«Das Interesse, das sich in der ganzen Welt für den Hitlerprozess zeigt, steht wohl einzig da», war zum Auftakt am 26. Februar in der Presse zu lesen. Nicht weniger als 300 Pressekarten seien verlangt worden. Schon im Vorfeld seien «wieder besondere polizeiliche und militärische Maßnahmen getroffen worden, die eine Art Belagerungszustand in einem bestimmten Stadtviertel darstellen.»[1] Aus Sicherheitsgründen fand der Prozess nicht im Justizpalast, sondern in der Infanterieschule an der Blutenburgstraße statt. Die Landespolizei hatte das Gelände weiträumig abgesperrt und mit Stacheldrahtsperren sowie spanischen Reitern gesichert. Die Sicherheitskräfte waren gegen alles gewappnet, auch gegen Angriffe oder Befreiungsaktionen paramilitärischer Art. Beteiligte und Zuhörer wurden streng kontrolliert.
Blick in den zum Gerichtssaal gemachten Raum der Infanterieschule am ersten Tag des Hitler-Prozesses. Vor der Richterbank links im Bild die Angeklagten, rechts die Verteidiger.
Am 26. Februar 1924 um 8.52 Uhr eröffnete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Georg Neithardt, an diesem ersten Verhandlungstag die Sitzung. Neben Neithardt gehörten dem Gericht ein weiterer Jurist, Landgerichtsrat August Leyendecker sowie drei Laienrichter, Leonhard Beck, Christian Zimmermann und Philipp Herrmann, als Beisitzer an. Neithardt war im September 1919 zum Vorsitzenden des Volksgerichts München I berufen worden und hatte sich bereits im Verfahren gegen den Eisner-Mörder Anton Graf von Arco auf Valley einen Ruf als extrem nationalistisch orientierter Richter erarbeitet.[2] Noch bevor die Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft abgeschlossen war, konferierten «gewisse Verteidiger» sehr häufig mit Neithardt. Oberstaatsanwalt Hans Aull befürchtete, dass sich Neithardt durch diese Besprechungen bereits «ein abwegiges Urteil» gebildet haben könnte, noch bevor er die Akten habe studieren können. Der an der Untersuchung beteiligte Staatsanwalt Martin Dresse berichtete später, dass deshalb auf Veranlassung Aulls noch im Jahr 1923 im Justizministerium eine Besprechung darüber stattfand, wer den Vorsitz in dem großen Hitlerprozess führen sollte. Es seien dabei durchaus andere Namen genannt worden, «vor allem der damalige Landgerichtspräsident Stadlmeier in Aschaffenburg, der Vorsitzender in einem der größten Hochverratsprozesse im Jahr 1919 war», aber Aull habe sich nicht durchsetzen können.[3]
Wie recht Oberstaatsanwalt Aull mit seinen Befürchtungen hatte, zeigte sich am Umgang Neithardts mit Ludendorff. Der Vorsitzende hatte angeblich vor Prozessbeginn gesagt, Ludendorff sei «noch das einzige Plus», das Deutschland besitze.[4] «Neidhardt ersetzte ein ungünstiges Protokoll von Ludendorffs erstem Verhör durch eines, aus dem hervorging, dass er von den Putschvorbereitungen nichts gewusst hatte.»[5]
Dresse berichtete auch, er sei einmal vor dem Beginn des Prozesses vom Ersten Staatsanwalt Stenglein ausdrücklich beauftragt worden, Neithardt wegen Befangenheit abzulehnen, weil der durch zu viele Besprechungen vor der Verhandlung in seiner Ansicht schon stark festgelegt gewesen sei. «Zur Einreichung des Antrages kam es nicht, weil, wie mir Stenglein sagte, das Justizministerium dagegen war.»[6] So blieb es also bei Neithardt, und der konnte als Vorsitzender auch die Laienrichter zur Hauptverhandlung auswählen. Bei den von ihm Ausgesuchten handelte es sich um sogenannte «Berufsschöffen», also um Männer, die in großen Prozessen häufig eingesetzt wurden und «als stark rechts eingestellt bekannt waren.»[7]
Vor Gericht standen in diesem Verfahren 10 Männer (mit den in der Anklageschrift vermerkten Berufsbezeichnungen): Adolf Hitler (Schriftsteller), Erich Ludendorff (General d. Inf. a. D.), