Wer am 8. November den spektakulären Abend im Münchner Bürgerbräukeller erlebt hatte, der vergaß ihn wohl zeitlebens nicht. Der eindrucksvolle «Rütli-Schwur», den Kahr, Lossow, Seißer, Ludendorff und Hitler auf offener Bühne vollzogen hatten, wirkte emotional ebenso nach wie die stürmische Begeisterung, mit der das Publikum die Verständigung der Herren gefeiert hatte – vom Singen des Deutschlandliedes ganz zu schweigen, das als krönender Abschluss nicht wenige zu Tränen gerührt hatte. Die Versammlung löste sich nur langsam auf. Man hatte sich auf dem Weg nach draußen noch viel zu sagen.
Den Ministerpräsidenten geleitete Hitler «mit wohlgesetzten Entschuldigungsreden» selbst vor die Tür, aber Knilling durfte sich ebenso wenig auf den Heimweg machen wie seine Minister. Gemeinsam mit dem Polizeipräsidenten und dem Kabinettschef des früheren Kronprinzen wurden die Männer von Rudolf Heß, dem Führer der SA-Studentenkompanie, in die Villa des Verlegers Lehmann gebracht und dort festgesetzt. Hitler und seine Mitverschwörer gingen erneut ins Nebenzimmer, wo Hitler ein weiteres Mal förmlich um Verzeihung für sein Vorgehen bat. Während Kahr und Pöhner als «Statthalter der Monarchie» bzw. neuer bayerischer Ministerpräsident über Personalfragen zu sprechen begannen und sich bereits verständigten, dass Frick Polizeipräsident werden sollte, während Ludendorff und Lossow sich mit der Benachrichtigung der Reichswehrverbände und mit Organisationsfragen der Nationalarmee beschäftigten, machten Hitler und der Führer des Bundes Oberland, Dr. Weber, sich auf den Weg, um Probleme zu klären, die sich in zwei Kasernen ergeben hatten. Das Triumvirat blieb in der Obhut von Ludendorff zurück.
In der Pionierkaserne war es zu Schwierigkeiten gekommen, als ein Bataillon von Oberland, das dort seit dem späten Nachmittag ausgebildet wurde, nach 20.30 Uhr versucht hatte, die Waffenkammer zu übernehmen. Auch in der Kaserne des I. Bataillons des Infanterieregiments 19 war ein ähnlicher Handstreich versucht worden und ebenfalls gescheitert. In beiden Fällen kam es nicht zu Kampfhandlungen, Reichswehr- und Kampfbundeinheiten standen sich gegenüber und warteten ab. Daran etwas zu ändern, gelang auch Hitler und Weber nicht.
Als Hitler gegen 23 Uhr in den Bürgerbräukeller zurückkehrte, stellte er entsetzt fest, dass Ludendorff das Triumvirat gegen 22.30 Uhr hatte gehen lassen, weil im Moment nichts Dringendes mehr angelegen habe. Ludendorff verbat sich in barschem Ton «jeden Zweifel an dem Ehrenwort eines deutschen Offiziers.»[1]
Die Übernahme der Waffenkammern in den Kasernen war von der Kampfbundführung geplant worden, weil man selbst über viel zu wenige Waffen verfügte. Der von Hitler sehr kurzfristig festgelegte Termin der Aktion verursachte enorme Probleme. Die Verbände hatten kaum Zeit gehabt, Handfeuerwaffen und Maschinengewehre aus geheimen Lagern von außerhalb nach München zu schaffen. Auch die Mobilisierung der Einheiten aus entfernteren Städten und den Regionen des Landes konnte kaum rechtzeitig gelingen. Erst am nächsten Morgen war mit nennenswerter Verstärkung zu rechnen. Das war auch dem Ziel geschuldet, die geplante Aktion absolut geheim zu halten – was im Übrigen natürlich nicht erreicht wurde: Gerüchte waren schnell in Umlauf gekommen, aber sie wurden nicht ernst genommen. Es hatte in den vorangegangenen Monaten schon viel zu viele «absolut zuverlässige» Nachrichten über einen unmittelbar bevorstehenden Putsch Hitlers gegeben, und nie war etwas geschehen. Den Unterführern der Kampfbundverbände – auch den auswärtigen – war jedenfalls aus Gründen der Geheimhaltung lediglich befohlen worden, ihre Mannschaften an vorher bestimmten Orten für den Abend des 8. November zu sammeln. Sie hatten nicht erfahren, zu welchem Zweck, sondern bekamen verschlossene Umschläge ausgehändigt mit der Auflage, sie erst um 20.30 Uhr zu öffnen.
So hatte Hauptmann Röhm den Auftrag bekommen, zu einem Kameradschaftsabend seiner Reichskriegsflagge in den Löwenbräukeller zu laden. Nationalsozialistische Sturmtrupps, Oberlandverbände und der Kampfbund München waren gekommen. Alles in allem versammelten sich während Hitlers Auftritt im Bürgerbräukeller rund 1800 Mann im Löwenbräukeller, etwa ein Drittel in Uniform. Um 21 Uhr kam die erhoffte Nachricht über die Ereignisse im Bürgerbräukeller. «Die Bekanntgabe löste unendlichen Jubel aus. Die Menschen sprangen von den Stühlen auf und umarmten sich, viele weinten vor Freude und Rührung. Die Soldaten der Reichswehr rissen ihre gelben Kokarden von den Mützen. Die allgemeine Begeisterung war so laut, dass die Musik kaum mehr durch den Saal dringen konnte. Endlich!»[2]
Röhm hatte rechtzeitig Waffen aus einem der ländlichen Geheimlager herbeischaffen lassen. Auf seinen Befehl übernahmen die Einheiten nun diese Waffen von einem LKW, traten auf dem Stiglmaierplatz an und setzten sich in Richtung Bürgerbräukeller in Marsch. Auf dem Wege dorthin überbrachte ein Kraftradfahrer Röhm den Befehl, mit den Mannschaften der Reichskriegsflagge zum Wehrkreiskommando zu marschieren und dort eine Ehrenkompanie für den neuen Reichswehrminister Lossow abzustellen, der bald erscheinen werde. NSDAP und Oberland marschierten weiter zum Bürgerbräukeller. «Beim Wehrkreiskommando hätten die Posten beinahe das Feuer auf Röhms Truppe eröffnet». Als Röhm ihnen erklärte, dass Lossow auf ihrer Seite stehe, ließen sie ihn jedoch gewähren. Zweifel hatte offenbar keiner der Posten. «Röhm ließ neben den Reichswehrposten seine eigenen aufziehen und richtete sich in Lossows Vorzimmer eine Befehlsstelle ein. Alles war ruhig.»[3]
Diese Besetzung des Wehrkreiskommandos war der einzige nennenswerte «militärische» Erfolg der Putschisten. Einheiten von Oberland waren in der Pionierkaserne gescheitert und konnten danach auch nicht wie vorgesehen den Hauptbahnhof besetzen, womit verhindert werden sollte, dass Juden und Republikaner die Stadt verließen. Sehr viel mehr war zunächst gar nicht vorgesehen, und auch das Motiv für die Besetzung des Hauptbahnhofs macht deutlich, wie wenig die Aktivitäten der Putschisten von strategischen Überlegungen geprägt waren. Es gab keinen durchdachten Plan für die Besetzung von Schlüsselinstitutionen wie Kasernen von Reichswehr und Polizei, von Verkehrs- und Kommunikationszentren sowie Pressehäusern. Die gesamte Aktion war völlig improvisiert und dilettantisch vorbereitet – wenn man unterstellt, dass die Putschisten damit rechneten, sich gegen Reichswehr und Landespolizei behaupten zu müssen.
Wenn man aber annimmt, dass Hitler die Lektion des 1. Mai 1923 gelernt hatte, fällt das Urteil etwas anders aus. Hitler wusste nur zu gut, dass ein Putsch bereits in München zum Scheitern verurteilt war, wenn er nicht die Unterstützung von Landespolizei und Reichswehr fand, und er hatte – ganz Spieler – alles auf eine Karte gesetzt. Gelang es ihm, Kahr, Lossow und Seißer zu gewinnen, dann war der Putsch erfolgreich, gelang ihm das nicht, war er gescheitert – und daran hätte auch die sorgsam geplante und rechtzeitig durchgeführte Besetzung von Schlüsselinstitutionen nichts ändern können. Erst als Gerüchte über Widerstand der Reichswehr kursierten, gab es halbherzige und schnell scheiternde Versuche, das Generalstaatskommissariat in der Maximilianstraße in die Hand zu bekommen. Auf bewaffnete Auseinandersetzungen ließ man es aber auch dort nicht ankommen. Es war noch immer ein Putsch, bei dem nicht geschossen wurde.
Schon vor 9 Uhr am Abend war der diensthabende Beamte im Generalstaatskommissariat, Baron v. Freyberg, über seltsame Vorgänge im Bürgerbräukeller informiert worden und hatte daraufhin die in solchen Fällen vorgesehenen Maßnahmen eingeleitet.[4] Er setzte die Landespolizei in Kenntnis und alarmierte gemeinsam mit Polizeimajor von Imhoff auch die Reichswehr. General Danner, der Münchner Stadtkommandant, übernahm, wie in solchen Fällen vorgesehen, den Oberbefehl und ordnete im Benehmen mit Major von Imhoff die Alarmierung und Besetzung der nach der Alarmordnung befohlenen Punkte an, ohne recht zu wissen, was überhaupt los war. Noch vor Mitternacht rückten Reichswehrtruppen aus Nürnberg nach München aus. Auch sie wussten nichts Näheres über die Vorgänge in München.[5] Danner verständigte den Artillerieführer der VII. Division, Generalmajor v. Kress, und den Infanterieführer, Generalmajor Ritter v. Ruith, und beide machten sich sofort auf den Weg in die Stadtkommandantur, so dass dort alle drei Lossow direkt unterstellten Generale versammelt waren.
Lossow traf nach offizieller Darstellung um 22.45 Uhr in der Stadtkommandantur ein. Er hatte sich auf direktem Weg vom Bürgerbräukeller dorthin fahren lassen. Schon im Hausflur der Kommandantur kamen Lossow die Generale Kress und Ruith entgegen, die eben im Begriff waren, sich in die Kaserne des Infanterieregiments 19 zu begeben. Ruith meldete Lossow, «dass die Truppen des Standortes bereits gegen die Hitlerbewegung alarmiert seien.» Im Dienstzimmer der Kommandantur im ersten Stock war Danner mit einigen Offizieren versammelt. «General von Danner empfing den Befehlshaber mit der für die Einstellung aller Herren charakteristischen Frage: ‹Exzellenz, dies war doch alles nur Bluff?› Oberstleutnant v. Sauer meldete sodann die von der Stadtkommandantur getroffenen Maßnahmen (Alarmierung des Standorts München, telefonische Anweisung an II/19 Augsburg, sofort nach München zu fahren, Landsberg und Kempten auch nach München zu rufen und die übrigen Standorte zu verständigen). (…) Mit den bereits getroffenen Maßnahmen erklärte sich der Befehlshaber durchaus einverstanden.»[6]
Gewisse Ergänzungen dieser offiziellen Darstellung, die das Wehrkreiskommando nach dem 9. November zusammenstellte, sind notwendig. General Danner sagte im Hitlerprozess unter Eid aus, sie seien sich zunächst völlig im Unklaren gewesen. «Nun sehe ich, wie ich da hereinkam, unseren Befehlshaber vor mir und da sagte ich ganz unwillkürlich zu ihm: Was war das für ein Bluff?, weil ich denken musste, er ist in Haft.» Lossow sei «außerordentlich zornig und erregt» gewesen. Er, Danner, habe immer wieder nebenan ans Telefon gehen müssen. «Mein Eindruck war der, dass v. Lossow einen inneren starken Zorn gehabt hat, dass ihm das passiert sei, dass er da, ich weiß nicht, in eine Falle gelockt worden sei, die Worte kann ich nicht sagen, aber der Sinn war so.»[7]
Ein Augenzeuge berichtete, dass Lossow von den drei anderen Generalen in der Stadtkommandantur zur Seite genommen worden sei. Die Besprechung der vier Männer habe etwa eine halbe Stunde gedauert. Dann habe Lossow den anwesenden Offizieren erklärt, er sei von Hitler mit der Pistole bedroht worden und habe seine Zusage nur unter Zwang gegeben. Er fühle sich daher nicht an sie gebunden. «Er habe nicht den Wunsch, Hitler zu folgen, und verdamme den Putsch von Grund auf, gegen den er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln vorgehen werde.»[8]
Landespolizei-Hauptmann Hans Bergen wurde im Hitlerprozess gefragt, «ob er der Auffassung gewesen sei, dass General v. Lossow bei seiner Rückkehr in die Stadtkommandantur noch ernsthaft mitzumachen gewillt gewesen sei.» Er sagte unter Eid aus, «Nein, diese Überzeugung hatte ich nicht.» Er habe allerdings den Eindruck gehabt, erklärte Bergen weiter, «dass General von Lossow vollkommen zerfahren war und nicht wusste momentan, was zu machen ist.»[9] Bergen sagte auch aus, General Danner habe sich später am Abend des 8. November im privaten Gespräch auf dem Weg von der Stadtkommandantur zur Türkenkaserne recht verständnislos über Lossows Verhalten im Bürgerbräukeller geäußert. Er habe von einem «traurigen Mannsbild» gesprochen und gemeint, «da hätte man doch nein sagen müssen.»[10]
Wie auch immer die Abläufe in der Stadtkommandantur am Abend des 8. November waren: Die drei Generäle Danner, Ruith und Kress waren am 19. Oktober gegen die Inpflichtnahme der VII. Division durch Bayern gewesen, weil sie die Einheit des Reiches gefährdet sahen. Es war kaum denkbar, dass die drei sich auf Befehl Lossows an diesem Putsch beteiligt hätten, und es war im Grunde auch ausgeschlossen, dass Danner auf Anordnung Lossows seine eigenen bereits getroffenen Befehle zurückgenommen hätte. Auf die Frage, was geschehen wäre, wenn sich Lossow nicht mit ihnen gemeinsam gegen die Putschisten gestellt hätte, erklärte Danner im Hitlerprozess: «Ich glaube, dass wir auf unserem ursprünglichen Entschluss stehengeblieben wären.»[11] Genau betrachtet hatte Lossow also am Abend des 8. November nur die Wahl, die Befehle Danners mitzutragen oder sich von General Ruith, der vom Reichswehrminister bereits als sein Nachfolger bestellt war, in Gewahrsam nehmen zu lassen.
Oberst Seißer hatte zeitgleich mit Lossow den Bürgerbräukeller verlassen. Nach offizieller Darstellung folgte er in seinem Wagen direkt dem Lossows. Es gab aber keinerlei Verständigung zwischen den beiden Männern, und es ist auch in keinem Bericht davon die Rede, dass Seißer gemeinsam mit Lossow in die Stadtkommandantur gekommen sei. Das ist erstaunlich. Die Männer des Triumvirats haben im Nachhinein erklärt, sie hätten im Bürgerbräukeller nur zum Schein Komödie gespielt, um so schnell wie möglich ihre Freiheit wiederzuerlangen und Gegenmaßnahmen gegen den Putsch einleiten zu können. Kann man sich unter diesen Umständen vorstellen, dass Lossow und Seißer in ihren Wagen hintereinander herfahren, ohne über Maßnahmen zu sprechen, die sie jetzt schleunigst gegen den Putsch ergreifen wollten? Hätten der Landeskommandant und der Chef der Landespolizei sich nicht zumindest gemeinsam in die Stadtkommandantur begeben müssen, um Maßnahmen gegen den Putsch einzuleiten? Stattdessen fuhr Seißer direkt in die Türkenkaserne, rief von dort nach Aussage von Hauptmann Schweinle seine Frau an, teilte ihr freudig mit, «er sei soeben Reichspolizeiminister geworden» und nahm «Glückwünsche von seiner Frau entgegen».[12]
Auch Kahr unternahm zunächst keinen Versuch, sich mit Lossow und Seißer über Maßnahmen gegen den Putsch zu verständigen. Er kehrte gegen 22.30 Uhr ins Generalstaatskommissariat in der Maximilianstraße zurück, das wie immer von der Landespolizei gesichert wurde. Dort begab er sich nicht etwa sofort in seine Diensträume, um Maßnahmen anzuordnen oder sich zumindest auf den aktuellen Stand bringen zu lassen, sondern suchte zunächst seine Wohnung auf. Kahr führte einige Gespräche, bevor sich kurz nach 23.00 Uhr der eben zum «Ministerpräsident» gemachte Pöhner und der neue «Polizeipräsident» Frick in Kahrs Diensträumen meldeten. Kahr ließ sie etwa eine halbe Stunde warten, weil er noch ein längeres Telefonat führte. Danach begrüßte er die Herren «aufs herzlichste und war recht aufgeräumt». Kahr teilte ihnen mit, «dass er durch einen Funkspruch den sämtlichen Behörden den Regierungswechsel bekannt gemacht habe». Er sprach davon, dass Hitler die Verständigung der Bevölkerung übernommen habe, und bat Pöhner am nächsten Morgen zu kommen, um mit ihm die weiteren Fragen, insbesondere die Regierungsbildung zu besprechen. «Der Abschied war gleich herzlich wie der Empfang».[13] Kahr bestritt im Hitlerprozess «den freundschaftlichen Ton der Unterhaltung» nicht.
