Die Stimmung war nach den Schüssen des 9. November eindeutig. «Die Bevölkerung Münchens scheint von den Nationalisten völlig gewonnen zu sein», berichtete der französische Gesandte Jean Pozzi nach Paris. «Herr von Kahr, der beliebteste Vertreter Bayerns ist von einem Tag auf den anderen der am meisten verachtete geworden.»[1] Der Historiker Karl Alexander von Müller machte sich am Samstag, 10. November, auf den Weg in die Akademie und erlebte «die Stadt aufgewühlter, als ich sie seit den Revolutionstagen 1918/19 je gesehen hatte. Große Menschentrupps, darunter viele Studenten, die mit lauten Schmährufen gegen den ‹Judas Kahr› und den ‹Verräter Lossow› durch die Straßen zogen, überall, wohin man kam, eine ratlose Verwirrung und Erbitterung.»[2] Noch tagelang waren immer wieder erregte Menschenmassen im Stadtzentrum zu sehen, die Kahr beschimpften und Hitler hochleben ließen. Der württembergische Gesandte Moser von Filseck berichtete am 10. November: «Im Inneren der Stadt war es heute mittag wieder recht unruhig, und ich sah Panzerwagen und berittene Polizeiwehr mit Lanzen anrücken in der Richtung auf den Odeonsplatz, wo eine große Ansammlung war.» Es sei nicht nur das «einem so wohl bekannte Stadtgesindel» wieder an die Oberfläche gekommen und ergreife überall Gelegenheit, um gegen Regierung, Polizei und Reichswehr zu demonstrieren – unter Parteinahme für die Nationalsozialisten. «Auch bei dem besseren Ständen angehörigen Straßenpublikum ist überall Parteinahme für Hitler und Ludendorff zu bemerken und Herr von Kahr hat in diesen Kreisen mit einem Schlag seine ganze Beliebtheit eingebüßt, er gilt als Verräter der guten Sache.»[3]
Noch tagelang kommt es nach den Schüssen an der Feldherrnhalle zu heftigen Protesten gegen Kahr. Vor allem demonstrierende Studenten ergreifen massiv Partei für Hitler und seine Mitstreiter. Am 10. November rücken auf dem Odeonsplatz Berittene der Landespolizei mit Lanzen gegen sie vor.
Zwei Tage später ergänzte er: «Am irrsinnigsten gebärdeten sich die Studenten, die gestern tüchtige Prügel von den Gummiknütteln der Polizei bezogen.»[4] Drei Fahnen wehten am 12. November auf der Universität: schwarz-weiß-rot, weiß-blau und schwarz. Die Studenten sangen das «Ehrhardtlied» mit dem Refrain «Hakenkreuz am Stahlhelm».[5] Ganz allgemein herrsche große Empörung über die «Doppelzüngigkeit» Kahrs und Lossows, berichtete Ernst Feder, der Korrespondent des Berliner Tageblatts: «Sie kam am schärfsten in den Kreisen der deutschvölkischen Studentenschaft zum Ausdruck. Die Münchner Studentenschaft fasst in erregter Versammlung den Beschluss, dass Kahr zurückzutreten habe. Ganz rechts stehende Hochschullehrer, die besänftigend eingreifen wollen, wie Direktor von Kraus und Geheimrat Sauerbruch, werden niedergeschrien und vom Rednerpult herunter gestoßen. Die Truppe wird mit Johlen und Pfeifen empfangen, beschimpft und bespien, so dass sie mit Gewehrkolben gegen die Demonstranten vorgehen muss. (…) Die Universität München wird bis auf weiteres geschlossen.»[6] Der Mannheimer General-Anzeiger kolportierte sogar, von Teilnehmern einer Studentenversammlung sei am 12. November die Forderung erhoben worden, ein Kommilitone müsse dazu bereit sein, «den als ‹Ehrenmitglied des Jesuitenordens› bezeichneten ‹wortbrüchigen› Kahr umzubringen, wie der Student Sand den Schriftsteller August v. Kotzebue 1819 umgebracht hat.»[7]
Hartnäckig hielt sich in diesen Tagen das Gerücht, der Münchner Kardinal Michael von Faulhaber habe in der Nacht vom 8. zum 9. November ganz wesentlich zu Kahrs Kurswechsel beigetragen. Laut Pozzi demonstrierten am 10. November mehrere tausend Studenten vor dem erzbischöflichen Palais und pfiffen den Kardinal aus. Das sei eine Sache «ohne Beispiel in der Geschichte» der Bayern, merkte der französische Geschäftsträger an, «die manchmal Minister, Favoriten und sogar Souveräne ausgepfiffen haben, niemals aber ihren Bischof.»[8]
Lediglich die Münchner Neuesten Nachrichten bezogen zunächst klar Position für Kahr und gegen Hitler, dem sie vorwarfen, er sei mit «besonderer Hinterlist» vorgegangen. Die Schlagzeile lautete «Adolf Hitlers Ehrenwortbruch», und der Artikel machte allein Hitler für die Schüsse an der Feldherrnhalle verantwortlich. Hitlers größtes Verbrechen sei es, dass «zur Freude der Feinde und Verräter» am 9. November «Bruder gegen Bruder, Väter gegen Söhne, der eine bei der Reichswehr, der andere bei den Hitlerverbänden, aufeinander schießen mussten, er hat es erreicht, dass auf beiden Seiten Leute ihr Blut gelassen haben, die zur Hoffnung unserer Zukunft gehörten.»[9]
Das war ganz nach dem Geschmack Kahrs, dessen Ziel es zunächst war, allein Hitler für die Ereignisse am 8./9. November verantwortlich zu machen und möglichst schnell seine eigenen Bestrebungen zur Errichtung einer Diktatur wieder aufzunehmen, so wie er sie bei der Besprechung mit den vaterländischen Verbänden am 6. November beschrieben hatte. Welche Rolle Seeckt nun spielen würde, der ja im Reich Inhaber der vollziehenden Gewalt mit diktatorischen Vollmachten geworden war, konnte Kahr nicht überblicken, aber er ließ keinen Zweifel daran, dass er selbst weiterhin als Generalstaatskommissar in Bayern die vollziehende Gewalt ausüben würde. Am 11. November veröffentlichte Kahr einen von Karl Alexander von Müller am selben Tag auf Wunsch Kahrs formulierten Aufruf, dessen erste Sätze sehr klar Kahrs Anspruch zum Ausdruck brachten: «In meiner Hand ruht die gesamte vollziehende Macht des bayerischen Staates, in welchem wir den Kern eines neuen ehrenvollen und gerechten deutschen Staatswesens aufrichten wollen. Auf meinem Haupt und auf meinem Herzen liegt die Verantwortung, nicht nur für mein bayerisches Heimatland, sondern auch für die großen deutschen Aufgaben dieser Stunde, eine schier übermenschliche Last.» Kahr hielt daran fest, von Bayern aus für Ordnung im Reich sorgen zu wollen, im marxistisch und jüdisch verseuchten Berlin eine vaterländisch-nationale Diktatur zu etablieren und die parlamentarische Republik zu beseitigen. «Alle Gegner hoffen heute, dass der nationale Gedanke über dem traurigen Streich dieser Tage zugrunde geht. Aber wir lassen ihn nicht zugrunde gehen. Wir lassen nicht von unserer Fahne schwarz-weiß-rot. Wir rufen Euch auf, Euch alle wieder um sie zu sammeln. Bayern in Deutschland voran!»[10]
Der Aufruf sollte «auf der Stelle» plakatiert werden, Seißer forderte, «nicht in 50, sondern in 50.000 Exemplaren». Am Montag, den 12. November, notierte Müller ernüchtert: «Der Kahrsche Aufruf ist endlich erschienen, wieder in den üblichen winzigen Plakaten, die wie Abortpapier wirken.»[11]
Am 10. November war der Ministerrat zu seiner ersten Sitzung nach den Ereignissen zusammengekommen. Dabei ging es auch um die Frage, wie sich die Regierung zu Generalstaatskommissar Kahr stelle, der jetzt «der unpopulärste Mann in München» sei. Die Minister der Bayerischen Volkspartei und der nicht parteigebundene Handelsminister Meinel hielten es für ganz unmöglich, dass Kahr weiter in seinem Amt bleibe. Andere äußerten Bedenken, weil es als Erfolg Hitlers verstanden werden könnte, wenn Kahr jetzt gehen müsse.[12] Ministerpräsident Knilling zeigte recht deutlich seine Verärgerung über Kahr. Völlig überrascht musste die Regierung dann aber zur Kenntnis nehmen, dass Kahr keinerlei Schuldbewusstsein an den Tag legte und gar nicht daran dachte, das Generalstaatskommissariat abzugeben. Dieselbe Haltung zeigten Lossow und Seißer. Das Triumvirat forderte im Gespräch mit dem Ministerpräsidenten und dem Justizminister, jetzt erst recht voll unterstützt und von jeder «parlamentarischen Einflussnahme» freigehalten zu werden.[13]
Die schlagkräftigsten der vaterländischen Verbände und Wehrvereine machten am 10. November ihre Haltung zum Generalstaatskommissar von der Erfüllung konkreter Forderungen abhängig. Sie erwarteten, wie sie Kahr schriftlich mitteilten, erstens eine sofortige Generalamnestie und die Zusammenführung sämtlicher vaterländischen Verbände «für den inneren und äußeren Freiheitskampf», zweitens den Kampf gegen den Marxismus durch die Auflösung der SPD und ein Verbot sämtlicher sozialistischer Zeitungen und drittens «die Aufhebung der Verfassung von Weimar für Bayern sowie die Zusage, nur eine Reichsdiktatur zu stützen, die sofort dieselben Maßnahmen für das Reich anordnet.»[14] Die Führung der Brigade Ehrhardt war überzeugt: «Wenn es uns nicht gelingt in diesen furchtbaren Zeiten die vollständige Einigung unter Zurückstellung aller früheren Gegensätze zu erzielen, ist die nationale Sache verloren.»[15]
Im Gespräch mit einem amerikanischen Journalisten bekräftigte Kapitän Ehrhardt kurz nach dem Putsch, die vaterländische Bewegung sei von drei lebendigen Kräften getragen: «Nationalismus, Aktivismus und Antisemitismus. Die Aktivisten strebten eine gewaltsame Änderung an. Er glaube, dass die augenblickliche Ernährungslage und verzweifelte Stimmung der Bevölkerung Hungerunruhen, Teuerungsdemonstrationen usw. auslösen würden, sei es von rechts oder von links und diese den Anlass (zum Losschlagen) geben würden. Wann dies der Fall sei, könne man nicht sagen.»[16]
Die Einigkeit der vaterländischen Bewegung war auch Rupprecht ein großes Anliegen. Das zeigte sich nicht nur in dem Interventionsversuch, den er am 9. November auf Ersuchen Hitlers unternahm. Nach den Schüssen an der Feldherrnhalle wandte sich der ehemalige Kronprinz mit einem Aufruf, der am 11. November veröffentlicht wurde, an die bayerische Bevölkerung. Rupprecht erklärte darin, dass das «starke deutsche Bayern» und das «neuerstehende» Deutschland «untrennlich» zusammengehörten. Neben diesem reichlich vergifteten Bekenntnis zum Reich, das eben nicht der Weimarer Republik galt, gab Rupprecht von Bayern seinem «besonderen Schmerze» Ausdruck: «Stehen nicht sie gegeneinander, die alle das gleiche hohe heilige Ziel erstreben? Nur die Wege, auf denen sie ihre Ideale zu erreichen hoffen, sind verschieden.» Konsequent forderte Rupprecht die Kontrahenten des 8. und 9. November auf: «Reicht euch über trennende Meinungsverschiedenheiten, über Irrtum und Schuld, über Verwirrung und anklagendes Blut hinüber von neuem die Hand. Steht wie ehedem in fester Manneszucht zusammen, die unser Ruhm und die Wurzel unserer Kraft war und der Quell der Erneuerung und der staatlichen Wiedergeburt sein wird.»[17]
Der ehemalige Wittelsbacher Kronprinz hatte noch lange nicht seinen Frieden mit der neuen Staatsform gemacht – genau wie der hohenzollernsche, dem ausgerechnet am 9. November 1923 von der Regierung Stresemann die Erlaubnis erteilt worden war, sein Exil in den Niederlanden zu verlassen und wieder deutschen Boden zu betreten.
Als der bayerische Ministerrat am 12. November wieder zusammenkam, erschien ihm die Befürchtung nicht abwegig, es könnte zu einem zweiten Putsch kommen, «diesmal von Kahr ausgelöst». Man kam überein, dass der Abgeordnete Fritz Schäffer im Namen der Bayerischen Volkspartei mit Kahr sprechen solle. Der Ministerrat und die hinter ihm stehenden Parteien gaben Schäffer dazu einen Fragenkatalog an die Hand. Man erwartete eine klare Stellungnahme des Triumvirats, ob Landespolizei und Reichswehr der legitimen Regierung «ebenso wie Kahr» zur Verfügung stünden. Schäffer sollte auch eine Erklärung einfordern, ob der öffentliche Aufruf Kahrs auf eine illegale Diktatur Kahrs abziele oder nicht. Außerdem sollte das Generalstaatskommissariat seine Bereitschaft erklären, in Zukunft auf Eingriffe in die alleinige außenpolitische Kompetenz des Ministerpräsidenten zu verzichten und sich in finanziellen und wirtschaftlichen Fragen zuverlässig mit den entsprechenden Ministerien ins Benehmen zu setzen.[18]
Offenbar waren sich der Ministerrat und die ihn tragenden Parteien inzwischen nicht mehr sicher, ob ihnen Kahr unter- oder übergeordnet war, aber sie wagten es vorerst nicht, gegen Kahr Stellung zu beziehen. «Die besonderen Verhältnisse in Bayern erfordern, dass der bayerische Ausnahmezustand unverändert fortbesteht und die gesamte vollziehende Gewalt in einer Hand zusammengefasst bleibt,» hieß es in einer Erklärung, die der Ministerrat am 13. November veröffentlichte. Darin forderte er die gesamte Bevölkerung auf, «die Staatsregierung mit dem Generalstaatskommissar in der Festigung der staatlichen Ordnung und in der Rettung des nationalen Gedankens zum Besten unseres deutschen und bayerischen Vaterlandes zu unterstützen.»[19]
In den ersten Tagen hatte sich Kahr wegen der aufgebrachten Stimmung, die in der Stadt herrschte, in den Schutz einer Kaserne begeben. Moser berichtete am 16. November nach Stuttgart, dass er sich nun wieder im Generalstaatskommissariat aufhalte, «wo er allerdings unter starker Bewachung durch Polizeiwehr und hinter Stacheldraht haust. Seine Nerven sollen sich im Gegensatz zu denjenigen Herrn von Knillings schnell beruhigt haben, und er soll den Kopf bereits wieder sehr hoch tragen.»[20]
Wohl auch angesichts der Stimmung in der Stadt hatte die Berichterstattung der Münchner Neuesten Nachrichten bereits am 11. November erkennbar ihre Tonlage geändert. Jetzt war von einem «schwarzen Tag» in der Geschichte Münchens die Rede. «Dass Nationalgesinnte gegen Nationalgesinnte standen, blühende Menschenleben einer unseligen Verkettung von Umständen und neuen Wirrnissen zum Opfer fielen, zittert in den Herzen von Tausenden nach.»[21] Versöhnung und Zusammenführung der nationalkonservativen und der völkisch-nationalistischen Rechten war nun wieder angesagt. Von republikanischem Denken war in der bürgerlichen Presse Münchens nicht die geringste Spur zu erkennen. In einer Leserzuschrift, die von den Münchner Neuesten Nachrichten am 15. November veröffentlicht wurde, mahnte ein Jurist bereits an, «die Liquidation des verunglückten Hitlerunternehmens in großzügiger Weise vorzunehmen». Das erfordere «die höhere Staatsraison», «damit nicht die letzten Reste nationaler Werte endgültig vernichtet werden.»[22]
