nordbayern gegen die «roten» Länder Thüringen und Sachsen zu verstärken. Nach Aussagen der anderen Beteiligten ging es bei Ehrhardts Auftrag um viel mehr. Ehrhardts Bund Wiking sollte Teil eines bewaffneten Potentials an der Nordgrenze Bayerns sein, «das im Falle eines aktiven Vorgehens gegen Norden zur Unterstützung herangezogen werden konnte.»[17]
Am 29. September traf sich Ehrhardt sowohl mit dem früheren Münchner Polizeichef Pöhner als auch mit Kriebel, dem militärischen Führer des Kampfbunds. Beiden teilte Ehrhardt mit, dass er sich mit seiner Organisation Kahr unterstellt habe. In beiden Gesprächen ging es vor allem um den erhofften Aufmarsch gegen Berlin. Bei seiner Vernehmung am 9. November 1923 gab Pöhner zu Protokoll: «Am Samstag den 29. September 1923 nachmittags suchte Ehrhardt mich in meiner Wohnung auf. Er war sehr erfreut darüber, daß nun endlich mit dem militärischen Vormarsch gegen Berlin ernst gemacht wird (…) Die Absichten Ehrhardts waren mir nichts Neues. Sie entsprachen dem, was Ehrhardt und ich schon vor Jahren mit einander erörtert und als das Zweckmäßigste befunden hatten, nämlich die deutsche Frage von Bayern aus aufzurollen und durch eine militärische Aktion gegen Berlin zur Lösung zu bringen. Die sämtlichen Beteiligten waren sich ebenso selbstverständlich klar darüber, dass die Aufstellung von Ehrhardt-Formationen an der bayerischen Grenze diesen Zweck verfolge und dass der Titel als bayerische Notpolizei nur den äußeren Deckmantel bilden sollte, um den Schein der Gesetzmäßigkeit zu wahren und um die Berliner nicht misstrauisch zu machen. Denn es war jedem klar, dass ein Mann wie Ehrhardt, dessen Organisation Wiking die bestausgebildete und am festesten gefügte Truppe in ganz Deutschland war, die ihr Hauptverbreitungsgebiet in Norddeutschland hat, nicht den Nachtwächter der bayerischen Grenze zwischen Coburg und Hof machen, sondern seine großdeutsch eingestellte Politik mit Waffengewalt durchführen wolle.»[18]
Ehrhardt wollte Pöhner bei seinem Besuch nicht nur ganz allgemein für Kahr gewinnen, sondern sah in dem ehemaligen Münchner Polizeichef den idealen Mann, der ihm in Nordbayern den Rücken freihalten könnte. Nordbayern war für Ehrhardt und seine Truppen beim beabsichtigten Vormarsch gegen Berlin als Aufmarschgebiet und als Etappe von größter Bedeutung und musste «von irgendwelchen Störungen (Generalstreik, Eisenbahnunterbrechungen, Sabotageakte)» freigehalten werden. Ehrhardt stellte sich vor, dass Pöhner als «Stellvertreter Kahrs für Nordbayern» für ihn Aufmarsch und Rückendeckung sicherstellen sollte.[19] Pöhner ließ unmittelbar nach dem Gespräch mit Ehrhardt durch Frick bei Kahr wegen eines Gesprächstermins anfragen.
Kahr selbst setzte bereits am 29. September den Vollzug des Republikschutzgesetzes in Bayern aus. Er erfüllte damit eine Forderung des Kampfbunds, deren Umsetzung Ministerpräsident Knilling im April verweigert hatte. Am selben Tag löste er die sozialdemokratischen und kommunistischen Selbstschutzverbände in Bayern auf, unterdrückte den Vertrieb der linksorientierten außerbayerischen Presse und verbot kommunistische Zeitungen sowie Streiks und Aussperrungen.
Durch einen Brief der drei bayerischen Offiziersverbände an ihre Mitglieder wurde am 29. September auch bekannt, dass der ehemalige Kronprinz Rupprecht sich mit dem «Wunsch und Befehl» an die Verbände gewandt hatte, «dass die ehemaligen Offiziere eingedenk ihres Fahneneids, sich rückhaltlos hinter Generalstaatskommissar Kahr und in militärischen Dingen hinter den Landeskommandanten General v. Lossow stellen, der sich bedingungslos dem Generalstaatskommissar zur Verfügung gestellt hat.»[20]
Bereits am folgenden Tag kam es zum Gespräch zwischen Kahr und Pöhner, bei dem auch Seißer, Frick und Kriebel anwesend waren. Kahr lehnte eine Stellvertreterposition für Nordbayern ab. Er sei nicht berechtigt, Stellvertretungen anzuordnen und seine Ermächtigung zur Ausübung der vollziehenden Gewalt zu delegieren.[21] Kahr bot Pöhner jedoch die Position eines Zivilgouverneurs in Thüringen und Sachsen an. Als Pöhner meinte, an solchen «politischen Lächerlichkeiten» habe er kein Interesse, erklärte ihm Kahr, dies «sei eine Aufgabe, die ihn nicht nur tage- und wochenlang, sondern Monate, vielleicht Jahre in Anspruch nehme.»[22] Auch in Kriebels Augen ging es in Sachsen und Thüringen keineswegs um «politische Lächerlichkeiten». Wie er später im Prozess aussagte, war für ihn als Soldaten völlig klar: «Wenn man nach Berlin marschieren will, dann muss man Sachsen und Thüringen fest in die Hand nehmen. Man kann solche Gebiete in dem Zustand, in welchem sie damals waren, nicht ohne besondere Vorsichtsmaßregeln im Rücken lassen.»[23] Kahr bat Pöhner zum Schluss, sich die Sache noch einmal zu überlegen. Die Aussprache endete «in harmonischer Weise», erinnerte sich Pöhner. «Ich hatte aus ihr die Bestätigung dessen erhalten, dass es Herrn von Kahr mit einer militärischen Aktion gegen Norddeutschland durchaus ernst war und dass er sich zu diesem Zweck meiner Zusage wegen meiner beabsichtigten Verwendung in Sachsen und Thüringen versichern wollte.»[24]
Am 2. Oktober traf Pöhner in dieser Angelegenheit Oberst von Seißer, den Landespolizeichef. Seißer versuchte noch einmal, Pöhner das Angebot Kahrs nahe zu bringen. Er werde Sorge dafür tragen, dass ein Offizier, mit dem Pöhner schon früher gut zusammengearbeitet habe, als Befehlshaber für die bayerischen Truppen in Sachsen und Thüringen aufgestellt werde. Als Pöhner darum bat, «als Machtmittel für Thüringen und Sachsen» Truppen des deutschen Kampfbundes zur Verfügung gestellt zu bekommen, lehnte Seißer ab, weil diese Truppen «weitermarschieren und durch andere ersetzt würden». Pöhner blieb bei seiner ablehnenden Haltung, weil er Kahr nicht «die nötige Kraft zum Durchhalten» zutraute.[25]
Am 1. Oktober war Kahr vor die Presse getreten und hatte sein Programm und seine bereits angeordneten Maßnahmen erläutert. Sein nächstes Ziel sei die Sammlung aller vaterländischen Verbände zur Schaffung einer festen und straffen Staatsautorität. Die ihm zugeneigten vaterländischen Verbände und der Kampfbund hätten das gleiche Ziel, so Kahr, nämlich ein starkes deutsches Vaterland. Über die Erreichung dieses Ziels könne man unterschiedlicher Meinung sein, aber er habe die Hoffnung, dass in der augenblicklichen Schicksalsstunde des deutschen Volkes nicht wieder, wie so oft in der deutschen Geschichte, Unterschiede und Trennungen im Wege stünden, die sich nachteilig auf das gemeinsame Ziel auswirkten.[26] Wichtig war es Kahr auch, den Gegner in aller Deutlichkeit zu benennen: «Bezüglich der Stellung zum Marxismus soll endlich einmal Klarheit geschaffen werden. Es gibt nur ein Rechts oder Links und von dieser klaren Entscheidung ausgehend kann niemals ein Kompromiss sondern nur ein Kampf und ein Austragen der Gegensätze zum Ziele führen. Dadurch ist die Stellung zum Marxismus klar gekennzeichnet.»[27]
Der württembergische Gesandte berichtete am 2. Oktober über Kahrs erste Aktivitäten nach Stuttgart: «Man hat das Gefühl, als habe er nur auf die Stunde gewartet, wo er in die erforderliche Machtvollkommenheit eingesetzt ist, um seine schon längst gehegten Absichten zu verwirklichen.»[28] Kahr selbst war in der Tat, wie Staatsrat Hans Schmelzle seinem alten Schulfreund Reichswehrminister Gessler versicherte, diesmal entschlossen, «es auf Biegen und Brechen ankommen zu lassen».[29]
Das Kabinett in Berlin wagte dem eigenmächtigen Handeln Bayerns nichts entgegenzusetzen. Gessler war wie Seeckt der Meinung, dass dem Reich die Machtmittel fehlten, um Bayern in die Schranken zu weisen und seine Position durchzusetzen. Die Reichswehr sei gegen Bayern nicht einsetzbar.
Aber nicht nur Bayern, auch das Unternehmerlager ging Ende September zum offenen politischen Angriff auf die Reichsregierung und die Sozialdemokratie über. Während in Bayern Kahr die Truppen für den Kampf gegen den «Marxismus» hinter sich scharte, beschlossen am 28. September die Zechenbesitzer im Ruhrgebiet, «unter Missachtung der gesetzlichen Bestimmungen und der Tarifverträge» die tägliche Arbeitszeit im Bergbau um eineinhalb Stunden zu verlängern. Sie schreckten auch nicht davor zurück, die französische Besatzungsmacht zur Abschaffung des Achtstundentags aufzufordern.[30] Die Neuregelung, die ab dem 8. Oktober gelten sollte, hätte eine Rückkehr zur Arbeitszeit bedeutet, wie sie vor dem Krieg bestanden hatte. Das war eine durchaus beabsichtigte Provokation für Gewerkschaften und SPD, die politisch durch flankierende Aktivitäten von Stinnes in der DVP-Fraktion begleitet wurde. Für Stinnes und seine Unternehmerfreunde hatte die Große Koalition mit dem Abbruch des passiven Widerstands ihren Zweck erfüllt und sollte nun möglichst rasch durch eine industriefreundliche Regierung ohne sozialdemokratische Beteiligung ersetzt werden. Die Arbeitszeitfrage bot sich dafür als idealer Hebel an. Aus Stinnes’ Sicht musste es zunächst gelingen, die gesamte DVP auf eine Zustimmung zur Verlängerung der Arbeitszeit festzulegen, dann ging es im zweiten Schritt darum, der Regierungskoalition und vor allem der SPD diese Entscheidung aufzuzwingen. Sollte dies scheitern, konnte man die Koalition mit den Sozialdemokraten beenden und eine neue Koalition unter Einbeziehung der DNVP bilden. Der Kampf gegen das Kabinett Stresemann hatte schon in der letzten Septemberwoche mit einer Pressekampagne gegen die SPD begonnen.