Kahr verhinderte am späten Abend des 8. November nicht, dass Pöhner um Mitternacht als «Ministerpräsident» die Vertreter der Presse empfing, «um durch sie die Öffentlichkeit zu beeinflussen.»[14] Erst in den späteren Stunden der Nacht versuchte Kahr abzuwenden, dass die Münchner Zeitungen mit Berichten über die Versammlung im Bürgerbräukeller erschienen. «Aber er hat nicht, wie doch unbedingt zu erwarten wäre, sofort die Presse angewiesen, im Sinne der Aufrechterhaltung der Staatsordnung, der Autorität der bestehenden Regierung, die Öffentlichkeit zu unterrichten.»[15] Nachweislich nahm Kahr die Glückwünsche des italienischen Konsuls zu seinem neuen Amt als Statthalter der Monarchie entgegen.[16]
Das Telefongespräch, das Kahr um 23 Uhr führte, war auf Initiative des bayerischen Kultusministers Dr. Franz Matt zustande gekommen. Nachdem Matt gehört hatte, dass der Ministerpräsident und einige andere Mitglieder der bayerischen Staatsregierung im Bürgerbräukeller festgenommen worden waren, war er sofort aktiv geworden. Er war nun als stellvertretender Ministerpräsident der ranghöchste Vertreter des legalen Staatsapparats. In seiner Wohnung versammelten sich Beamte und Abgeordnete der Bayerischen Volkspartei und berieten die Lage. Durch seinen Anruf bei Kahr wollte Matt sich Klarheit über dessen Haltung zum Putsch verschaffen. Kahr gab ihm einen kurzen Bericht über die Vorfälle, den Matt mit der Bemerkung quittierte: «Das sind schöne Zustände.»[17]
Später gab Matt zu Protokoll, Kahr habe am Telefon «wortkarg gewirkt und durchblicken lassen, nicht über alles frei sprechen zu können». Er habe Kahr gefragt, «was denn nunmehr beabsichtigt sei. Darauf erwiderte er mir, Pöhner solle morgen eine neue bayerische Regierung bilden, worauf ich ironisch bemerkte, dazu wünsche ich ihm viel Glück. Auf meine weitere Frage, was man denn noch vorhabe, erklärte mir Kahr, die Leute seien absolut darauf versessen, nach Berlin zu marschieren.» Auf die launige Bemerkung Matts gegenüber seinem persönlichen Freund Kahr, ob die neue Regierung denn schon den Weißwurstpreis festgesetzt habe, habe der geantwortet, dass dies nun eine der schwersten Aufgaben sein werde. Matt tendierte nach dem Gespräch zu der Meinung, «Kahr stehe auf Seiten des Umsturzes.»[18] Kahr erklärte im Hitlerprozess, er habe Matt nur durch eine «besondere Betonung» seiner Stimme vermittelt, dass er nicht auf Hitlers Seite sei, ansonsten seine Ausführungen mit dem Hinweis versehen, dass er mehr am Telefon nicht sagen könne.[19]
Matt formulierte nach dem Telefonat einen Aufruf gegen den Putsch, in dem er versuchte, antipreußische Ressentiments gegen die Putschisten zu instrumentalisieren. Der Aufruf forderte Beamtenschaft, Polizei und das bayerische Kontingent der Reichswehr auf, ihrer verfassungsmäßigen Regierung treu zu bleiben. «Wer dem entgegenhandelt, wird als Hochverräter behandelt. Die Regierung erwartet, dass das bayerische Volk in Stadt und Land dem Preußen Ludendorff und seinem Anhang, der es unternommen hat, unser bayrisches und deutsches Volk in namenloses Unglück zu führen, die Gefolgschaft verweigert.»[20] Der Aufruf wurde am nächsten Morgen in München angeschlagen. Noch in der Nacht entschied Matt, mit dem Rumpfkabinett nach Regensburg zu gehen und von dort den weiteren Widerstand zu organisieren. Im Ständigen Ausschuss des Landtags erklärte Matt am 6. Dezember 1923, dass er um 3 Uhr morgens noch nicht wusste, dass sich Kahr in München gegen den Putsch gestellt habe.
Kapitänleutnant Eberhard Kautter, Führer von Wiking und engster Mitarbeiter von Kapitän Ehrhardt, hörte etwa um 22 Uhr Putschgerüchte. Er rief im Generalstaatskommissariat an, wo man ihm die Gerüchte bestätigte. Kautter begab sich sofort dorthin und erfuhr, dass Kahr, Lossow und Seißer in der Gewalt Hitlers seien. Nachdem Kahr dann erschienen war, konnte Kautter etwa 10 Minuten mit ihm sprechen. Kahr sei sehr aufgebracht gewesen, weil er gezwungen worden war mitzumachen, und habe sich bitter über Pöhner beschwert, von Verrat der Polizei gesprochen. Aus seinem Verhalten sei hervorgegangen, dass er dem Unternehmen «mindestens passiv, wenn nicht ablehnend, gegenüberstand». Kautter bemühte sich, Kahr umzustimmen: «Eine Aktion Hitler-Ludendorff allein hat eine zu schwache Basis. Sie führt unrettbar schon in Bayern zum Bürgerkrieg. Der Name Kahr hat in Bayern und im Reiche eine derartige Zugkraft, dass er das Gelingen der nationalen Erhebung verbürgt. Euer Exzellenz müssen sich im nationalen Interesse an die Spitze der Bewegung stellen, sonst entsteht größtes Unheil und Bürgerkrieg unter den Nationalen.»[21]
Nach eigener Aussage ordnete Kautter in der Nacht vom 8. zum 9. November aus dem Generalstaatskommissariat im Auftrag Kahrs die Mobilmachung der bayerischen Gruppen der Brigade Ehrhardt und des Blücherbundes an. Die Mobilmachung «war in keiner Weise gegen Hitler und Ludendorff gerichtet», schrieb Kautter in einem Brief am 12. November, im Gegenteil: Sie «war eine Voraussetzung für das Gelingen des vorzeitig und unfertig eingeleiteten Unternehmens Hitler-Ludendorff überhaupt.»[22] Dem Generalstaatskommissar schlug Kautter vor, eine Proklamation mit folgendem Inhalt zu veröffentlichen: «1. Ich habe als Statthalter die Regierung in Bayern übernommen, 2. die Verfassung von Weimar ist aufgehoben, 3. Bayern hält nach wie vor zum Reich.» Die Entscheidung über diesen Vorschlag sei lange verzögert worden. Erst um 8 Uhr morgens habe er die lakonische Mitteilung erhalten: «Kahr lehnt Hitlerputsch ab.»[23]
Kurz nach Mitternacht traf Seißer nach eigener Darstellung im Generalstaatskommissariat ein, wo Kahr gerade in seine Wohnung gegangen war, «um eine Tasse Tee zu trinken. Ich ließ ihm mitteilen, er möchte gleich heraufkommen. Nach einiger Zeit kam er auch».[24] Kurz vor 1 Uhr entschied man, «die hier sehr exponierte Stellung aufzugeben» und in die Kaserne des Infanterieregiments 19 umzuziehen, wo inzwischen auch die Stadtkommandantur Quartier bezogen hatte. Die Kaserne ließ sich am besten gegen mögliche Angriffe der Putschisten sichern und verteidigen. Dieser Umzug spricht dafür, dass auch Kahr und Seißer jetzt begannen, sich umzuorientieren. Zumindest wollten sie sicherstellen, nicht noch einmal in die Gewalt Hitlers zu geraten.
Hitler formulierte nach seiner Rückkehr in den Bürgerbräukeller gegen 23 Uhr gemeinsam mit Ludendorff eine Proklamation, die gedruckt und in der Stadt angeschlagen wurde: «An das deutsche Volk! Die Regierung der Novemberverbrecher in Berlin ist heute für abgesetzt erklärt worden. Eine provisorische deutsche National-Regierung ist gebildet worden. Diese besteht aus General Ludendorff, Adolf Hitler, General v. Lossow, Oberst v. Seißer.»[25]
Zwei weitere Erlasse arbeiteten Pöhner und Frick aus. Sie werfen ein bezeichnendes Licht darauf, welche Vorstellungen die Putschisten von staatlicher Gewalt hatten. Der eine richtete sich gegen die «Novemberverbrecher» und lautete: «Die führenden Schufte des Verrats vom 9. November 1918 sind von heute ab als vogelfrei erklärt. Jeder Deutsche, welcher Ebert, Scheidemann, Oskar Cohn, Paul Levi, Theodor Wolff, Georg Bernhard und ihre Helfer und Helfershelfer ausfindig machen kann, hat die Pflicht, sie tot oder lebendig in die Hände der völkischen nationalen Regierung zu liefern.»[26] Der andere verkündete die Einrichtung eines «Nationaltribunals» und damit zugleich die Beseitigung des Rechtsstaats: «Zur Aburteilung derjenigen Verbrechen, die den Bestand des Volkes und des Staates zu gefährden geeignet sind, wird hiermit ein Nationaltribunal als oberster Gerichtshof gebildet. Die Rechtsprechung dieses Tribunals erstreckt sich auf schuldig oder nicht schuldig. Nicht schuldig gibt Freisprechung, schuldig den Tod. Die Urteile werden binnen 3 Stunden nach ihrer Aussprechung vollzogen. Revision findet nicht statt.»[27] Hätten die Putschisten sich durchgesetzt, wäre bereits am 9. November 1923 ein Terrorregime über Deutschland hereingebrochen.
Am späten Abend wurde von den Putschisten das Anwesen der Länderbank als Sitz für die «Nationalregierung» beschlagnahmt. Mit einer Verordnung wurden alle Geld- und Kreditinstitute unter Staatsaufsicht gestellt. Auf Befehl Görings drangen Kriminalbeamte und SA-Männer in das Verlagsgebäude der sozialdemokratischen Münchener Post ein und beschlagnahmten Akten. Der «Stoßtrupp Hitler» verwüstete die Redaktionsräume, beschädigte die Druckmaschinen und zerschlug, was ihm in den Weg kam. Von dort machten sich kurz nach Mitternacht Angehörige des Stoßtrupps auf den Weg zur Wohnung des SPD-Politikers und Chefredakteurs der Zeitung, Erhard Auer, um ihn zu verhaften. Sie drangen in die Wohnung ein, trafen aber nur Auers Frau und dessen Schwiegersohn an, den sie mitnahmen und in einem Raum im Bürgerbräukeller einsperrten. Dort befand sich bereits der Vorsitzende des Centralvereins jüdischer Bürger in München, Dr. Ludwig Wassermann, der an der Veranstaltung mit Kahr teilgenommen hatte und schon beim Verlassen des Saals identifiziert und festgenommen worden war.
In Berlin war die Nachricht von den Münchner Ereignissen erst am späten Abend angekommen. Reichskanzler Stresemann saß nach 23 Uhr bei einer Besprechung mit dem späteren Reichsbankpräsident Dr. Hjalmar Schacht im Berliner Hotel Continental, als er von einer gewöhnlich gut informierten Journalistin hörte, dass Hitler in München erfolgreich geputscht habe und sich anschicke, den Marsch auf Berlin anzutreten. «Finis Germaniae!» soll Stresemann ausgerufen haben,[28] aber kampflos wollte er das Ende Deutschlands nicht erwarten, sondern berief sofort eine Kabinettssitzung ein. Unter der Leitung des Reichspräsidenten kamen der Kanzler und seine Minister, der Chef der Heeresleitung, der preußische Ministerpräsident Otto Braun und der preußische Innenminister Carl Severing in der Reichskanzlei zusammen. Der Reichswehrführung war es nicht gelungen, Verbindung zur VII. Division in München aufzunehmen. Reichswehrminister Gessler hatte aber noch vor der Kabinettssitzung mit Parteifreunden in Nordbayern telefoniert und vom Nürnberger Oberbürgermeister gehört, der größte Teil der bayerischen Reichswehr stehe auf Seiten Hitlers. Später waren dann – von wem und warum ist nicht geklärt – die Verbindungen zwischen Berlin und Bayern unterbrochen worden. Man entschied trotz der unsicheren Lage, auf alle Fälle in Berlin zu bleiben.