Am selben Tag erschien in dem Blatt der Nachruf auf den Rat am Obersten Landesgericht, Theodor von der Pfordten, der beim Putsch getötet worden war und den Entwurf einer rechtsextremen Verfassung bei sich gehabt hatte, die an die Stelle der Weimarer Verfassung treten sollte. Von der Pfordten sei ein «geistig und sittlich auf beherrschender Höhe stehender Mann» gewesen, war da zu lesen, er habe sein Wirken «dem wahren Rechte» geweiht, um dessen Erfassung und Durchsetzung er sich zeitlebens bemüht habe. «Von der Pfordten war ein echter deutscher Mann, voll glühender Liebe zum Vaterland.» Seine ganze Persönlichkeit habe er «in den Dienst der sittlichen Wiedererneuerung des deutschen Volkes» und der «politischen Wiederaufrichtung des Deutschen Reichs» gestellt.[23] Fast wortgleich lobte die amtliche «Chronik der Bayerischen Justizverwaltung» den Toten in einem Nachruf, der in der Bayerischen Staatszeitung abgedruckt wurde.
So klar Kahr in den ersten Tagen nach dem Putsch seine alte Machtposition beanspruchte und von den vaterländischen Verbänden erwartete, dass sie sich wieder geschlossen hinter ihn stellten, so unklar war allerdings das Ziel, dem all das dienen sollte. Offenbar konnte Kahr nicht recht ermessen, was es für das angestrebte nationale Direktorium bedeutete, dass nun General Seeckt Inhaber der vollziehenden Gewalt geworden war. Als Düsterberg, der zweite Vorsitzende des Bundes Stahlhelm, am 9. November zu ihm kam und ihm mitteilte, «dass die in Betracht kommenden Persönlichkeiten des Nordens am Samstag, den 10. November zu der gedachten entscheidenden Besprechung nach München kommen würden», winkte Kahr ab. Ihm sei es unmöglich, «eine leitende Stellung in der gedachten nationalen Reichsregierung einzunehmen. Sein Platz sei jetzt in Bayern.» Die geplante Besprechung fand nicht statt.[24]
Offenbar spielte Kahr in den folgenden Tagen sehr ernsthaft mit dem Gedanken, die bayerische Monarchie wieder aufzurichten und trieb dabei auch Missbrauch mit dem Namen des ehemaligen Kronprinzen. Der allerdings hatte sich schon zuvor «scharf gegen jedes Experiment mit der Monarchie ausgesprochen» und machte jetzt auch diesem Spuk schnell ein Ende.[25] Was aber konnte unter diesen Umständen Kahrs Ziel sein? Immerhin war er eine Woche nach dem Putsch noch immer der politisch mächtigste Mann in Bayern.
In Berlin hatte die demokratische und liberale Presse schon gleich nach dem Abend im Bürgerbräukeller vor allem auf Kahr gezeigt und sich mit Hitler und Ludendorff nur am Rande beschäftigt. Am deutlichsten nannte Georg Bernhard, der Chefredakteur der Vossischen Zeitung, in seinem Leitartikel am Abend des 9. November Ross und Reiter: «Herr von Kahr entpuppt sich, wenn man in die Tiefe der Ereignisse gräbt, als der wirklich Schuldige.» Kahr habe Hitler und Ludendorff vorgemacht, «was sie nachäfften». Er sei der erste gewesen, «der sich über die Schranken der Reichsverfassung hinweggesetzt hat. Er hat offenen Widerstand gegen die Reichsregierung gepredigt. Er ist der ‹starke Mann› gewesen, den die norddeutschen Hitler-Organisationen und mit ihnen die deutschnationale Presse ersehnt haben. Herr v. Kahr war der designierte Reichskanzler all dieser Kreise, dessen Ausrufung zu einem gegebenen Zeitpunkt erfolgen sollte, wenn sich nicht legal seine Ernennung durchsetzen ließ. Die den großdeutschen Zielen nachstrebenden Hitler und Ludendorff haben nur dem weißblauen Kahr zuvorkommen wollen. Das ist das Geheimnis des gestrigen Abends.» Bernhard wies sehr deutlich darauf hin, «dass es sich bei den Münchner Ereignissen nur um die verfrühte Teilexplosion eines über das ganze Land geplanten Aufruhrs handelte».[26]
Auch Ernst Feder kam in seinem Leitartikel im Berliner Tageblatt am Morgen des 10. November auf Kahr und Lossow zu sprechen. Kahr habe «die ihm zur Herstellung der Ordnung anvertraute Diktatur missbraucht». Seine Leistungen hätten sich «auf die Entwaffnung der sozialdemokratischen Sicherheitswehr sowie das Verbot der demokratischen und sozialistischen Presse beschränkt.»[27]
Die Frankfurter Zeitung warf in ihrem zweiten Morgenblatt vom 10. November vor allem die Frage auf, wer alles in den Putsch verstrickt sei: «In noch nicht 24 Stunden scheint die Revolte der Ludendorff und Hitler zusammengebrochen zu sein. (…) Aber ist das Spiel wirklich aus? Und welches Spiel ist in München gespielt worden? Welches Spiel Donnerstagabend im Bürgerbräukeller, welches am Freitagmorgen, da Kahr und Lossow wieder umschwenkten, welches am Freitagabend, da sie Ludendorff (…) in eine Art ‹Ehrenhaft› setzten und Hitler entkommen ließen? Fragezeichen über Fragezeichen erhebt sich hinter den Vorgängen dieser 24 Stunden».[28]
Erste Antworten versuchte Ernst Feder in der Abendausgabe des Berliner Tageblatts am 16. November in seinem Leitartikel «Bayern und Reich. Nach dem Putsch». Von einer Vergewaltigung des Triumvirats durch Hitler könne keine Rede sein. «Man war einig im Ziel, man stritt über das Tempo und über den Vorrang. Im Bürgerbräukeller wurde Kahr, der noch warten wollte, überrumpelt. Er gab nach. Nicht gezwungen. So wenig wie Lossow und Seißer. Lossow machte seine Entscheidung von Ludendorffs Zustimmung abhängig. ‹Euer Exzellenz Bitte ist mir Befehl.› Handschlag. Kahr ließ sich länger bitten. Ludendorff erzählt: ‹Von einer Bedrohung im Zimmer selbst sei keine Rede gewesen. Die Hitler-Leute hätten im Gegenteil mit bittend gefalteten Händen Kahr um einen entscheidenden Entschluss angefleht. Darauf habe Kahr zugestimmt und alle seien einig in freier Entschließung vor die Menge getreten.› Das war die berühmte ‹Vergewaltigung im Nebenraum›.»[29]
Feder berichtete auch über die Besprechung zwischen Kahr, Ludendorff, Lossow, Hitler und den Führern der vaterländischen Verbände am Nachmittag des 6. November und über die «Reichsdiktatur», die dabei vorbereitet worden sei. Den «Umschwung in der Nacht» zum 9. November schrieb Feder dem ehemaligen Kronprinzen Rupprecht zu, dem Kahr und die Offiziere der Reichswehr gehorcht hätten.[30] Solche Gerüchte machten damals in München allenthalben die Runde. Auch der französische Gesandte Pozzi hat sie als Tatsache nach Paris gemeldet, bis heute hat sich aber kein stichhaltiger Beleg dafür finden lassen.
Feders Resümee: «Wir wissen jetzt aus den Enthüllungen der verflossenen acht Tage (…), dass der Regiefehler Hitlers lediglich die Karten vorzeitig aufgedeckt hat, die die Hauptspieler nach wie vor in der Hand halten und zu benutzen gewillt sind.»[31] Eine Woche nach dem Putsch war keineswegs klar, ob von Bayern aus ein zweiter Versuch gestartet werden würde, eine nationale Diktatur in Berlin zu etablieren, oder ob man sich zum geordneten Rückzug mit bestmöglicher Schadensbegrenzung entscheiden würde.
Auch die zweite Variante wurde zu diesem Zeitpunkt bereits in Erwägung gezogen. Das zeigen die frühen Aktivitäten amtlicher Stellen, mit denen die Deutungshoheit über die Ereignisse des 8. und 9. November 1923 gewonnen werden sollte. Um widersprüchliche Aussagen der verschiedenen Beteiligten möglichst von vornherein zu vermeiden oder zu glätten, gab das Generalstaatskommissariat gemeinsam mit dem Wehrkreiskommando eine «Denkschrift» heraus, die als «amtliche Veröffentlichung» erschien und «entscheidend zur Bildung von Ansichten über den 8./9. November» beitrug.[32]
Nach Lossows Aussage im Prozess war die Motivation allerdings eine völlig andere. Verantwortlich sei eine riesenhafte Propaganda gewesen, die nach dem 8. und 9. November über Bayern hereingebrochen sei. Bayern sei, auch aus dem Ausland, «mit Flugblättern, mit Handzetteln, mit allen möglichen Sachen, mit Zeitungen, die nicht in Bayern gedruckt waren, aber nach Bayern hereingeschmuggelt wurden», überschwemmt worden. Dann «kam von auswärts, von den Truppenkommandeuren, von allen möglichen Leuten die Nachricht: ‹Ja, können wir denn um Gottes willen nicht die wahren Begebenheiten erfahren, um dieser Flut von falschen Nachrichten entgegentreten zu können?›»[33] Daraufhin habe man sich entschieden, die Denkschrift zu erstellen.
Die Denkschrift wurde mit den Vermerken «Vertraulich! Darf vom Empfänger nicht aus der Hand gegeben werden! Veröffentlichungen aus dem Inhalt nicht gestattet!» versehen.[34] Nur etwa 400 einzeln nummerierte Exemplare wurden gedruckt.[35] Auf die Frage, warum die Denkschrift mit diesen Vermerken versehen wurde, erklärte Lossow im Prozess: «Wenn ich hätte tun können, wie ich wollte, hätte ich die ganze Denkschrift, wie sie ist, sämtlichen Zeitungen gegeben. Man hat mir aber gesagt, das sei prozessual – das haben also die Herren Juristen gesagt – nicht zulässig».[36] Zumindest den Juristen war also klar, dass es sich beim Erstellen dieser Denkschrift um ein juristisch höchst problematisches Instrument zur Beeinflussung von Zeugen handelte. «Die ganze Aufmachung war von vornherein darauf abgestellt, den Prozess vorzubereiten, den Prozess zu beeinflussen, den Prozess vorwegzunehmen», erklärte Rechtsanwalt Roder am 4. März 1924 im Hitlerprozess.[37]
Beispielsweise sahen sich die Verfasser der Denkschrift erkennbar mit der Frage konfrontiert, wie denn Kahr, Lossow und Seißer sich darauf verständigt haben konnten, nur zum Schein auf Hitlers Ansinnen einzugehen. Eine Absprache im Nebenzimmer in Anwesenheit Hitlers und der Kampfbundführer war völlig unvorstellbar. Die Antwort in der Denkschrift lautete: «Während des beschämenden Hinausgeführtwerdens konnten sie sich noch durch Blicke und den kurzen Zuruf «Komödie spielen» verständigen, dass es für sie nur eine einzige Möglichkeit gab, die Entschluss- und Handlungsfreiheit wieder zu gewinnen, und dass sie, um unübersehbares Unglück von Bayern und Deutschland und auch von der Versammlung abzuwenden, solange zum Schein mitspielen müssten, bis sie die Freiheit wieder erlangt hätten.»[38] Das Stichwort «Komödie spielen» tauchte dann während des Prozesses immer wieder auf, von den Beteiligten wollte es mal der eine, mal der andere den anderen zugeflüstert oder zugerufen haben. Warum allerdings die Verhandlungen im Nebenzimmer so lange dauerten, warum erst Ludendorff auftreten musste, um Lossow und Seißer zu gewinnen, warum vor allem Kahr sich so lange zierte und dann auch noch seinen «König» und die Monarchie ins Spiel brachte, hat die Denkschrift nicht erklärt.
Die Zahl der Beispiele ließe sich fortsetzen. Die Denkschrift war nichts anderes als eine in Eile zusammengetragene Verteidigungsschrift des Triumvirats, mit der Leitlinien für die Deutung der Ereignisse vorgegeben werden sollten. Das zeigt sich auch an den Auslassungen und Lehrstellen. Die Denkschrift enthielt keinerlei Hinweise auf die Ausbildung der Wehrverbände durch die Reichswehr, auf Ehrhardt und den angeblichen Grenzschutz, auf die Besprechungen mit Kriebel, auf das geheime Projekt «Herbstübung 1923» und auf den Besuch Seißers in Berlin. Alles, was auf Zusammenarbeit zwischen dem Triumvirat und dem Kampfbund hätte hindeuten können, wurde verschwiegen. Stattdessen hob die Denkschrift stets darauf ab, dass Kahr, Lossow und Seißer Hitler vor Eigenmächtigkeiten gewarnt hätten, dass der sein Wort gegeben habe, nichts zu unternehmen, und diese Zusage gebrochen habe.
Schon in den ersten Tagen nach dem Putsch beschäftigte das anstehende Gerichtsverfahren die bayerische Politik und die Justiz des Reiches. Die Zuständigkeiten waren durch Artikel 13 des Republikschutzgesetzes vom 21. Juli 1922 eindeutig geregelt. Hochverrat fiel in den Bereich des Staatsgerichtshofs der Republik und war in Leipzig zu verhandeln. Bayern war jedoch nicht bereit, diese Zuständigkeit zu akzeptieren. Am liebsten hätte man in München auf einen Prozess ganz verzichtet. Rupprecht von Bayern hatte Kahr aus guten Gründen nahegelegt, eine Anklage Hitlers und der anderen Putschisten nach Möglichkeit zu unterbinden. Das amtliche Bayern hatte von einem pflichtgemäß durchgeführten Ermittlungsverfahren und einem ordentlichen Prozess nichts Positives zu erwarten, aber viel Negatives zu befürchten.