Die von Stinnes und dem rechten Flügel der DVP verfolgte Strategie war außerordentlich erfolgreich. Das zeigte sich, als das Kabinett am 1. Oktober beschloss, ein Ermächtigungsgesetz in den Reichstag einzubringen, das der Regierung erlaubte, ohne Zustimmung des Parlaments die zur Erhaltung der Wirtschaft notwendigen Maßnahmen auf wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischem Gebiet einzuleiten. Eine solche zeitlich befristete Ermächtigung war zweifellos sinnvoll, um der wirtschaftlichen Misere im Land begegnen und dringend notwendige Schritte zur Sanierung der Währung schnell unternehmen zu können. Nachdem jedoch die Arbeitszeitfrage von den Zechenbesitzern und Stinnes so massiv in den Mittelpunkt von Auseinandersetzungen gerückt worden war, konnte die SPD unter keinen Umständen einem Ermächtigungsgesetz zustimmen, das auch die Arbeitszeitfrage völlig ins Ermessen der Regierung gestellt hätte. Am 2. Oktober lehnte die Reichstagsfraktion der SPD es mit 61:54 ab, dass sozialpolitische Fragen durch das Ermächtigungsgesetz geregelt werden sollten. Die Fraktion der DVP beharrte aber genau darauf und ließ sich auch nicht auf einen Kompromissvorschlag der Sozialdemokraten ein. Stresemann sah nun keine Chance mehr, das Ermächtigungsgesetz zustande zu bringen. Am 3. Oktober 1923 erklärte er kurz vor Mitternacht dem Reichspräsidenten den Rücktritt seines Kabinetts.[31]
Gemessen an der schweren Regierungskrise erscheint fast nebensächlich, was sich am 1. Oktober in Küstrin abspielte, aber die Episode wirft doch ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Zustände im Reich. Aufgebracht über den Abbruch des passiven Widerstands im Ruhrgebiet planten Angehörige der «Schwarzen Reichswehr» einen Staatsstreich. Major a. D. Bruno Ernst Buchrucker und seine Männer hatten im Baltikum und in Oberschlesien gekämpft, waren nun aber nicht mehr reguläre Angehörige der Reichswehr, sondern offiziell als Zivilisten im Arbeitseinsatz für die Reichswehr tätig. Tatsächlich wurden sie weiter ausgebildet und danach mit der Pflege und Reparatur der Freikorps-Waffen beschäftigt, die von der Reichswehr verwahrt wurden. Buchrucker hatte bereits am 29. September mit 200 Mann versucht, das Berliner Regierungsviertel zu besetzen. Im Auftrag Seeckts beendete das Wehrkreiskommando III dieses Abenteuer sehr rasch, ließ aber Buchrucker entkommen. Der unternahm dann am 1. Oktober mit etwa 400 Mann den Versuch, die Festungsstadt Küstrin, etwa 70 Kilometer östlich von Berlin, in seine Gewalt zu bekommen. Gleichzeitig besetzte einer seiner Mitverschwörer mit mehreren Freikorpskompanien die Zitadelle von Spandau. Dem dilettantischen Putschversuch wurde von der Reichswehr rasch und ohne nennenswerte Kämpfe ein Ende bereitet.
In München bahnte sich derweilen eine Auseinandersetzung an, in der Kahr offenbar einen hervorragenden Hebel sah, um den Konflikt mit Berlin entscheidend zu verschärfen. Am 27. September hatte der Völkische Beobachter unter der Überschrift «Die Diktatoren Stresemann – Seeckt» über angebliche Diktaturpläne der Reichsregierung im Benehmen mit dem Reichspräsidenten und dem Chef der Heeresleitung berichtet. Höhere Offiziere der Reichswehr nähmen an, «dass Seeckt seine Partner über kurz oder lang beiseite schieben werde». Das Organ der NSDAP behauptete weiter, Seeckt sei «ein enger Gesinnungsgenosse des jüdischen Berliner Tageblatts» und warnte, «dass auch Seeckts Frau, gleich der Stresemanns, eine Jüdin ist und Seeckt politisch beeinflusst.»[32] Diese antisemitischen Angriffe nahm der Reichswehrminister als Inhaber der vollziehenden Gewalt zum Anlass, Druck und Vertrieb des Völkischen Beobachters zu verbieten. Er beauftragte General Lossow, seinen Militärbefehlshaber in Bayern, das Verbot zuzustellen und durchzusetzen.
Statt Gesslers Auftrag pflichtgemäß auszuführen, wandte sich Lossow in dieser Angelegenheit an Generalstaatskommissar Kahr. Der lehnte ein Verbot mit der am 4. Oktober schriftlich gefassten Begründung ab, dass dadurch «neue Spaltungen und Schwierigkeiten in der vaterländischen Bewegung entstehen» und bei einem Teil ihrer Verbände «Erbitterung gegen die Reichswehr» geschaffen würde. Das würde sein Ziel gefährden, «alle völkischen Kräfte zusammenzuschließen». Außerdem werde die bayerische Öffentlichkeit eine diesbezügliche Aktion der Reichswehr als Eingriff in die Polizeihoheit Bayerns und de facto als «Reichsexekution» empfinden.[33] Lossow weigerte sich, das Verbot des Völkischen Beobachters gegen den Willen Kahrs zu vollstrecken. «Das war ein klarer Fall von Befehlsverweigerung.»[34]
Als ob er der Provokation noch eine Spitze aufsetzen wollte, erließ Kahr am 4. Oktober aus eigener Machtvollkommenheit ein Verbot gegen den Völkischen Beobachter, weil das Blatt einen Aufruf mit dem Titel «Artilleristen! Macht feuerbereit!» veröffentlicht hatte. Der forderte Männer mit entsprechender Erfahrung dazu auf, sich «zum Artillerieregiment der Sturmabteilung der NSDAP in der Münchner Corneliusstraße 12 oder der Schellingstraße 39/I zu melden».[35]
In Berlin ging zu diesem Zeitpunkt der Machtkampf um die Regierung in die entscheidende Runde. Der Reichspräsident beauftragte Stresemann unmittelbar nach dessen Rücktritt am 3. Oktober wieder mit der Bildung eines Kabinetts. Das war ganz und gar nicht im Sinne von Stinnes und seinen politischen Freunden. Die Deutschnationale Volkspartei weigerte sich am 4. Oktober, in eine von Stresemann geführte Koalition einzutreten: «Wir verlangen endlich eine Regierung, die sich bewusst auf die nationalen Kräfte in allen Volksschichten stützt.»[36] Zentrum und DDP lehnten allerdings eine Koalition mit der DNVP ab. Eine Regierungsbildung schien unmöglich.