Seeckt blieb auch in dieser Situation undurchsichtig und unberechenbar. Auf die Frage des preußischen Innenministers Severing, wie sich die Berliner Reichswehr verhalten werde, wenn die bayerische Reichswehrdivision bis nach Berlin vordränge, erwiderte Seeckt in der für ihn typischen kalten Art: «Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr».[29] Der Sozialdemokrat Severing verließ daraufhin wütend die Sitzung, mobilisierte die Berliner Schutzpolizei und erteilte ihr den Befehl, das Regierungsviertel zu besetzen und zu schützen. Alle Wehrkreiskommandos wurden verständigt. Der Personen- und Frachtverkehr nach Bayern wurde ebenso unterbrochen wie alle finanziellen Transaktionen. Stresemann verfasste einen Aufruf an das deutsche Volk, der den Aufruf Hitlers für null und nichtig erklärte und jedem, der den Aufforderungen der Putschisten nachkommen sollte, ein Verfahren wegen Hoch- und Landesverrats androhte.
Reichspräsident Ebert übertrug mit Zustimmung des Kabinetts die «vollziehende Gewalt» dem Chef der Heeresleitung, General v. Seeckt, «welcher alle zur Sicherung des Reiches erforderlichen Maßnahmen zu treffen hat.» Unterzeichnet war die Verordnung vom Reichspräsidenten, dem Reichskanzler und dem Reichswehrminister, der bis dahin Inhaber der vollziehenden Gewalt gewesen war. Nach Gesslers Darstellung hatte er selbst die Übertragung auf Seeckt vorgeschlagen, damit der General bei notwendig werdenden militärischen Operationen «völlig unbehindert» sei. Der Reichspräsident sei darauf ohne Weiteres eingegangen: «Ich habe keinen Anlaß, dem General von Seeckt diesen Beweis meines Vertrauens zu versagen.»[30] Ebert übertrug Seeckt zugleich das Recht zur Ausübung der Vollmachten des Reichspräsidenten als Oberbefehlshaber der Reichswehr. Die Sitzung endete gegen 2 Uhr, die Ausnahmeverordnung wurde auf den 8. November zurückdatiert.
Seeckt verfügte jetzt über diktatorische Machtfülle. Offenbar sah Ebert darin den einzigen Weg, um die Reichswehr in eine geschlossene Frontstellung gegen die Putschisten zu bringen. Aber niemand konnte sicher sein, dass der Auftrag, gegen Hitlers Putsch vorzugehen, Seeckt davon abhalten würde, selbst zu putschen. «Die entscheidende Macht lag seit dem frühen Morgen des 9. November in den Händen eines Gegners der Republik.»[31] Gessler wies allerdings bereits in seinen Erinnerungen darauf hin, dass sich die Situation durch die Übertragung der vollziehenden Gewalt an Seeckt erheblich änderte. Jeder Angriff auf die Reichsgewalt sei nun zu einem Angriff auf Seeckts persönliche Autorität geworden. «Das hat Seeckt auch sofort verstanden. Deshalb war er auch in der Kabinettssitzung sehr einsilbig. Deshalb fühlte er sich ganz und gar nicht als Sieger, erst recht nicht als glücklicher Sieger.» Näher betrachtet war Seeckt sogar in einer noch unangenehmeren Lage: «Nun wurde er der verfassungsmäßige Schützer Stresemanns. So hatte er es nicht gemeint und nicht gewünscht.»[32]
In den ersten Nachtstunden des 9. November war die Lage für alle Beteiligten völlig unübersichtlich – in Berlin, aber ebenso in München. Hier wurde das Straßenbild in der Nacht vor allem von den Truppen des Kampfbundes und zahlreichen Hitleranhängern geprägt, die begeistert die «nationale Revolution» feierten. Um Mitternacht war die ganze Stadt noch in Bewegung. Auch kleine Einheiten der Landespolizei waren unterwegs, andere bewachten die wichtigsten Gebäude in der Innenstadt, aber der weitaus größte Teil der Landespolizei blieb in den Kasernen. Von der Reichswehr war kaum etwas zu bemerken. Nur vor den Kasernentoren waren Wachtposten an den Stacheldrahthindernissen zu sehen, die in den ersten Stunden des Putsches angelegt worden waren.[33]
Hitler und die führenden Männer des Kampfbunds waren um Mitternacht durchaus noch optimistisch – trotz der Schwierigkeiten, die sich bei den beiden Kasernen ergeben hatten. Aber in den Optimismus mischten sich offenbar bereits Zweifel. Nur so sind die späten Versuche zu erklären, doch noch strategisch wichtige Gebäude durch Einheiten des Kampfbunds zu sichern. All diese Versuche scheiterten an der freundlichen, aber zugleich beharrlichen Weigerung der Landespolizei, die Gebäude zu übergeben. Die Truppen der Landespolizei wandten sich mit dieser Weigerung gar nicht gegen die Putschisten, sondern erfüllten lediglich pflichtgemäß die Aufträge, die sie aufgrund der Alarmierung bekommen hatten. Und doch sorgten die Misserfolge gemeinsam mit nach und nach aufkommenden Gerüchten für zunehmende Verunsicherung bei den Kampfbundführern und ihren Männern.
Hitler und seine führenden Mitstreiter machten nach Mitternacht das Wehrkreiskommando zu ihrer Zentrale. Als Ludendorff dort von Drahtverhauen und Maschinengewehrstellungen erfuhr, die zum Schutz der Kasernen angelegt worden seien, war er irritiert und versuchte mehrmals Lossow zu erreichen, von dem er inzwischen wusste, dass er sich in der Kaserne des Infanterieregiments 19 aufhielt. Gegenüber Reichswehroffizieren, die zu Erkundungen unterwegs waren, versicherte Ludendorff wiederholt, er werde niemals die Reichswehr oder eine Kaserne angreifen. Einem Ordonnanzoffizier schärfte er mit aller Dringlichkeit ein, dass unbedingt so schnell wie möglich eine Unterredung zwischen ihm und Lossow stattfinden müsse. Ludendorff und Kriebel wollten als ehemalige Offiziere offenbar unter allen Umständen einen bewaffneten Zusammenstoß vermeiden. Lossow reagierte auf Ludendorffs Drängen nicht, sondern mied jeden Kontakt mit dem ehemaligen Generalquartiermeister, dem er sich mit seinem Wort als Offizier und per Handschlag auf der Bühne im Bürgerbräukeller angeschlossen hatte. Zwei Ordonnanzoffiziere, die Kriebel in zeitlichem Abstand zu Lossow, Kahr und Seißer in die Kaserne schickte, wurden dort verhaftet, nachdem man ihnen erklärt hatte, mit Rebellen werde nicht verhandelt. Ludendorff vermutete lange Zeit, Lossow werde selbst in der Kaserne festgehalten und daran gehindert, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. An ein Umschwenken Lossows, einen «Wortbruch», konnte und mochte er nicht glauben.[34] Andere begannen langsam zu ahnen, dass das Triumvirat die Seiten gewechselt haben könnte.
Erst um 2.50 Uhr konnte man klarer sehen. So lange dauerte es, bis die Heeresfunkstelle München einen eindeutigen Funkspruch absetzte: «Generalstaatskommissar v. Kahr, General v. Lossow, Oberst v. Seißer lehnen Hitler-Putsch ab. Mit Waffengewalt erpresste Stellungnahme in Bürgerbräukeller-Versammlung ungültig. Vorsicht gegen Missbrauch obiger Namen geboten.»[35] Danach dauerte es noch eine weitere Stunde, bevor Oberregierungsrat Freyberg im Auftrag Kahrs versuchte, den stellvertretenden Ministerpräsidenten Matt zu erreichen. Dass das Triumvirat so lange zögerte, eine klare Stellungnahme abzugeben, oder so lange brauchte, um eine Entscheidung zu treffen, ist Gegenstand vielfältiger Spekulationen geworden und hat auch im Prozess eine Rolle gespielt. Es lässt sich schwer mit der Aussage des Triumvirats vereinbaren, man habe im Bürgerbräukeller vom ersten Moment an nur Theater gespielt.