Ein Prozess war jedoch bei Berücksichtigung der gesamten politischen Umstände nicht zu vermeiden. Wie hätte man angesichts von 20 Toten und allem, was vorgefallen war, in Berlin verständlich machen wollen, dass – gegen Recht und Gesetz – nicht ermittelt, nicht angeklagt und nicht verurteilt werden sollte? Hätte eine solche Entscheidung nicht notwendigerweise den Konflikt zwischen Bayern und dem Reich so weit eskaliert, dass am Ende nur noch die Reichsexekution oder der Marsch nach Berlin als Möglichkeiten geblieben wären? Hätte sie nicht als so starkes Bekenntnis zu Hitler und der völkisch-nationalistischen Bewegung verstanden werden müssen, dass selbst einem General Seeckt nichts anderes übriggeblieben wäre, als die Reichsexekution gegen Bayern zu vollziehen?
So weit mochte man in München dann doch nicht gehen. Ein Prozess sollte also stattfinden, aber keineswegs in Leipzig, wo die Gefahr bestand, dass man zu intensiv schmutzige Wäsche aus Bayern zu waschen begann, wo Kahr, Lossow und Seißer möglicherweise «nicht nur als Zeugen aufzutreten hätten, sondern als Beschuldigte auf der Anklagebank landen könnten.»[39] Um dies zu verhindern, wurden hinter den Kulissen offenbar viele Hebel in Bewegung gesetzt. Das Reichsjustizministerium hatte in einem von Dr. Curt Joël unterzeichneten Schreiben vom 13. November an den Oberreichsanwalt die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs in Leipzig betont und um die Ausstellung von Haftbefehlen gebeten. Am 15. November führte diese politisch hoch brisante Frage bei einer ersten Besprechung im Justizministerium zu harten Diskussionen zwischen den Vertretern Bayerns und des Reiches. Die siebenseitige Niederschrift hält die beiderseitigen Argumente ausführlich fest. Bayern brachte vor, das Volksgericht München I sei in dieser Frage bereits tätig geworden, im Übrigen habe Kahr den Vollzug des Republikschutzgesetztes in Bayern sistiert. Dr. Joël blieb zwar bei seiner Rechtsauffassung und beharrte darauf, die Frage der «Überweisung» an das Münchner Volksgericht müsse als «ungemein wichtige politische Frage» vom Reichskabinett entschieden werden. «Mit unverkennbarer Ängstlichkeit» fügte er allerdings hinzu, über «die Untersuchungshandlungen des Oberreichsanwalts und des Ermittlungsrichters beim Staatsgerichtshof» solle nichts in die Öffentlichkeit gebracht werden.
Während die Vertreter der Reichsregierung sehr defensiv vorgingen und sich von vornherein in eine Position der Schwäche manövrierten, gab man sich in Bayern siegessicher und scheute auch nicht davor zurück, wieder einmal die Macht der Straße ins Spiel zu bringen. Am 14. November berichtete der württembergische Gesandte Moser über ein Gespräch mit Ministerpräsident Knilling: «Es sei für Kahr ebenso wie für die Regierung ganz unmöglich, diese Leute an einen politischen Gerichtshof, der zum Teil mit Sozialdemokraten besetzt sei, auszuliefern. Wenn er so etwas zuließe, so könnte er nicht in seiner Wohnung schlafen, sondern müsste sich wie Herr von Kahr in einer Kaserne verschanzen.»[40]
Am 17. November antwortete Oberreichsanwalt Ebermeyer auf das Schreiben des Reichsjustizministeriums: «Der Verweisung des … Verfahrens an das Volksgericht in München stehen durchgreifende Bedenken nicht entgegen.»[41] Offenbar wollte weder der Oberreichsanwalt sich engagieren noch die Reichsregierung in der Zuständigkeitsfrage einen weiteren Großkonflikt mit Bayern riskieren. Der bayerische Justizminister Franz Gürtner erklärte am 21. November in München gegenüber einem Vertreter der Reichsregierung, er sei «tatsächlich außerstande zuzulassen», dass der Hitlerprozess vor einem anderen als einem bayerischen Gericht stattfinde, «denn mit Ausnahme der Linken seien sämtliche Parteien, und zwar nicht etwa bloß die Anhänger Hitlers, der Auffassung, dass der Prozess nicht vor dem Staatsgerichtshofe stattfinden dürfe, sondern einem bayerischen Gericht vorbehalten bleiben müsse. Keine bayerische Regierung würde sich dieser Stimmung widersetzen können.»[42]
In Berlin spitzte sich zu diesem Zeitpunkt eine Regierungskrise zu, die sich fast zwangsläufig durch das Ausscheiden der SPD aus der Regierung Stresemann Anfang November ergeben hatte. Stresemann verfügte seither nicht mehr über eine Mehrheit im Parlament, und zugleich war das Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober automatisch mit dem Ausscheiden der Sozialdemokraten aus der Regierung außer Kraft getreten. Reichspräsident und Reichskanzler hofften, eine Verständigung mit Bayern erreichen zu können, bevor der Reichstag darauf bestand, wieder zusammenzutreten. Auf Drängen der SPD-Fraktion hatte der Ältestenrat beschlossen, das Parlament für den 20. November einzuberufen. Misstrauensanträge gegen Stresemann waren zu erwarten, und in der Tat musste der Kanzler am 23. November seinen Rücktritt einreichen. Am Tag zuvor aber gab Stresemann in einer herausragenden Rede einen Rückblick auf die politische Entwicklung und die Leistungen seiner Regierung seit der Aufgabe des passiven Widerstands und betonte dabei insbesondere die Währungsreform, die am 15. November mit der Einführung der Rentenmark konkret geworden war. Zugleich unterstrich er völlig zurecht, dass jetzt eine entscheidende Schwelle überschritten werde könne. «Wir sind jetzt erst eigentlich in die Liquidation des verlorenen Krieges eingetreten. Wir haben uns jahrelang über die Folgen des verlorenen Krieges getäuscht. (…) Nicht Restauration und nicht Gegenrevolution, sondern Evolution und Zusammenführung, das müssen die Grundgedanken der großen Richtlinien der Politik sein.»[43]
Es lag ganz auf der Linie dieser politischen Grundsätze, die auch für die neue Reichsregierung Gültigkeit behielten, dass man in der Frage, wo der Hitlerprozess stattfinden sollte, Bayern seinen Willen ließ. Die bestehenden Konflikte mit Bayern sollten auf dem Weg von Verhandlungen ausgeräumt werden. Zusätzliche aufzuwerfen hätte den Prozess der Verständigung und der Zusammenführung nur gestört. Welche Folgen das für den Hitlerprozess und weit darüber hinaus für die Weltgeschichte haben würde, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand auch nur ahnen.
Selbstverständlich gab es auch eine Reihe von aktuellen drängenden Problemen, denen in den politischen Machtzentralen Berlins höhere Priorität eingeräumt wurde als der Zuständigkeit für den Prozess gegen Hitler und seine Mitverschwörer. Da galt es nicht nur eine neue Reichsregierung zu bilden, die sich wieder auf eine Mehrheit im Reichstag stützen konnte, sondern vor allem General Seeckt als Inhaber der vollziehenden Gewalt so einzuhegen, dass er seine Machtposition nicht zur Errichtung einer mehr oder weniger verschleierten Militärdiktatur nutzte. Nach wie vor stand auch die Idee eines «Direktoriums» im Raum, das unabhängig vom Reichstag mit diktatorischer Gewalt regieren sollte. Niemand konnte vorhersagen, wie das Experiment enden würde, das in der Nacht vom 8. zum 9. November mit der Übertragung der vollziehenden Gewalt auf den Chef der Heeresleitung begonnen hatte.