General Hasse, der Chef des Truppenamtes, riet Seeckt in diesen Tagen dazu, als Chef der Heeresleitung die vollziehende Gewalt zu übernehmen. Eine Diktatur Seeckts stand als konkrete Möglichkeit im Raum. Stresemann versuchte gegenzusteuern, verhandelte am 4. Oktober mit Seeckt über dessen Eintritt in ein neu zu bildendes Kabinett. Hasse beklagte Seeckts Zurückhaltung und meinte, seine Zeit «wird nicht kommen, wenn er nicht dafür kämpft.»[37]
In der Nacht vom 5. zum 6. Oktober gelang dann doch noch ein Durchbruch in der Arbeitszeitfrage. SPD, DVP, Zentrum und DDP verständigten sich darauf, grundsätzlich am Achtstundentag festzuhalten, verkündeten aber, dass eine Neuregelung der Arbeitszeitgesetze nicht zu umgehen sei. Im Hinblick auf diese Neuregelung gestand die SPD «die Möglichkeit der tariflichen und gesetzlichen Überschreitung der jetzigen Arbeitszeit im Interesse der volkswirtschaftlich notwendigen Steigerung und Verbilligung der Produktion» zu.[38] Damit war der Weg für eine Erneuerung der Großen Koalition frei. Für den Industrieflügel der DVP und die gesamte nationale Rechte war das eine schwere Niederlage, denn für den Moment war durch die Einigung der Weg zu einer Regierung der «nationalen Kräfte» versperrt. Dass die SPD über ihren Schatten sprang, hatte viel mit dem herrschenden Ausnahmezustand zu tun. Wenn sich jetzt eine Rechtsregierung gebildet hätte, wäre der Reichspräsident kaum in der Lage gewesen, den Ausnahmezustand gegen den Willen der Regierung aufzuheben. Folglich hätte eine Regierung der politischen Rechten den Ausnahmezustand nach Belieben gegen die sozialdemokratischen Regierungen in Sachsen, Thüringen und Preußen anwenden und die SPD ausschalten können. Verglichen mit diesem Schreckensszenario erschien die Große Koalition den Sozialdemokraten als das kleinere Übel.
Am 6. Oktober präsentierte Stresemann dem Reichstag sein neues Kabinett. Es war gegenüber dem vorhergegangenen nur an wenigen Stellen verändert, aber die Gewichte hatten sich deutlich nach rechts verschoben. Im Kabinett waren nur noch drei Sozialdemokraten. An die Stelle von Rudolf Hilferding war als Finanzminister nun der parteilose Hans Luther getreten. Neuer Minister für Ernährung und Landwirtschaft wurde der ostpreußische Rittergutsbesitzer Gerhard Graf von Kanitz, der kurz zuvor noch der DNVP angehört hatte.
Am 8. Oktober sprach der Reichstag dem Kabinett mit großer Mehrheit das Vertrauen aus. Fünf Tage danach wurde das Ermächtigungsgesetz mit mehr Stimmen als der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit verabschiedet. Dieses Gesetz, so war es ausdrücklich festgelegt, trat «mit dem Wechsel der derzeitigen Reichsregierung in ihrer parteipolitischen Zusammensetzung spätestens aber am 31. März 1924 außer Kraft».[39] Nach der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes vertagte sich der Reichstag auf unbestimmte Zeit. Am 16. Oktober wurde die Rentenbank errichtet und die «Rentenmark» eingeführt. Sie sollte ab 15. November gültiges Zahlungsmittel sein und die (Papier)Mark zum Kurs von 1:1 Million ablösen. Das war der entscheidende Schritt zur Sanierung der deutschen Währung.
Gleich die erste Sitzung des neuen Kabinetts am 6. Oktober nutzte Reichswehrminister Gessler, um sich der Zustimmung seiner Kollegen für ein noch schärferes Vorgehen gegen Sachsen zu versichern. Konkret war seine Absicht, das Zusammentreten des Sächsischen Landtags zu verhindern, dessen nächste Sitzung für den 11. Oktober anberaumt war, und das mit der selbstherrlichen, geradezu abenteuerlichen Begründung, «er halte es für unvereinbar mit seiner Stellung als Inhaber der vollziehenden Gewalt unter dem Ausnahmezustand, dass seine Person oder die Reichswehr als solche zum Gegenstand von Verhandlungen, insbesondere aber von Angriffen der zu erwartenden Art im Parlament eines Landes gemacht würde.»[40]
Gesslers Vorhaben hätte die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie im Freistaat Sachsen bedeutet. Die drei SPD-Minister hielten ein Einschreiten gegen den Sächsischen Landtag für rechtlich und politisch ausgeschlossen. Gessler drohte daraufhin mit seinem Rücktritt und erklärte, er könne dann auch «für die Haltung der Reichswehr keine Gewähr übernehmen.»[41] Als die Kabinettssitzung nach einer Unterbrechung fortgesetzt wurde, zeigte sich, dass Gessler auch das sächsische Kabinett absetzen und einen Reichskommissar an dessen Stelle setzen wollte. Für einen solchen Staatsstreich von oben waren weder der Reichskanzler noch der Reichspräsident zu gewinnen – jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Gessler sah sich gezwungen einzulenken.