Im Lauf der Nacht gelang es dem Bayreuther Bataillonskommandeur, Oberstleutnant Ritter von Mittelberger, über das Wehrkreiskommando IV in Dresden Verbindung mit dem Gruppenamt in Berlin aufzunehmen und mitzuteilen, dass zumindest die nordbayerische Reichswehr treu zu Seeckt und dem Reich stehe. Das führte in Berlin zu einer gewissen Beruhigung, auch wenn am Vormittag des 9. November der Reichswehrführung nicht völlig klar zu sein schien, wie sich Lossow und die südbayerische Reichswehr orientieren würden.[36] Seeckt wandte sich am Morgen mit einem Erlass an die Reichswehr und erklärte, die Reichswehr werde unter seiner Führung «Eingriffe Unberufener in die Ordnung des Reiches und der Länder» mit Nachdruck zurückweisen, «von welcher Seite sie kommen mögen.» Seeckts Schlussappell deutete an, dass er die Reichswehr jetzt in der Rolle sah, die er ihr schon seit langem zugedacht hatte: «Deutsche Reichswehr! Auf dich sieht dein Volk mit Vertrauen! Gehe ihm auf deutschen Wegen voran!»[37]
Auch wenn der Funkspruch der Heeresfunkstelle München um 2.50 Uhr eindeutig war: Die Informationen kamen natürlich nur dort an, wo dieser Funkspruch empfangen werden konnte, und sicher nicht auf den Straßen Münchens. Bezeichnend für die überall herrschende Unsicherheit war ein Anruf des Chefredakteurs der Münchner Neuesten Nachrichten, Dr. Fritz Gerlich, in Pöhners Wohnung gegen 4 Uhr. Gerlich berichtete dem «neuen Ministerpräsidenten» sehr erregt, in der Redaktion sei eine Anordnung Kahrs angekommen, die bei Todesstrafe das Erscheinen der Morgenzeitungen verbiete. Von seiner Zeitung seien aber bereits 30.000 Exemplare ausgeliefert. Pöhner beruhigte den Chefredakteur, das Ganze könne nur ein Missverständnis sein. Erst als Gerlich 20 Minuten später noch einmal anrief und erklärte, ein Kollege von einem anderen Blatt habe die Weisung direkt vom Generalstaatskommissariat bekommen, schöpfte Pöhner Verdacht, hier könnte ein falsches Spiel gespielt werden. Er versuchte, den neuen Polizeipräsidenten Frick in der Polizeidirektion zu erreichen, erhielt von dort aber die Auskunft, Frick sei hier nicht zu finden. In Wahrheit war Frick um 3 Uhr auf Befehl Kahrs verhaftet worden. Pöhner zog sich gerade an, um der Sache persönlich auf den Grund zu gehen, als ein Wagen bei ihm vorfuhr, der ihn ins Wehrkreiskommando abholen sollte, ins «Hauptquartier» der Putschisten. Es gebe einige Unklarheiten und Unstimmigkeiten.[38]
Selbst die entscheidenden Akteure bewegten sich morgens nach 4 Uhr weiter im Nebel von Gerüchten und unbestätigten Aussagen. Noch viel mehr traf das für alle anderen Beteiligten zu. Der 1946 in Nürnberg hingerichtete Hans Frank berichtet in seinen Erinnerungen, wie er mit seinen «paar Mann» in der Nacht vor die Schwere-Reiter-Kaserne zog und dort zu hören bekam, die Reichswehr mache diesen Putsch des Herrn Hitler nicht mit. «Aufs schwerste beunruhigt» zogen die Männer daraufhin zur Marsfeldkaserne. «Dort verbrachte ich in einer unruhigen Gemeinschaft von etwa zweihundert ‹Männern der Revolution›, die in dem gleichen ‹malerischen› Freischärlergewande wie ich ungeordnet in den großen Parterreräumen standen, erregt plauderten und von Stunde zu Stunde ob des Ausbleibens weiterer Weisungen Hitlers oder Ludendorffs immer besorgter wurden, die Nachtstunden.» Das stundenlange Warten und die Ungewissheit zermürbten die Männer, die am Abend zuvor aufgebrochen waren, um irgendetwas «Großes» zu vollbringen. «Allgemein wussten wir plötzlich, allerdings ohne jede konkrete Nachricht, dass der Putsch fehlgeschlagen war. Ich selbst konnte auch in diesen Unterredungen mit den anderen nicht das geringste Genaue über den eigentlichen Sinn des ganzen Unternehmens oder gar über die zu erwartenden Pläne erfahren.» Morgens gegen fünf Uhr erreichte sie dann der Befehl, sie sollten, «so wie alle», zum Bürgerbräukeller kommen. Dort erlebte Frank «im Großen das gleiche Bild, wie das, was wir in der eben verlassenen Kaserne selbst erlebt hatten. Rauch, Nachtdunst, Müdigkeit lag über den vielen Hunderten, die da an Tischen herumsaßen oder auf zusammengerückten Stühlen lagen.»[39] Jeder Mut hatte diese Männer verlassen, Trostlosigkeit machte sich breit.
Hitler selbst begann im Lauf der Nacht, die Nerven zu verlieren, und verließ unter dem Druck der unklaren Lage sogar das Spielfeld, das er beherrschte wie kein anderer: Er gab die Propaganda in die Hände eines anderen. In dieser Zeit, sagte Julius Streicher später beim Nürnberger Prozess aus, «als er von den meisten verlassen worden war, da erschien ich vor ihm und sagte ihm, man müsse jetzt doch die Öffentlichkeit aufklären, wenn der nächste Tag komme. Da schaute er mich mit großen Augen an und sagte: ‹Wollen Sie es machen?› Ich sagte, ‹ich mache es.›» Darauf nahm Hitler, enttäuscht und ratlos, ein Blatt Papier, schrieb «Streicher ist die gesamte Organisation übertragen» und gab es Streicher, der sich sofort daran machte, die Öffentlichkeit «aufzuklären».[40]
Hitler und Ludendorff standen zu diesem Zeitpunkt etwa 2500 Bewaffnete zur Verfügung. Am Morgen erwarteten sie zwar weitere Verstärkung, aber ihre Kräfte waren bei weitem zu schwach, um sich gegen Reichswehr und Landespolizei zu behaupten. Am frühen Morgen trafen die beiden und ihr Gefolge wieder im Bürgerbräukeller ein. Inzwischen hatte Ludendorff aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass Kahr, Lossow und Seißer sich nicht an ihr Wort vom Abend zuvor gebunden fühlten und gegen die Verbände des Kampfbundes vorgehen wollten. Damit war dem Putsch seine Grundlage entzogen, denn dessen unabdingbare Voraussetzung war von Anfang an gewesen, dass sich die bayerische Reichswehrdivision und die Landespolizei beteiligten. Selbst das Münchner SA-Oberkommando war angewiesen worden, «die von auswärts ankommenden Verbände in den Bürgerbräu oder an Reichswehr und Landespolizeidienststellen zu weisen».[41] Hitler hatte alles auf eine Karte gesetzt. Es gab keinen Plan für den Fall, dass das Triumvirat sich verweigern würde. Man verfügte zwar inzwischen über etwas mehr Waffen. Ein SA-Bataillon hatte sich im Franziskanerkloster am St. Anna-Platz rund 3300 Gewehre beschaffen können, die früher der Einwohnerwehr gehört hatten. Aber damit war gegen Landespolizei und Reichswehr nichts auszurichten.
In dieser Situation beschloss Hitler, sich «an die größte moralische Autorität in Bayern»[42] zu wenden. Um 7.30 Uhr beauftragte er den Leiter der Nachrichtenstelle des Kampfbundes, Leutnant Max Neunzert, so schnell wie möglich im Kraftwagen nach Berchtesgaden zu «Sr. Majestät dem König» zu fahren und ihn in Hitlers Namen zu bitten, zwischen Kahr und dem Kampfbund zu vermitteln, damit nicht «Nationale auf Nationale schießen» und «das größte nationale Unglück verhütet wird.»[43] Für Hitler war vollkommen klar, dass für die überwiegende Mehrzahl der Offiziere das Wort ihres «Königs» entscheidend war. Leutnant Neunzert musste allerdings feststellen, dass ein Auto nicht zur Verfügung stand, und so fuhr er mit dem Schnellzug nach Berchtesgaden.[44]
Morgens gegen 8 Uhr beschlagnahmte ein Stoßtrupp mit einer «i. A. Hitler» unterzeichneten Quittung bei der «Buchdruckerei und Verlagsanstalt Gebrüder Parcus» am Promenadeplatz und bei der «Druckerei Mühlthaler» in der Dachauer Straße 14.605 Billionen Mark in 20 Kisten. Das entsprach in diesen letzten Tagen der Inflation 28.000 Goldmark.[45] Sie wurden zum großen Teil sofort als «Sold» verteilt. Mitglieder des Bundes Oberland zogen am Morgen in den Stadtteil Bogenhausen und in die Widenmayerstraße, verhafteten dort anhand von Adressbüchern und Türschildern wahllos und willkürlich knapp zwei Dutzend jüdische Bürger und brachten sie als Geiseln in den Bürgerbräukeller.