Der Reichskanzler hatte von Anfang an versucht, den General einzubinden und hatte ihn gebeten, «soweit es seine Zeit erlaubt», an den Sitzungen des Kabinetts teilzunehmen.[44] Seeckt hat das nur selten getan. Er machte zugleich von Anfang an deutlich, dass er die ihm übertragene Aufgabe, «alle zur Sicherheit des Reiches erforderlichen Maßnahmen zu treffen», in sehr umfassendem Sinn verstand. Schon in Seeckts erstem Aufruf war die Rede davon, dass er mit aller Energie «bei der Sicherung der Ernährung» mitwirken werde.[45] Es ging Seeckt nicht nur darum, dass «Ruhe und Ordnung in Deutschland herrschen, sondern dass seine Bewohner, in ihrer Existenz sichergestellt, wieder Vertrauen zur Zukunft fassen und seine Jugend in nationaler Begeisterung wieder zur Wehrhaftigkeit drängt».[46]
Der Inhaber der vollziehenden Gewalt fühlte sich zuständig für das Verbot radikaler Parteien und missliebiger Tageszeitungen sowie für die Verhinderung von Streiks und Aussperrungen. Er verhängte Schutzhaft über mehr als 3500 Personen. Darüber hinaus plante er aber auch die Ausgabe von wertbeständigem Notgeld, machte sich an die Regulierung von Preisen und Bankkonditionen, die Sicherung der Ernährung, die Neuordnung der Erwerbslosenfürsorge und die Bekämpfung von Schlemmerei und Luxus. Seeckt dachte sogar an die Gründung einer eigenen Zeitung, die seine Politik unterstützen sollte.[47] Die deutschnationale Presse drängte, jetzt müsse mit der Diktatur «voller Ernst gemacht werden. Seeckt muss auch Reichskanzler werden, der Reichstag ausgeschaltet werden. Volle Verwirklichung der Diktatur in militärischer Hand ist notwendig.»[48]
Aber «selbstbewusste Ressortchefs» zeigten dem Inhaber der vollziehenden Gewalt mit der vollen Rückendeckung des Reichspräsidenten von Anfang an deutlich die Grenzen seiner Kompetenz auf.[49] Als Seeckt beispielsweise am 12. November, drei Tage bevor die Rentenmark offizielles Zahlungsmittel wurde, eine Verordnung über die Ausgabe wertbeständigen Notgeldes erließ, kam von Reichsfinanzminister Luther massiver Widerspruch. Luther beanstandete sowohl die mangelnde fachliche Qualifikation des Generals als auch seine nicht gegebene Zuständigkeit als Inhabers der vollziehenden Gewalt.[50] In der Auseinandersetzung mit Luther musste Seeckt zusagen, dass er es «bei nur einigermaßen normalen Umständen» nicht als seine Aufgabe ansehen werde, «sich um wirtschaftliche oder finanzielle Dinge zu kümmern», und im Notfall werde er «nur im Einvernehmen mit dem zuständigen Minister» vorgehen.[51]
Auch im Hinblick auf seine territoriale Zuständigkeit wurden dem General recht schnell Grenzen aufgezeigt. Für die besetzten Gebiete habe er keinerlei Zuständigkeit, erklärten ihm übereinstimmend der Reichsminister für die besetzten Gebiete und die alliierte Rheinlandkommission. Die «wahrscheinlich schmerzlichste Beschränkung seiner groß gedachten Vollmachten» erfuhr Seeckt aber, als er versuchte, das Land Sachsen wieder stärker unter militärische Kontrolle zu bringen. Am 13. November teilte er dem Reichskanzler mit, er habe die Absicht, den sächsischen Innenminister Liebmann «vom Amte zu suspendieren», und handelte sich damit einen unmissverständlichen Widerspruch des Reichspräsidenten ein. Eigenhändig notierte Ebert auf Seeckts Schreiben: «Eine solche Maßnahme ist nach den von mir Herrn General v. Seeckt übertragenen Vollmachten unmöglich; ein Eingriff in die Hoheitsrechte der Länder kann daraus nicht abgeleitet werden.»[52] Mit dieser Klarstellung waren wohl auch «weitreichende Pläne der militärischen Führung» erledigt, «bei denen die Herrschaft über Sachsen eine Schlüsselrolle gespielt zu haben scheint.»[53]
Ebert bestand in längeren Auseinandersetzungen mit Seeckt darauf, dass bestehende Gesetze und Verordnungen vom Militärbefehlshaber weder aufgehoben noch geändert werden könnten. Er machte Seeckt auch deutlich, dass die Übertragung der vollziehenden Gewalt an den Militärbefehlshaber zwar die Verwaltungstätigkeit der Reichs- und Landesregierungen einschränke, aber in keiner Weise ihre Funktionen als Inhaber der staatlichen Hoheit und als verantwortliche Gestalter der Politik, weshalb auch die Regierungsgewalt im eigentlichen Sinne Seeckts Kompetenz entzogen sei.[54]
Mitten in den Auseinandersetzungen um seine Kompetenzen schrieb Seeckt am 18. November an seine Schwester: «Ich habe die mir zugefallene, in einer Stunde der Angst geborene Macht in etwas weiterem Sinn aufgefasst, als sie gemeint war, um zu versuchen, trotz aller Schwierigkeiten, etwas Gutes in Gang zu bringen und zu zeigen, dass man heute noch mit einem einheitlichen Willen, hinter dem der Rest von Macht steht, etwas leisten kann.» Er habe alle gegen sich, die am «Bestand der Dinge» interessiert seien und ihren Einfluss gefährdet sehen, «alle Parteien des Reichstages, weil sie fürchten, dass ihre Herrlichkeit zu Ende geht, und auch das Ausland, das eine einigende Hand fürchte. «Und doch sehe ich keinen anderen Weg ins Freie als den einer gewissen Diktatorschaft. Ich würde es begrüßen, wenn sich ein Mann dazu findet. Mich gelüstet es nicht nach der eigenen Herrschaft, aber nach dem Ziel. Man wird versuchen, noch einmal meiner Lösung zu entgehen, die doch kommen muss und dann unter noch schwereren Kämpfen kommen wird.»[55]
Am 22. November, dem Tag vor Stresemanns Rücktritt, folgte ein Brief Seeckts an seine Frau: «Ich komme eben vom Reichspräsidenten, der auch schon am neuen Kabinett arbeitet. Wir kamen nicht friedlich auseinander, und wer weiß, ob Du mich bei Deiner Rückkehr nicht am Ende als Arbeitslosen vorfindest. Ich bin ihm zu mächtig geworden; das ist sicher, und er möchte mich rechtzeitig abfangen, nicht eben beseitigen, aber unterdrücken. Nun – das muss man denn einmal sehen …» [56]
Die Auseinandersetzungen zogen sich noch einige Zeit hin, und die Aktivitäten der Militärbefehlshaber in diesen Monaten können wohl «eher mit dem nach freiem moralischem Ermessen vorgehenden Polizeiregiment des Ancien Regime verglichen werden (…) als mit der Praxis des an die Verhältnismäßigkeit der Mittel gebundenen und auf die Abwehr unmittelbar drohender Gefahren beschränkten Rechtsstaates.»[57] Die Militärs stießen bei ihren Maßnahmen sowohl im Reich als auch in den Ländern nicht selten auf Widerstand der zivilen Exekutive und der Legislative. Oft genug kamen sie auch an die Grenzen ihrer fachlichen Qualifikation. Gleichzeitig griff die Währungsreform, und es zeigten sich erste wirtschaftliche und soziale Erfolge. Der Druck, den militärischen Ausnahmezustand aufzuheben, nahm immer mehr zu. Der Reichspräsident überließ es dem Chef der Heeresleitung, ihm mit Schreiben vom 13. Februar 1924 mitzuteilen, dass «die Staatsautorität» nun so gefestigt sei, «dass die unter dem Ausnahmezustand eingeleitete Sanierung unseres Staats- und Wirtschaftslebens auch ohne ihn weitergeführt werden kann.»[58] Seeckt schlug vor, den Ausnahmezustand zum 1. März zu beenden, und Ebert hob ihn entsprechend per Verordnung vom 28. Februar auf. Die Exekutive lag nun wieder in den Händen der Reichsregierung und der Länderregierungen.