Es zeigte sich nun schmerzhaft deutlich, was für ein folgenschwerer politischer Fehler der Sozialdemokraten es gewesen war, nach der Entlassung Noskes keinen eigenen Kandidaten als Nachfolger aufbieten zu können und das Amt des Reichswehrministers Gessler zu überlassen. Gessler gehörte in den Krisenmonaten 1923 wahrlich nicht zu den Verteidigern der Demokratie, sondern war im Hinblick auf Sachsen und Thüringen bereit, hemmungslos alle demokratischen Grundsätze beiseitezuschieben. Er war mit Sicherheit «nicht die geeignete Persönlichkeit, um die Reichswehr als einziges Machtmittel deutscher Innenpolitik zu führen und Disziplinlosigkeiten in ihr zu unterbinden.»[42] Wie weit er dabei nicht nur im Geist der Reichswehrführung handelte, sondern in deren Auftrag, ist kaum zu beurteilen. Gesslers Initiative vom 6. Oktober entsprach jedenfalls exakt den Plänen der Reichswehrführung für Sachsen.
Seeckts großer Gesamtentwurf galt allerdings nicht einem einzelnen Land, sondern dem Reich. Der Chef der Heeresleitung formulierte in diesen Tagen eigenhändig «Ein Regierungsprogramm» und daneben einen Text mit dem Titel «Regierungserklärung», der den Charakter einer Proklamation hatte. Beide Texte sind nicht mit einem Datum versehen, können jedoch frühestens Ende September entstanden sein, spätestens Ende Oktober. Meist werden sie auf Ende September datiert. Beide Texte belegen, «dass Seeckt sich bereits damals auf die Rolle eines vom Reichspräsidenten berufenen Notstandskanzlers, möglicherweise an der Spitze eines Direktoriums vorbereitete.»[43]
In seiner «Regierungserklärung» formulierte Seeckt, das Kabinett sei «seinem Wesen nach eine Regierung des Ausnahmezustandes und des Übergangs». Es habe die Aufgabe, «die Einheit des Reiches und den Bestand des Reiches nach außen und innen zu erhalten und zu festigen». Es werde alle zur Mitarbeit fähigen und bereiten Kräfte des Volkes zu gemeinsamer Arbeit zusammenfassen. «Die Wiederherstellung und Stärkung der vollen Souveränität des Reiches, die Wiederherstellung und Stärkung der Reichsgewalt muss die Grundlage der Politik der Regierung sein.»[44]
Oberste Priorität hatte für Seeckt die Revision des Versailler Vertragswerks. Diesem Ziel sollte alles dienen, was er im Hinblick auf die Strukturen des Reiches und die Innenpolitik in Angriff nehmen wollte. Das «Regierungsprogramm» kündigte an: «Niederwerfung aller gegen den Bestand des Reiches und gegen die ordnungsmäßige Reichs- und Staatsautorität gerichteten Bestrebungen durch Anwendung der Machtmittel des Reiches (…) Erhaltung und Stärkung der Reichsoberhoheit, insbesondere der Vollzugsgewalt. Ausbau und Änderung der Reichsverfassung in föderativem Sinn. Einführung einer Reichsständekammer, in welcher die Berufsvertretung durch Wahl erscheint, neben dem Reichstag. Heraufsetzung des Wahlalters auf 25 Jahre. (…) Vereinigung des Amtes des Kanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten (…) Finanzielle Selbstständigkeit der Staaten unter Aufsicht des Reiches. Vereinfachung der Verwaltung».[45] Unter dem Stichwort «Wirtschaft» führte Seeckt aus: «Entschlossene Absage an alle marxistischen Theorien und Maßnahmen, insbesondere Aufgabe aller Sozialisierungsbestrebungen. Aufsichtsrecht des Staates über die lebenswichtige Produktion (…) Verbot der Kartelle und Syndikate. Aufhebung der Tarifverträge. Ersatz der Gewerkschaften durch Berufskammern.»[46] Auch die «Befreiung von lästigen Ausländern», womit nur Ostjuden gemeint sein konnten, kündigte Seeckt an.[47]
«Regierungserklärung» und «Regierungsprogramm» Seeckts waren eine radikale Kampfansage an die Demokratie und an allen sozialen Fortschritt, den die Republik gebracht hatte. Seeckts Plan, die Gewerkschaften abzuschaffen und an ihre Stelle Berufskammern zu setzen, Tarifverträge aufzuheben und die Wirtschaft einem Aufsichtsrecht des Staates zu unterwerfen, kam der Wirtschaftsordnung sehr nahe, die zehn Jahre später von den Nationalsozialisten in Deutschland durchgesetzt werden sollte. Mit parlamentarischer Demokratie hatte das Staatswesen, das Seeckt vorschwebte, jedenfalls nichts zu tun.
Was die Entwicklung in Bayern anging, konnte Seeckt im Interesse der Reichswehr nicht hinnehmen, dass General Lossow sich weigerte, den Befehl Gesslers zum Verbot des Völkischen Beobachters auszuführen. Seeckt gestand Lossow zu, Einwände geltend zu machen, aber wenn der Befehl trotz dieser Bedenken aufrechterhalten wurde, war er zu befolgen. Als Lossow sich weiterhin weigerte, war für Seeckt der «entscheidende militärische Konfliktfall» gegeben. Nun ging es in seinen Augen «um die Erhaltung der Disziplin und des Gehorsams» als Voraussetzung für das Weiterbestehen der Reichswehr und damit letztlich auch des Reiches. Am 9. Oktober teilte Seeckt dem Kommandeur der VII. Reichswehrdivision per Brief mit, er traue ihm nicht mehr zu, willens und in der Lage zu sein, «die Belange der Reichswehr und die Autorität des Reiches gegenüber örtlichen politischen Widerständen durchzusetzen», und ersuchte Lossow, sein Abschiedsgesuch einzureichen.[48] Lossow kam auch dieser Aufforderung nicht nach. Er konnte sich dabei der Unterstützung durch den Generalstaatskommissar und die bayerische Staatsregierung sicher sein.