Am Vormittag des 9. November, berichteten am folgenden Tag die Münchner Neuesten Nachrichten, «fuhren Lastautos mit schwer bewaffneten Hitlerleuten durch die Straßen der Stadt. In besonders besuchten Straßen und auf öffentlichen Plätzen hielt vom Dache des Führersitzes eines solchen Autos herab Streicher-Nürnberg an die sich jeweils schnell ansammelnde Menge Ansprachen mit starkem antisemitischem Einschlag. Von der neuen nationalen Regierung werde man schnell Taten sehen. Juden und christliche Schieber hänge man an den Galgen. «Schwarz-rot-gold gibt es nicht mehr, wer es trägt, wird erschossen!»[46]
Seit 8 Uhr wurde an den Litfaßsäulen ein Aufruf des Generalstaatskommissars plakatiert, mit dem sich Kahr wie gewohnt wortgewaltig als starker Mann präsentierte: «Trug und Wortbruch ehrgeiziger Gesellen haben aus einer Kundgebung für Deutschlands nationales Wiedererwachen eine Szene widerwärtiger Vergewaltigung gemacht. Die mir, dem General Lossow und dem Obersten von Seißer mit vorgehaltener Pistole abgepressten Erklärungen sind null und nichtig. Ein Gelingen des sinn- und ziellosen Umsturzversuches hätte Deutschland samt Bayern in den Abgrund gestoßen. (…) Unbeirrt aber durch Unverstand und Tücke werde ich mein deutsches Ziel verfolgen: Unserem Vaterlande die innere Freiheit zu erringen.»[47]
Zugleich gab es weiterhin ernsthafte Versuche, Blutvergießen zu verhindern. Major Friedrich Haselmayr, Offizier in der VII. Reichswehrdivision, entschloss sich am Morgen des 9. November gemeinsam mit Hauptmann Fritz v. Kraußer die Initiative zu ergreifen und in den Bürgerbräukeller zu fahren. Kraußer hielt dazu am 15. November 1923 in einem Bericht fest: «Im Bürgerbräukeller angelangt wurden wir beide bereitwilligst zu General Ludendorff geführt.» Haselmayr sei sofort auf General Ludendorff zugegangen und habe erklärt, er habe die Absicht zu vermitteln. Kahr, Lossow und Seißer betrachteten ihre Zusagen vom gestrigen Abend als erzwungen und damit hinfällig. Darauf Ludendorff: «Meine Herren, gestern Abend hatte ich nicht diesen Eindruck.» Ludendorff beklagte sich darüber, dass er «bis jetzt (etwa 10 Uhr vorm.)» noch keine klare und eindeutige Mitteilung bekommen habe, dass Kahr, Lossow und Seißer sich gegen die Bewegung stellten. «Beim Hinausgehen mussten wir einen Saal berühren, der einem Heerlager glich. Er war voll von Uniformierten, darunter auch Reichswehroffiziere u. Unteroffiziere (Fähnriche?). Als diese uns sahen, wurden wir sofort umdrängt und mit Fragen bestürmt, was los sei, ob es wahr sei, dass die Reichswehr gegen Hitler marschiere u. nicht mit ihm, was sie in diesem Falle tun sollten usw.» Als Haselmayr kurz darauf versuchte, Lossow zu einer Verständigung mit Hitler zu bewegen, rief der «gleich im Ton höchster Erregung: ‹Nein, mit diesen Lumpen verhandle ich nicht! Das sind ja lauter Narren und Räuber. Gegen dieses Gesindel kann man nur mit Gewalt vorgehen.›»[48]
Die führenden Putschisten beratschlagten am Morgen des 9. November im Bürgerbräukeller stundenlang über die unterschiedlichsten Vorschläge und Ideen. Sie wussten um die großen Sympathien für die vaterländischen Verbände und die völkisch-nationalistische Bewegung innerhalb der Landespolizei und der Reichwehrdivision. Noch hatten sie die Hoffnung nicht ganz aufgegeben. Kriebel machte den Vorschlag, nach Rosenheim auszuweichen, wo Ehrhardt mit einem Teil seiner Männer stand,[49] und sich dort neu zu sammeln. Hitler und Ludendorff versprachen sich davon nichts. Hitler wollte lieber versuchen, mit massiver Propaganda die Bevölkerung zu gewinnen, sprach von 14 Massenveranstaltungen, die er für den Abend des 9. November ansetzen wolle. Dafür waren die Voraussetzungen nicht schlecht, denn ein großer Teil der Münchner stand dem Putsch positiv gegenüber. Vom Rathaus wehten die schwarz-weiß-rote und die Hakenkreuzfahne, die Presse hatte am Morgen ausführlich und wohlwollend über die Ereignisse im Bürgerbräukeller berichtet. Man gab noch nicht alles verloren, sondern richtete sich jetzt auf hartnäckige Verteidigung ein, wollte vor allem das Wehrkreiskommando halten, die Polizeidirektion dazugewinnen und das rechte Isarufer mit seinen steilen Hängen mit Artillerie und Maschinengewehren sichern.[50] Einfach aufzugeben, kam jedenfalls nicht in Frage.
Von Ludendorff kam dann, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, die Idee, eine Art Propagandazug in die Münchner Innenstadt zu unternehmen: «Es gab für mich nur eine Möglichkeit, und das war: Friedlicher Zug durch die Stadt, um damit das Volk auf unsere Seite zu bringen.»[51] Hitler sprach zunächst dagegen, hoffte jede Minute auf eine Nachricht aus Berchtesgaden. Er warnte auch davor, dass geschossen werden könnte, fügte sich aber schließlich, als Ludendorff entschied zu marschieren, in der vagen Hoffnung, die begeistert jubelnde Münchner Bevölkerung könnte zu einem Umdenken in den unteren Offiziersrängen und bei den Mannschaften von Landespolizei und Reichswehr führen. Die Kampfbundführer sehnten ein Wunder herbei und wussten eigentlich recht genau, dass die Lage aussichtslos war. Aber es schien besser, irgendetwas zu tun, und sei es noch so sinnlos, als weiterhin im trüben Licht des Bürgerbräukellers zu hocken und sich mit Klagen und Debatten im Kreis zu drehen. In jedem Fall würde der Marsch in die Innenstadt – von der Feldherrnhalle war zunächst gar keine Rede – die Stimmung in der Truppe verbessern.
Gegen 11 Uhr drangen Mitglieder des Stoßtrupps Hitler ins Münchner Rathaus ein, verhafteten «unter erheblichem Beifall des Publikums» den sozialdemokratischen Bürgermeister Eduard Schmid und acht Stadträte der Linksparteien, nahmen sie als Geiseln und brachten auch sie in den Bürgerbräukeller, wo sie gemeinsam mit den anderen bereits Inhaftierten in einem Raum zusammengepfercht wurden. «Zu ihnen kamen noch einzelne politische Gegner aus früheren Auseinandersetzungen, die man jetzt aus ihren Wohnungen holte und zum Teil übel misshandelte. Hier spielten also auch noch private Racheaktionen mit hinein.»[52]
Kurz vor Mittag nahmen dann die Kampfverbände der Putschisten vor dem Bürgerbräukeller Aufstellung. Die Männer sollten in zwei Kolonnen zu je vier Reihen nebeneinander marschieren, Oberland auf der einen und SA auf der anderen Seite, bei der SA an der Spitze der Stoßtrupp Hitler. Auf der breiteren Straße wurden die Achterreihen verdoppelt, so dass 16 Mann nebeneinander marschierten. Je ein Fahnenträger der beiden Bünde markierte die Spitze, dahinter die Führer, in der Mitte Ludendorff, rechts von ihm Weber, links Hitler. Es war ein beeindruckendes Bild, wie später die 16 Mann breite Kolonne die ganze Straße ausfüllte, aber unter militärischen Gesichtspunkten war die Aufstellung denkbar ungünstig, denn die dicht zusammengedrängten Kräfte ließen sich nicht beweglich einsetzen.[53] Vieles deutet in der Tat auf einen reinen Propagandamarsch hin, bei dem es um den äußeren Schein ging und nicht um militärische Schlagkraft, aber die Einheiten führten nicht nur Handfeuerwaffen mit, sondern am Ende des Zuges auch einige PKW mit Sanitätspersonal und einen LKW, auf den ein schweres Maschinengewehr montiert war.[54]
Etwa um dieselbe Zeit wurde Leutnant Neunzert bei «Sr. Majestät» vorgelassen. «Ihr habt eigentlich eine große Dummheit gemacht», begrüßte Rupprecht den Kurier, «aber nachdem die Sache nun schon so weit gediehen ist, lässt sich wohl nicht mehr viel ändern.» Er bot dem Leutnant Stuhl und Zigarre an, nahm Hitlers Botschaft entgegen und meinte, die Gefahr sei durchaus gegeben, dass aufeinander geschossen würde. Es wäre «das größte Unglück, das Bayern und Deutschland damit treffen könnte.» Er verlangte von Hitler, wenn er, Rupprecht, die Vermittlung übernehmen sollte, dass dieser sich bei Kahr entschuldigen müsse mit dem Hinweis, «dass er dem Druck der Massen nachgegeben habe und sich zu dieser Tat habe hinreißen lassen. Außerdem müsse er sich der legalen Macht unterstellen.»[55]
Ziel des ehemaligen Kronprinzen war es, zum Zustand zurückzukehren, wie er noch am Morgen des 6. November bestanden hatte, bevor der Kampfbund sich zum Losschlagen entschieden hatte. Fast eineinhalb Stunden dauerte die Unterredung in Berchtesgaden. Am Ende wies Rupprecht von Bayern den Leutnant an, er möge «unverzüglich nach München zurückfahren», Hitler informieren und dann «schleunigst den Generalstaatskommissar aufsuchen und ihm sagen, dass Schießen auf Nationale unter allen Umständen unterbleiben müsse und der Generalstaatskommissar alles aufbieten möchte, damit, falls Hitler auf den Vorschlag eingehe, ein Verfahren wegen Hochverrats gegen Hitler nicht anhängig gemacht werden sollte.» [56] Als sich der Leutnant mit diesem Auftrag in den Zug nach München setzte, war es bereits zu spät.