Alle bei Kahr und in den vaterländischen Verbänden auch nach dem 9. November 1923 noch vorhandenen Hoffnungen, eine nationale Diktatur erzwingen zu können, waren inzwischen wie Seifenblasen zerplatzt. Wenn Seeckt nicht bereit war, sich offen gegen den Reichspräsidenten zu stellen und einen Bürgerkrieg zu riskieren, dann war auch mit den bayerischen Wehrverbänden, der bayerischen Landespolizei und der bayerischen Reichswehrdivision nichts auszurichten. Das bedeutete allerdings nicht, dass nun in München die Weichen unwiderruflich in Richtung Verständigung gestellt worden wären. Noch wurde in der Bayerischen Volkspartei um den richtigen Kurs gerungen. Einerseits hielt der Vorsitzende der Reichstagsfraktion, Prälat Johann Leicht, am 23. November 1923 eine Rede im Reichstag, in der er sich von Antisemitismus und Gewalt distanzierte, in der er Fehlentwicklungen in den vaterländischen Verbänden kritisierte und auch von einer «Massenpsychose» sprach, die sich in den bayerischen Vorgängen gezeigt habe, einer Massenpsychose, die abzulehnen sei.[59] Andererseits waren weder Kahr noch die Regierung Knilling willens, «gegen die völkischen Umtriebe in Bayern vorzugehen».[60]
Schon bald nach dem Putsch besann sich der bayerische Ministerrat wieder darauf, die Weimarer Verfassung in Frage zu stellen und mehr Rechte für Bayern einzufordern. Es ging um die Steuerhoheit Bayerns, aber auch um das Militär- und das Verkehrswesen, die in die Obhut Bayerns zurückgeholt werden sollten. Nach den Vorstellungen des Ministerrats sollte die Reichsbahn schlicht in zwei Sondervermögen aufgeteilt werden, nämlich eine bayerische und eine deutsche Reichsbahn. Für die Reichspost forderte die Regierung zumindest ein Miteigentum des Freistaates. Nur recht oberflächlich wurden die angestrebten Privilegien für Bayern als föderalistische Forderungen kaschiert.
Am 28. Dezember verabschiedete der Ministerrat eine Denkschrift der bayerischen Staatsregierung zur Revision der Weimarer Reichsverfassung, die im Januar 1924 der Reichsregierung übergeben wurde und Grundlage von Verhandlungen zwischen Bayern und dem Reich war. Ministerpräsident Knilling ging scheinbar mit ungebrochenem Selbstbewusstsein in diese Gespräche, ohne auch nur einen der verfassungswidrigen Zustände zu bereinigen, die in Bayern nach wie vor herrschten. Nach wie vor galt der Ausnahmezustand, den seine Regierung am 26. September verkündet hatte, nach wie vor war Generalstaatskommissar Kahr im Amt, nach wie vor amtierte General Lossow als bayerischer Landeskommandant.
Knilling musste allerdings die Erfahrung machen, dass sowohl die Möglichkeit als auch die Bereitschaft der Reichsregierung begrenzt war, Bayerns Wünsche zu erfüllen. Am Ende blieb es «bei einigen unwesentlichen Ergänzungen der Reichsverfassung». Bei seiner Sitzung am 2. Februar 1924 kam der bayerische Ministerrat überein, dass man mit diesem dürftigen Ergebnis besser nicht in die Öffentlichkeit gehen sollte.[61] Auch alle Ideen Knillings, wenigstens im eigenen Land eine gewisse Abkehr vom parlamentarischen System einzuleiten, scheiterten schon in Ansätzen, obwohl es innerhalb der Bayerischen Volkspartei durchaus einige Sympathien dafür gab. Spätestens Anfang Februar war Knilling wohl klar, dass seine Tage als bayerischer Ministerpräsident gezählt waren. Es ging jetzt darum, die Beziehungen mit dem Reich dauerhaft etwas konfliktärmer zu gestalten, und dazu war eine gewisse Neuorientierung der bayerischen Politik unumgänglich.
Im Hinblick auf den anstehenden Prozess gegen Hitler und Genossen war vor allem Schadensbegrenzung angesagt. Je geräuschloser dieses Kapitel der bayerischen Geschichte liquidiert werden konnte, desto besser. Je weniger über die Verstrickungen und Verwicklungen höchster Amtsträger zutage kam, desto eher blieb die bayerische Staatsautorität gewahrt. Akut war am dringlichsten, Kahr und Lossow aus ihren Ämtern zu entfernen, noch bevor am 26. Februar der Hitlerprozess vor dem Volksgericht München I begann. Der Ministerrat beschäftigte sich in seiner Sitzung am 9. Februar mit der Frage, wie man wohl Kahr zum Rücktritt bewegen könne – offenbar ohne Erfolg. Fünf Tage danach entschied der Landtag, den Ausnahmezustand aufzuheben, und entzog damit dem Amt des Generalstaatskommissars die Grundlage. Es dauerte weitere drei Tage, bis Kahr seine Vollmachten als Generalstaatskommissar zurückgab, nicht ohne seine Amtsführung noch einmal ausführlich zu beschreiben und zu rechtfertigen. Um ihm und sich selbst einen völligen Gesichtsverlust zu ersparen, ernannte die Landesregierung Kahr zum Präsidenten des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. Zur Bereinigung des Falles Lossow verhandelte Staatsminister Matt in Berlin und berichtete darüber am 16. Februar. Am folgenden Tag unterrichtete er Lossow, und der bot daraufhin seinen Rücktritt an. Als der Ministerrat am 18. Februar wieder zusammentrat, stellte er befriedigt fest, dass jetzt erreicht war, was er seit dem 10. November angestrebt hatte.[62]
Eines allerdings bereitete dem Kabinett erhebliches Kopfzerbrechen und hatte schon die Sitzung des Ministerrats am 9. Februar so vollständig dominiert, dass der Rücktritt Kahrs fast zur Nebensache geworden war: Anfang Februar hatte Karl Rothenbücher, Professor des Staatsrechts an der Universität München, eine Schrift mit dem Titel Der Fall Kahr veröffentlicht. Am 6. Februar wurde diese Schrift erstmals bei einer Referentenbesprechung im Generalstaatskommissariat erwähnt. Am folgenden Tag war ihr Inhalt bei einer Besprechung «allgemein bekannt». Ein Aktenvermerk des Staatsministeriums des Äußeren vom folgenden Tag hält fest, welche Strategie die versammelten Herren wählen wollten, um die Broschüre zu beschlagnahmen, ohne dass ein Verdacht auf das Generalstaatskommissariat fallen sollte, in eigener Sache zu handeln. Einverständnis bestand darüber, «dass eine stillschweigende Hinnahme der Broschüre durch den Staat mit einer schweren Einbuße des Ansehens der Staatsautorität verbunden sei.» Weil das Justizministerium nach Prüfung keine Handhabe sah, ordnete am Ende doch das Generalstaatskommissariat die Beschlagnahme an.[63]
Der Landtag beschäftigte sich in seiner Sitzung am 8. Februar mit der Beschlagnahmung, und der Abgeordnete Dr. Müller (DDP) nannte es «für unsere innerpolitischen Verhältnisse in Bayern so charakteristisch», dass «der Mann, der in dieser Broschüre allein beleidigt sein kann, (…) nunmehr die Staatsanwaltschaft, eine Behörde, für seine eigene Person vorgeschoben» habe.[64] Es kam im Verlauf zu tumultartigen Szenen, und die Sitzung wurde für mehr als eine Stunde unterbrochen.