Inzwischen war deutlich erkennbar, dass Kahr, Lossow und Seißer eng zusammenarbeiteten und als eine Art Triumvirat eine gemeinsame Agenda verfolgten. Das hat bei Hitler und den anderen führenden Männern des Kampfbundes vorsichtige Hoffnungen geweckt, Kahr könnte es diesmal vielleicht wirklich ernst meinen. Der entscheidende Grund, die zögerliche Haltung gegenüber dem Generalstaatskommissar nach und nach zu überwinden, waren jedoch nach Aussage Röhms die «Verhandlungen, die Kahr zum Zwecke der Errichtung einer nationalen Diktatur mit norddeutschen Kreisen einleitete». Hatte der Kampfbund am 29. September Kahr noch unterstellt, sich auf weiß-blaue Interessenpolitik zu beschränken, gaben offenbar die Gespräche, die Major Vogts Anfang Oktober in München führte, «dem Kampfbund Anlass, seine Stellung gegenüber dem Generalstaatskommissar auf eine neue Grundlage zu stellen.»[49]
Vogts gehörte den norddeutschen Kampfverbänden an, die in Berlin eine Diktatur etablieren wollten, «die rechtsgerichtet die nationalen Belange in den Vordergrund stellte und in ihrer Tätigkeit unabhängig sein sollte von den Einflüssen eines ständig schwankenden Parlaments.» Vogts kam im Auftrag und als Verbindungsmann der norddeutschen Verbände nach München und sprach, wie er bei seiner Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft am 10. Januar 1924 erklärte, «mit fast allen Personen, die in der vaterländischen Bewegung an irgendeiner Stelle führend tätig waren. Ich fand überall Zustimmung für meine Idee, insbesondere auch zu dem Vorschlag, dass Kahr an führender Stelle tätig sein solle. Ich fand diese Zustimmung auch in den Kreisen der Hitlergruppe, wo man mir sagte, dass Hitler gar nicht danach strebe eine führende Rolle zu spielen, sondern nur der Trommler der Bewegung sein und für seine Agitation freie Hand haben wolle.»[50]
Auf Bedenken im Hinblick auf eine leitende Rolle Kahrs in einem Berliner Direktorium stieß Vogts dagegen bei Lossow und Seißer – und nicht zuletzt bei Kahr selbst. Das Triumvirat hatte Sorge, dass ohnehin vorhandene Gerüchte über eine geplante bayerische Vormachtstellung neue Nahrung bekommen könnten. Sie seien «keine Separatisten, sondern gute Deutsche im Sinne Schwarz-Weiß-Rot und wollten es vermeiden, durch die Vorstellung des Namens Kahr neue Uneinigkeit heraufzubeschwören.»[51] Major Vogts hat im Rahmen der späteren Untersuchungen der Staatsanwaltschaft auch erklärt, Lossow und Seißer hätten zu diesem Zeitpunkt die Auffassung vertreten, eine solche Umsturzbewegung müsse aus dem Norden kommen. «Sie lehnten es entschieden ab, eine gewaltsame Aktion in Bayern einzuleiten und von hier nach dem Norden weiter zu tragen. Sie erklären sich aber bereit, mit den nationalen Machtmitteln eine solche im Norden zustandegekommene nationale Reichsregierung tatkräftig zu unterstützen.»[52]
Auf den ersten Blick scheint diese Haltung im Widerspruch zum «Grenzschutz»-Aufbau zu stehen, für den Ehrhardt bereits Ende September nach Bayern geholt worden war. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich jedoch ein anderes Bild. Es ging Lossow und Seißer im Gespräch mit Major Vogts wohl vor allem darum, die Verschwörer und Kampfverbände in Norddeutschland wachzurütteln, die in ihren Augen viel zu passiv waren und sich allzu sehr auf Bayern verließen – Lossow sprach unmittelbar vor dem Putsch von «lauter Eunuchen und Kastraten», «die zu feige sind, einen Entschluss zu fassen».[53] Außerdem fanden die gesamten Vorbereitungen für den Aufbau einer militärischen Drohkulisse an der bayerischen Nordgrenze und einen eventuellen «Marsch auf Berlin» unter strengster Geheimhaltung statt, so dass es zu diesem Zeitpunkt nicht angeraten schien, sich bereits zu weit aus der Deckung zu begeben.
Die weiteren Aktivitäten des Münchner Triumvirats sprechen jedenfalls eine ganz eindeutige Sprache. Hermann Kriebel, der militärische Führer des Deutschen Kampfbunds, wurde mit der Ausarbeitung des Befehls für den Grenzschutz und den Aufmarsch an der bayerischen Nordgrenze beauftragt. Das war nicht nur im Hinblick auf die Einbindung Hitlers ein geschickter Schachzug, Kriebel war als ehemaliger Offizier im Stab Ludendorffs in der Obersten Heeresleitung ein Fachmann ersten Ranges. Er sorgte nun aufgrund seiner Position im Kampfbund für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit der vaterländischen Verbände mit Reichswehr und Landespolizei. Und es stand ihm als militärischem Leiter des Kampfbundes ein eigener Stab im «Rheinischen Hof» in München zur Verfügung, so dass auf die direkte Mitarbeit des Stabes der VII. Division verzichtet werden konnte. Das erleichterte die Geheimhaltung und auch eine – aus Sicht des Triumvirats – eventuell später notwendig werdende Distanzierung von dem gesamten Vorhaben. Am 16. Oktober legte Kriebel den sogenannten Grenzschutzbefehl vor, den er nach eigenen Aussagen vorab mit Seißer besprochen hatte. Seißer konnte sich daran später nicht mehr erinnern.