Um die Mittagszeit hatte sich die Kolonne der Putschisten vor dem Bürgerbräukeller in Bewegung gesetzt. Über der Stadt hingen dunkle Wolken, aus denen leichte Schauer von Schneeregen niedergingen, als der Zug mit seinen etwa 2000 Mann die Rosenheimer Straße abwärts Richtung Isar marschierte. Ludendorff «trug zwar anstelle seiner Soldatenuniform nur einen zerknitterten Zivilanzug, doch er wurde erkannt und verbreitete Respekt, ja sogar Ehrfurcht.»[57] Mit Gesang ging es zur Ludwigsbrücke, wo ein Posten der Landespolizei versuchte, den Zug aufzuhalten. Hier kam es zu einem ersten Zusammenstoß, über den der Leutnant der Landespolizei Landshut, Höfler, in seinem Bericht festhielt: «Auf das Kommando der Polizei ‹Laden› schrien die Nationalsozialisten: ‹Schießt nicht auf eure Kameraden›, gleichzeitig wurde ein Signal geblasen. Die Stoßtrupps der Nationalsozialisten stürzten auf meine Leute mit aufgepflanztem Seitengewehr und vorgehaltenen Pistolen und Gewehren, umringten sie und drängten sie von der Mitte der Brücke weg. Die Waffen wurden jedem einzelnen unter Bedrohung mit Pistolen, Gewehren usw. abgenommen. Verschiedene meiner Leute wurden mit Kolben geschlagen, bespuckt, ihnen die Mützen abgenommen, ebenso die Stahlhelme, sie wurden mit der Hand ins Gesicht geschlagen, auf den, der sich losriss, wurde ein Schuss abgegeben.»[58]
Die Sechzehnerreihen des Zuges nahmen fast die gesamte Straßenbreite ein und drückten Polizeikordons einfach weg. Diese Taktik hatten SA und andere Kampfverbände bei Straßenschlägereien und Saalschlachten mit ihren politischen Gegnern oft genug mit Erfolg angewandt. Eingehakt marschierten die Reihen voran und sprengten Sperrgürtel scheinbar unaufhaltsam auf.
Von der Ludwigsbrücke ging es durch die beflaggten Straßen weiter zum Isartor, wo ein weiterer Polizeikordon ohne größere Zwischenfälle durchstoßen wurde. Der Zug wurde jubelnd begrüßt, «immer mehr Zivilisten schlossen sich an, marschierten mit».[59] Weiter ging es, vaterländische Lieder singend, zum Marienplatz, ins Herz und Zentrum der Stadt. Vor dem Rathaus stand eine riesige Menschenmenge, Julius Streicher hielt eine kurze aufpeitschende Rede, auch hier Jubel, Begeisterung und «Heil»-Rufe. «Wir standen am Eck der Kaufingerstraße, als der angekündigte Zug durch den alten Rathausbogen heraufkam», beschrieb der Historiker Karl Alexander von Müller die Szene: «Voran fuhr langsam ein Personenauto, in dem zwei Bewaffnete mit Gewehren saßen; es behielt, bei uns angekommen, seine Richtung bei und fuhr geradeaus in die Kaufingerstraße weiter, während der Zug unmittelbar vor uns rechtsschwenkte und in die Weinstraße einbog. An der Spitze gingen Hitler und Ludendorff, in Zivil, unbewaffnet. Mein Gedächtnis hat allein Ludendorff festgehalten, mit einer Empfindung, die vielleicht nur Menschen meiner Generation noch verständlich ist – es war eine der tiefsten politischen Erschütterungen meines Lebens. Ludendorffs Art war der meinen zuwider, ich hatte nie eine persönliche Fühlung mit ihm. Aber da war nun der Feldherr des Weltkriegs, was immer man sagen mochte: einer der großen Generale des alten deutschen Heeres, der Planer und Sieger ruhmvoller Schlachten – da ging er, in einem verknitterten Zivilmantel, einen schäbigen weichen Hut auf dem Kopf, an der Spitze eines trostlos revoltierenden Haufens auf der Straße; denn was hinter ihm und Hitler daherkam, dicht in die begleitende Menge eingekeilt, trug zwar Gewehre auf der Schulter und schien etwas wie eine Marschkolonne vorstellen zu wollen, aber in Wirklichkeit hatte es den Charakter einer Horde, Rotten mit Helmen, mit Militärmützen, Zivilisten, ohne Ordnung durcheinandergewürfelt.»[60]
Die auf dem Marienplatz versammelten Menschen sangen vaterländische Lieder, bis ihnen die Stimme versagte. Die Putschisten wurden von der lebhaften Menge geradezu aufgesogen, zeitweise lösten sich die Konturen des Zuges fast auf. München, dachten nicht wenige auf dem Marienplatz, gehöre ihnen schon jetzt, und bald würde ihnen auch Berlin gehören.[61] Ursprünglich war geplant, vom Marienplatz wieder zurück zum Bürgerbräukeller zu marschieren. Aber dann war der Zug auf Ludendorffs Befehl nach Norden in Richtung Odeonsplatz abgebogen. Ihm kam plötzlich die Idee, so beschreibt er es in seinen Erinnerungen, «zum Wehrkreiskommando zu gelangen, uns dort mit unseren völkischen Freunden zu vereinigen, dann den Zug fortzusetzen oder zu neuen Entschließungen zu kommen, die unserer würdig waren.»[62]
Ganz so einfach und problemlos, wie es Ludendorff offenbar schien, war das aber nicht. Das Wehrkreiskommando war zwar zu diesem Zeitpunkt noch in der Hand Röhms und seiner Reichskriegsflagge, aber bereits von Einheiten der Reichswehr eingeschlossen. Und der Weg dorthin führte nicht nur an der Landespolizeiwache an der Residenz vorbei, sondern auch durch das Regierungsviertel um den Odeonsplatz und die Ludwigstraße. Man musste davon ausgehen, dass die Landespolizei dieses Viertel unter allen Umständen abriegeln würde.
Karl Alexander von Müller und sein Begleiter folgten dem Zug, «in einem Strom anderer Begleiter, in zunehmender Entfernung von der Spitze, in die Wein-, in die enge Perusastraße. Ehe wir noch an den Theaterplatz kamen, hörte man von der Feldherrnhalle her Schüsse fallen, es klang wie eine unregelmäßige Salve. Dann, während die Menschen ringsum schon zu flüchten begannen, Stille, darauf abermals vereinzelte Schüsse, wie es schien, auch aus der Theatinerstraße her. Dann war es aus. Ich ging langsam durch die Innenstadt zurück bis zur Elektrischen am Isartor, wo das alltägliche Leben weiterflutete wie sonst.»[63]
Der Zug war von der Perusastraße in die Residenzstraße eingebogen, die an der östlichen Seite der Feldherrnhalle vorbei auf den Odeonsplatz führt. Mit «O Deutschland hoch in Ehren» marschierten die Reihen die Residenzstraße hinauf. Auf der Höhe der Feldherrnhalle versperrte Landespolizei den schmalen Auslass auf den Odeonsplatz. «Da kommen’s, Heil Hitler!» schrie ein Zuschauer. Dann fielen Schüsse. Wer zuerst geschossen hat, konnte nie geklärt werden, aber es kam zu einem wilden Schusswechsel, der etwa eine halbe Minute andauerte. Während die Putschisten erklärten, der erste Schuss sei aus den Reihen der Landespolizei gekommen, hielt Leutnant Michael Freiherr von Godin, der Teile der 2. Kompanie der Landespolizei führte, in seinem Bericht fest, sie seien bei ihrem Versuch, den Zug aufzuhalten «mit gefälltem Bajonett und entsichertem Gewehr und vorgehaltenen Pistolen» empfangen worden. «Meine Leute arbeiteten mit Kolben und Gummiknüppel. Ich persönlich hatte zu meiner Verteidigung, um nicht frühzeitig von meiner Pistole Gebrauch machen zu müssen, einen Karabiner genommen, parierte damit zwei mir vorgehaltene Bajonette und rannte die Betreffenden mit quer vorgehaltenem Karabiner über den Haufen. Plötzlich gab ein Hitlermann, der einen Schritt halblinks von mir stand, einen Pistolenschuss auf meinen Kopf ab. Der Schuss ging an meinem Kopf vorbei und tötete hinter mir Wachtmeister Hollweg. Für den Bruchteil einer Sekunde trat in meiner Stationsverstärkung Erstarrung ein. Noch bevor es mir möglich gewesen war, einen Befehl zu geben, gaben meine Leute Feuer, was die Wirkung einer Salve auslöste. Zu gleicher Zeit nahmen die Hitlertruppen das Feuer auf, und es entspann sich etwa 20 bis 30 Sekunden ein regelrechter Feuerkampf.»[64] Es war eine wilde und ziellose Schießerei, an der sich vermutlich auch ein auf dem Odeonsplatz postierter Panzerwagen der Reichswehr mit seinem Maschinengewehr beteiligte – die Reichswehr hat das später bestritten, die Polizei hat erklärt, der Panzerwagen habe in die Luft geschossen.[65]
18 Menschen wurden tödlich getroffen: vier Polizisten, 13 Putschisten und ein Neugieriger, den die Nazipropaganda später auch zu einem «Märtyrer der Bewegung» machte. Einer der Marschierer, Heinrich Wilhelm Trambauer, war als Fahnenträger unmittelbar hinter Hitler und Ludendorff marschiert. Er warf sich mitsamt seiner Hakenkreuzfahne blitzschnell auf den Boden und kam – flach auf den Boden gedrückt – ohne Verletzung davon. Das Blut erschossener Putschisten tränkte die Fahne, und Trambauer flüchtete mitsamt der blutbesudelten Fahne in ein nahegelegenes Wohnhaus, löste dort das blutige Tuch von Spitze und Stange, wickelte es um seinen Körper und kehrte nach Hause zurück. Dieses Tuch wurde später zur mythenumrankten «Blutfahne» gemacht.[66]
Unter den Toten war Max Erwin von Scheubner-Richter, der Geschäftsführer des Kampfbundes. Er war Arm in Arm mit Hitler in vorderster Linie marschiert, unmittelbar hinter den Standartenträgern. Der Journalist Heribert Prantl hat im November 2018 berichtet, sein Onkel Hans sei unter den Landespolizisten gewesen, die seinerzeit den Putsch beendeten. «Bei vielen Geburtstagsfeiern hat er davon erzählt: ‹I hob selsmals auf den Hitler angelegt, aber: I hob an ned dawischt, den Hund.› Onkel Hans war ein hünenhafter Kerl. Er verstand das so zu erzählen, dass es einen immer wieder schauderte – weil er, wie er einem zu verstehen gab, ein paar Sekunden lang, die Weltgeschichte hätte verändern können.»[67]
Hitler warf sich instinktiv auf das Straßenpflaster, als die ersten Schüsse fielen, und wurde wohl auch vom fallenden Scheubner-Richter zu Boden gerissen, der noch bei ihm untergehakt war und im selben Augenblick mit einem Lungendurchschuss zusammenbrach. Hitler schlug mit solcher Wucht auf, dass er sich die linke Schulter auskugelte. Dass ihm nicht mehr passierte, verdankte er auch seinem Leibwächter Ulrich Graf, der sich vor Hitler warf und mit seinem Körper Kugeln und Splitter abfing. Schnell war Dr. Walter Schultze zur Stelle, der Chef der Ambulanz der Münchner SA. Er schob Hitler in seinen in der Nähe geparkten Wagen und fuhr mit hoher Geschwindigkeit davon.