Innenminister Schweyer berichtete am folgenden Tag im Ministerrat über die schwierige Suche nach einer Begründung für die Beschlagnahmung. Man habe «Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen» erwogen, weil in der Broschüre behauptet werde, «dass die Staatsanwaltschaft aus dem Rechte fremden Gründen die Anklage gegen den Generalstaatskommissar von Kahr nicht erhoben habe»[65] – Rothenbücher wies in der Broschüre darauf hin, dass Kahr nach wie vor als Generalstaatskommissar amtiere und dem ihm unterstellten Staatsanwalt Anweisungen erteilen könne. Der Oberstaatsanwalt habe aber befürchtet, berichtete Schweyer, damit werde man nicht durchkommen. Daraufhin sei die Polizeidirektion aufgefordert worden, die Schrift «vorläufig zu beschlagnahmen, der Generalstaatskommissar werde sie unter allen Umständen decken».[66] Zahlreiche Minister äußerten während der Sitzung am 9. Februar größte Bedenken gegen die Beschlagnahmung, weil sie strafrechtlich nicht gedeckt sei. Der Ministerrat empfahl dem Generalstaatskommissar, «dass er das Verbot von sich aus zurücknehmen solle.»[67] Professor Rothenbücher hatte offenbar eine Bombe mit enormer Sprengkraft verfasst und in der Reihe «Recht und Staat» im Verlag von J. C. B. Mohr in Tübingen veröffentlicht.
Dabei hatte Rothenbücher «nur» die veröffentlichten Aussagen Kahrs genauer unter die Lupe genommen und auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft. Er legte dar, dass nach seiner Überzeugung der Verdacht bestehe, dass Kahr gemeinsam mit Hitler habe Verfassungsbruch verüben wollen, «und nur sehr langsam, vielleicht später als Lossow, sich entschlossen hat, hievon abzustehen.»[68] Kahr habe sich niemals grundsätzlich von den Zielen distanziert, die Hitler und Ludendorff anstrebten, auch nie von der Notwendigkeit der Gewaltanwendung, sondern «lediglich Zweckmäßigkeitsbedenken, ‹Opportunitätsbedenken› gegen das Unternehmen Hitlers und Ludendorff» vorgebracht.[69] Die Übereinstimmung zwischen den Vertretern der «Staatsautorität» und den Empörern sei so groß gewesen, «dass die Revolutionäre vertrauensvoll die Vertreter der Staatsautorität von ihren geplanten Schritten in Kenntnis setzen können. Und die Vertreter der Staatsautorität fordern lediglich, dass die anderen nicht ohne sie losschlagen. Dem entspricht es auch, dass Kahr in seinen Erklärungen und durch die Presse das Verhalten Hitlers und Ludendorffs niemals als einen Verfassungsbruch, sondern lediglich als einen Disziplinbruch bezeichnet hat.»[70]
Ausführlich beschäftigte Rothenbücher sich mit der Frage, was im Nebenzimmer des Bürgerbräukellers geschehen war und wie ernst es Kahr war, als er sich danach auf offener Bühne dem Unternehmen anschloss. Neben vielen anderen Indizien brachte ihn vor allem Kahrs – ohne Not eingebrachte – eigene Idee, «die Statthalterschaft für die Monarchie» übernehmen zu wollen, zu der Überzeugung, dass Kahr «nunmehr aufrichtig und ernsthaft mittat», nachdem er sich lange gesperrt hatte. «Nun war er ganz dabei. Hatte er doch die Aussicht, neben der so genannten nationalen Revolution dem Ziel, das er sich eigentlich für Bayern gesteckt hatte, einen Schritt näher zu kommen, nämlich der Wiederherstellung des Königtums. Dass dies sein Ziel sei, hat er selbst oft genug öffentlich bekundet».[71] Gerade weil Kahr ernsthaft die Wiederherstellung des Königtums anstrebte, sei es völlig unglaubhaft, dass er jene Erklärung im Bürgerbräukeller nur zum Schein abgegeben habe, um aus der Klemme zu kommen. «Wollte er nur ‹Komödie spielen›, nur ‹irgend etwas›, ‹möglichst wenig Verbindliches› sagen, so griff er sicher nicht dazu, die Sache ‹seines Königs› mit dem verwerflichen und aussichtslosen Putsch eines Abenteurers zu verbinden. Wenn Kahr wirklich das Schiff, dessen Anker Hitler eigenmächtig gelöst hatte, nicht ernsthaft besteigen wollte, so ist es ganz unwahrscheinlich, dass er es mit dem Gute seines Königs belud.»[72]
Kahr gehörte beim Prozess, der am 26. Februar 1924 um 8.30 Uhr vor dem Volksgericht München I beginnen sollte, nicht zu den Angeklagten, sondern wurde lediglich als Zeuge geladen. Aber einige Ungereimtheiten, die Professor Rothenbücher präzise benannte, deuteten bereits darauf hin, dass München einige interessante Wochen erwarten konnte. Zumal Hitler schon früh klar war, vor welche grundsätzlichen Probleme sich die bayerischen Amtsträger mit dem Prozess gestellt sahen, und er seine Verteidiger gewiss entsprechend instruierte. Er sei zwar ein grundsätzlicher Gegner des Staatsgerichtshofs zum Schutze der Republik, hatte er am 13. Dezember bei seiner Vernehmung durch den II. Staatsanwalt Hans Ehard in Landsberg erklärt, wohin er nach seiner Verhaftung gebracht worden war. «In meinem jetzt gegebenen Falle aber halte ich das Volksgericht zur Aburteilung für ungeeignet, für befangen und für vollkommen unobjektiv. Ich halte den Staatsgerichtshof in diesem Falle für viel objektiver. Ich bin insbesondere davon überzeugt, dass das bayerische Volksgericht nicht den Mut finden wird, die notwendigen Folgerungen aus dem Verhandlungsergebnis zu ziehen, dass aber der Staatsgerichtshof nicht davor zurückschrecken würde, das zu tun. In Leipzig würden verschiedene Herren den Gerichtssaal vielleicht noch als Zeugen betreten, verlassen würden sie ihn sicher als Gefangene. In München geschieht es natürlich nicht: denn es darf ja hier nicht geschehen.»[73]