Kriebels Geheimbefehl regelte Gliederung und Kommandoverhältnisse für den Grenzschutz in Nordbayern und diente zugleich der Vorbereitung des Aufmarschs gegen Berlin. Ziffer 7 des Befehls war überschrieben «Deckung des Aufmarsches» und legte fest, dass der Grenzschutz in den Abschnitten seinen Schwerpunkt haben sollte, «in denen der Grenzschutz gleichzeitig der Deckung des Aufmarsches gegen Norden dient». Er habe dessen Organisation zu verschleiern und in der ersten Phase abzuschirmen und «kann gar nicht stark genug sein.»[54] Seißer behauptete im Hitlerprozess am 12. März 1924, dass er diesen Teil des Befehls, der ja immerhin seinen unterstellten Kommandeuren zuging, abgelehnt habe. Dem Befehl war eine Karte beigegeben, aus der Kampfgliederung, Vormarschstreifen und Versorgung für den Marsch auf Berlin hervorgingen.
Auch die taktische Ausbildung der vaterländischen Verbände durch die VII. Reichswehrdivision wurde bereits auf den Vormarsch ausgerichtet. So hielten beispielsweise die Münchner Zeitfreiwilligen Einsatzübungen anhand des Stadtplans von Berlin ab. Die Planung Kriebels sah vor, «den Stoß auf Berlin ausschließlich durch Freiwilligenverbände zu führen und die Reichswehr- und Landespolizeiformationen an den Flanken gestaffelt nachzuziehen, um für den Marsch auf Berlin Einwirkungen von außen abzuschirmen.»[55] Kriebel selbst kam in der bayerischen Aufmarschplanung gegen Norddeutschland eine leitende Position zu. Ihm unterstand der gesamte Grenzschutz, der von der Landespolizei und von den Wehrverbänden getragen wurde. Als Abschnittsbefehlshaber waren höhere Offiziere der Landespolizei eingesetzt, die ihnen unterstellten Unterabschnitte sollten von Offizieren aus den Wehrverbänden geleitet werden.
Unter dem Eindruck der konkreten Aktivitäten und Vorbereitungen stellten sich am 16. Oktober alle vaterländischen Verbände, auch der Kampfbund, und die Landespolizei in einer Besprechung im «Rheinischen Hof» Lossow für die sich abzeichnende Auseinandersetzung mit Berlin zur Verfügung. Lossow war nun der oberste militärische Führer über alles in Bayern, was legal oder illegal Waffen trug. Er war die große Hoffnung all derer, «die ungeduldig auf den Befehl ‹Marsch auf Berlin› warteten.»[56]
Am 19. Oktober wurde Lossow förmlich vom Reichswehrminister entlassen. Am selben Tag nahm Kahr in München in einer Ansprache vor den standortältesten Offizieren der bayerischen Garnisonen zum «Fall Lossow» Stellung. Er betonte dabei, dass der Streitfall nicht militärischer, sondern politischer Natur sei. Es gehe nicht um Lossow, nicht um Bayern, nicht um die bayerische Regierung und nicht um die Reichsregierung, erklärte Kahr. «Es handelt sich um den großen Kampf der zwei für das Schicksal des ganzen deutschen Volkes entscheidenden Weltanschauungen, der internationalen marxistisch-jüdischen und der nationalen-deutschen Auffassung.» «Deutsch oder Nichtdeutsch», das sei hier die Frage. Jeder Offizier und jeder deutsche Mann müsse entscheiden, auf welcher Seite er stehen wolle. «Bayern hat die Schicksalsbestimmung, in diesem Kampf für das große deutsche Ziel die Führung zu übernehmen und würde sich an seiner Pflicht gegenüber dem deutschen Volk versündigen, wenn es sich von dieser Aufgabe aus Angst vor Verantwortung drücken wollte.»[57] Bei dieser Versammlung der Standortältesten stand bereits im Raum, Lossows Entlassung nicht hinzunehmen, sondern den General als «Landeskommandanten» weiter mit der Führung der VII. Reichswehrdivision zu beauftragen und die gesamte Division auf den bayerischen Staat zu verpflichten.
Am folgenden Tag trat in München der Ministerrat zusammen. Ministerpräsident Knilling war sich der Tragweite der anstehenden Entscheidungen völlig bewusst und warf gleich zu Beginn die Frage auf, «ob er den ganzen Weg der jetzt aufgebrochenen Auseinandersetzung mitgehen könne oder ob er nicht einem Nachfolger Platz machen solle.» Knillings Rücktritt hätte den Rücktritt der gesamten Regierung zur Folge gehabt, und den wollte eine Reihe von Ministern nicht riskieren, «weil dadurch Bayern den radikalsten Kräften ausgeliefert würde.» Knilling konnte schließlich bekanntgeben, «dass die Führer der Koalitionsparteien sich dafür ausgesprochen hätten», die Division auf den bayerischen Staat zu vereidigen. Lossow berichtete, dass bei der Versammlung der Standortältesten nach der Mittagspause der Beschluss gefasst worden sei, dass die siebte Division «unter allen Umständen rückhaltlos hinter Lossow stehe und bereit sei, sich auf die bayerische Regierung verpflichten zu lassen.» Die versammelten Offiziere hätten einmütig erklärt, «dass die Mannschaften restlos das tun würden, was ihnen befohlen werde.»[58]
Aus den Erinnerungen des Bayreuther Bataillonskommandeurs, Hilmar Ritter von Mittelberger, geht allerdings hervor, dass die Ansichten der Kommandeure durchaus geteilt waren. Man hatte Sorge, dass der Beschluss der bayerischen Regierung die Einheit des Reiches gefährde.[59] Der Kampfbund weigerte sich später sogar, seine Truppen den Generälen Ruith und Kreß zu unterstellen, weil diese sich bei der Inpflichtnahme der VII. Division für die bayerische Regierung nicht hinter Lossow gestellt hätten. Ruith und Kreß seien «schwarz-rot-gelb» eingestellt, erklärte Kriebel am 28. Februar 1924 im Hitlerprozess[60] – was in dieser Klarheit und Eindeutigkeit wohl auch nicht zutraf.