Auch Graf überlebte, genoss den Ruf, Hitlers Lebensretter gewesen zu sein, und erhielt 1933 den «Blutorden» mit der Verleihungsnummer 21. Im Völkische Beobachter schilderte er 1934, dass er elf Jahre zuvor plötzlich geahnt hatte, «dass jetzt irgend etwas Schreckliches passieren würde» und sich mit einem Sprung vor Hitler gestellt hatte. «Da knatterte eine Gewehrsalve, ich spürte einen stechenden Schmerz und sank vor Adolf Hitler, der mich stützen wollte, und selbst mitgerissen wurde, zu Boden. Ich hatte einen schweren Lungen- und Bruststeckschuß, Schüsse durch beide Oberschenkel und einen Schuß in den rechten Arm vom Ellbogen bis zum Schulterblatt, überdies auch noch 11 Splitter erhalten».[68] Ulrich Graf schwebte lange zwischen Leben und Tod und erholte sich nur langsam von seinen Verwundungen. Als Hitler aus Landsberg entlassen wurde, stellte er sich wieder als «Begleiter» zur Verfügung, aber sein Gesundheitszustand ließ einen solchen Dienst nicht mehr zu.[69]
Göring wurde ebenfalls schwer verwundet. Er bekam eine Kugel in die Leistengegend ab und suchte auf allen Vieren Schutz im Einfahrtstor zur Residenz. Später schleppte ihn einer der Putschisten in ein nahegelegenes Wohnhaus, wo die Frau eines jüdischen Möbelhändlers ihm erste Hilfe leistete.[70]
Ludendorff bewies an der Feldherrnhalle Nervenstärke. Gemeinsam mit dem ihn begleitenden Major Streck vom SA-Oberkommando ging er aufrecht weiter, schritt einfach durch die polizeiliche Sperrkette, ohne auf das Chaos um sich herum zu achten, und erreichte den Odeonsplatz. Dort verhaftete ihn ein Polizeileutnant, der am 12. November in seinem Bericht festhielt: «Nach geraumer Zeit sah ich nun einen Zivilisten und einen Hitleroffizier, der an der Nase blutete, auf mich zukommen. Ich erkannte in dem Zivilisten General Ludendorff. Ich ging auf ihn zu und sagte ihm: ‹Exzellenz ich muss Sie in Schutzhaft nehmen›. L(udendorff) erklärte sich bereit mit den Worten: ‹Sie haben den Befehl hierzu und ich folge Ihnen›.»[71]
Die beiden jüngsten der getöteten Putschisten waren 19 Jahre alt, der Älteste war der 50-jährige Oberstlandesgerichtsrat Theodor von der Pfordten, Rat am Bayerischen Obersten Landgericht. Bei ihm fand man den ausformulieren Text einer neuen Verfassung, die an die Stelle der Weimarer Verfassung hätte treten sollen. Sie bedrohte jeden mit der Todesstrafe, der weiterhin an einem Parlament teilnahm, verfügte die Dienstenthebung jüdischer Beamter und führte Standgerichte mit der Befugnis ein, Todesstrafen zu verhängen.[72] Dieser Entwurf weist große Übereinstimmung mit dem Entwurf einer «Notverfassung» auf, der in den norddeutschen nationalkonservativen Kreisen um Justizrat Claß entstanden war. Es existierten enge Verbindungen zwischen diesen norddeutschen Kreisen und den völkisch-nationalistischen Verbänden in Bayern.
Nach den Schüssen herrschte an der Feldherrnhalle heilloses Chaos. Erregte Menschen beschimpften die Polizei. Weiter hinten im Zug hatte man in der engen Residenzstraße keinerlei Sicht auf das Geschehen und wusste nicht, welchen Kräften man gegenüberstand. Also flutete der Zug zurück, ließ sich entwaffnen oder löste sich in die Straßen der Münchner Innenstadt hinein auf. Zu ernsthaften Straßenkämpfen kam es nicht, aber das war ja auch nie das Ziel gewesen. Der Demonstrationszug in die Innenstadt war eine Propagandaaktion, nicht mehr und nicht weniger. Dass der Zug sich nach den Schüssen auflöste, war die zwingende Konsequenz dieser Zielsetzung. Aus Sicht der Marschierer war es schlicht und einfach vorbei.
Ein blutiges Nachspiel folgte im Wehrkreiskommando, das Hauptmann Röhm noch mit seiner Reichskriegsflagge besetzt hielt. Röhm erklärte, er werde nur auf ausdrücklichen Befehl Ludendorffs kapitulieren. Darauf wurden Vermittlungen aufgenommen und eine Waffenruhe verabredet. Aber es kam in der allgemeinen Anspannung und Nervosität dennoch zu einem Schusswechsel, bei dem ein Kampfbundmann und der im Hof stehende Leutnant a. D. Casella tödlich getroffen wurden. Als der in der Residenzwache festgesetzte Ludendorff erreicht wurde, erteilte er Röhm völlige Handlungsfreiheit, und der erklärte sich zur Übergabe des Wehrkreiskommandos «gegen Zusicherung ehrenvollen Abzugs» bereit. Die Fahne der Reichskriegsflagge trug dabei ein junger ehemaliger bayerischer Fahnenjunker, Sohn eines Münchner Gymnasialdirektors aus «gut katholischem Haus»: Heinrich Himmler. «Niemand wagte, den langen waffenlosen Zug aufzuhalten, als die Kameraden den toten Leutnant Casella auf den Schultern bis vor sein Elternhaus trugen. Dann löste sich auch diese Truppe auf. Allein ihr Führer, der den soldatischen Ehrenkodex gewahrt hatte, wurde verhaftet.»[73]
Die im Bürgerbräukeller festgehaltenen jüdischen Geiseln wurden bedroht und zum Teil geschlagen, bevor die Landespolizei sie befreite. Die Stadträte verschleppte ein SA-Kommando in einen Wald und drohte ihnen an, sie würden erschossen oder erhängt. Am Ende nahm man ihnen nur die zivilen Jacken und Mäntel ab und ließ sie im Wald zurück. In der Villa des Verlegers Lehmann wurden am Nachmittag noch immer Ministerpräsident Knilling, einige seiner Minister und andere hochrangige Repräsentanten des Freistaats festgehalten. Knapp vier Stunden nach dem Schusswechsel an der Feldherrnhalle fuhr Rudolf Heß mit den Ministern Schweyer und Wutzelhofer in einem Wagen weg. Nachdem man lange kreuz und quer durch die Gegend um Tölz gefahren war, ließ Heß die beiden Minister schließlich in Unterhaching an der Tegernseer-Landstraße stehen. Die Wache in der Villa Lehmann entfernte sich, als es dunkel wurde, so dass am Abend auch die letzten Gefangenen frei waren.
Der schwerverletzte Göring wurde zunächst in einer Münchner Privatklinik behandelt. Nach wenigen Tagen gelang es ihm, über die Grenze nach Tirol zu entkommen. Eine ganze Reihe weiterer Putschisten setzte sich ebenfalls nach Österreich ab, darunter Hermann Esser und Ernst Hanfstaengl. Heß versteckte sich zunächst in einer Münchner Privatwohnung, floh dann zu Verwandten nach Österreich und stellte sich nach der Verurteilung Hitlers im Mai 1924 den bayerischen Behörden. Gottfried Feder kam für einige Monate bei Freunden in der Tschechoslowakei unter. Pöhner und Frick waren bereits in der Nacht verhaftet worden, Röhm wurde nach der Kapitulation des Wehrkreiskommandos am Nachmittag des 9. November festgesetzt, Ludendorff auf sein Ehrenwort hin wieder entlassen.
Hitler gelangte noch am 9. November in Hanfstaengls Haus in Uffing südlich von München. Dort spürte ihn die Polizei am Abend des 11. November auf, und Polizeioberleutnant Rudolf Belleville verhaftete ihn. «Frau Hanfstaengl führte Oberleutnant Belleville wortlos vor eine Zimmertür,» beschreibt der Bericht des Regierungspräsidiums von Oberbayern die Szene, «blieb dann einen Augenblick stehen, Oberleutnant Belleville mit einem langen Blick ansehend, machte dann auf und sagte: ‹Bitte.› Im Zimmer stand in weißem Schlafanzuge Hitler, den Arm in einer Binde. … Hitler starrte ihn ganz geistesabwesend an. Auf die Ankündigung, dass er gekommen sei, ihn zu verhaften, streckte Hitler ihm die Hand entgegen und erklärte, ihm zur Verfügung zu stehen. Er bat nur, ihn vor Anpöbelung zu schützen. (…) Mithilfe der Frau Hanfstaengl und des Oberleutnants Belleville wurde Hitler angekleidet und ihm auf seinen Wunsch das EK I angeheftet. Das Kommando räumte die Straße von Neugierigen und nach schwerem Abschied bestieg er den Lkw.»[74]