Ohne diese Details zu kennen, beschloss der Ministerrat am 20. Oktober, Lossow als Landeskommandanten mit der Führung der VII. (bayerischen) Division zu beauftragen und bereits am Morgen des 22. Oktober die gesamte Division auf Bayern zu verpflichten. In einem Aufruf «An das bayerische Volk!» wurde mitgeteilt, dass die bayerische Staatsregierung diese Entscheidungen «als Treuhänderin des deutschen Volkes» getroffen habe.[61] Der Generalstaatskommissar ließ einen Aufruf verbreiten, in dem es hieß: «Bayern betrachtet es als seine heilige Pflicht, in dieser Stunde eine Hochburg des bedrängten Deutschtums zu sein. (…) Bayern und Deutsche! Bleibt treu der hehren Aufgabe, unserem deutschen Vaterlande die innere Freiheit wiederzugeben!»[62]
Die Reichsregierung reagierte sofort mit einem Aufruf, in dem sie das Vorgehen Bayerns als «offenen Verfassungsbruch» bezeichnete.[63] Seeckt gab einen Erlass an das Reichsheer heraus und sprach von einem gegen die Verfassung gerichteten Eingriff in die militärische Kommandogewalt. «Wer dieser Anordnung der bayerischen Regierung entspricht, bricht seinen dem Reich geleisteten Eid und macht sich des militärischen Ungehorsams schuldig. Ich fordere die 7. (bayerische) Division des Reichsheers hierdurch feierlich auf, ihrem dem Reich geleisteten Eid treu zu bleiben und sich den Befehlen ihres höchsten militärischen Befehlshabers bedingungslos zu fügen.»[64]
Am Abend des 20. Oktober sprach gegen 23 Uhr der Stellvertreter Kahrs, Oberregierungsrat Hubert Freiherr von Aufseß bei den «Bojaren» im «Wittelsbacher Garten» in München. Aufseß betonte, er spreche «im Namen und Auftrag seiner Exzellenz des Herrn Generalstaatskommissars Dr. v. Kahr», bestellte Grüße und beste Wünsche und erklärte dann: «Der Bruch zwischen Bayern und Berlin ist heute Abend 8 Uhr 30 erfolgt, und wir sind froh, dass er erfolgt ist. Es heißt für uns nicht: Los von Berlin, wir sind keine Separatisten, es heißt für uns: Auf nach Berlin!» Bayern sei seit zwei Wochen von Berlin in unerhörter Weise belogen worden. Das sei auch nicht anders zu erwarten «von dieser Judenregierung, an deren Spitze ein Matratzeningenieur steht.» Man könne aber nicht einfach gleich losschlagen, wie Hitler das wolle, sondern müsse diplomatisch vorgehen, damit man nicht ins Unrecht gesetzt werde. «Man wartet in Norddeutschland bloß darauf, dass wir losschlagen; aber dies muss alles vorbereitet sein. (…) Meine Damen und Herren! Halten Sie sich bereit, wenn in den nächsten Tagen der Aufruf zu den Waffen an alle ergeht, die schon mit Gewehr und Säbel umgegangen sind. Meine Damen, lassen Sie Ihre Angehörigen, ihre Brüder ziehen zum großen Befreiungskampf! Es wird nur kurze Zeit dauern.»[65] Aufseß hat später bestritten, Derartiges gesagt zu haben. Im Hitlerprozess wurden jedoch die unterschriebenen Beglaubigungen von acht namentlich genannten Zeugen vorgelegt.[66]
Am 22. Oktober um 11 Uhr wurde an allen Standorten der VII. Reichswehrdivision den Offizieren und Mannschaften der Aufruf der bayerischen Staatsregierung offiziell bekannt gemacht, und die Angehörigen der Division legten ohne Ausnahme das Bekenntnis ab, «von der bayerischen Staatsregierung als der Treuhänderin des deutschen Volkes bis zur Wiederherstellung des Einvernehmens zwischen Bayern und Reich in Pflicht genommen» zu sein.[67] Trotz des mahnenden Erlasses des Chefs der Heeresleitung verweigerte kein einziger das Bekenntnis. Allerdings hatte eine Reihe von Offizieren Widerspruch gegen eine Vereidigung erhoben, die Lossow ursprünglich erreichen wollte.
Mit dieser Inpflichtnahme war in den Augen der Öffentlichkeit der Rubikon überschritten. Der Schritt Bayerns beweise, meinte das Berliner Tageblatt, «dass man an den maßgebenden bayerischen Stellen den Bruch will. Das bayerische Kabinett ist nur die Kulisse, hinter der das Spiel von den Regisseuren geleitet wird. Das sind Kahr und die ‹Vaterländischen Verbände›».[68] In der bayerischen Öffentlichkeit, insbesondere aber vom Offizierskorps, wurde die Inpflichtnahme als Vorbereitung einer größeren Aktion gegen das Reich verstanden. Der Kommandeur der Infanterieschule, General von Tieschowitz, erklärte später als Zeuge im Hitlerprozess: «Bei der Vereidigung der 7. Division auf Bayern habe ich mir gesagt: Wenn er das tut, ist der nächste Schritt der Vormarsch auf Berlin, vollständig klar.»[69] Das Vorgehen Bayerns war «der offenste Verfassungsbruch, den die Reichsgeschichte seit 1871 kannte, der schlichte Hochverrat.»[70]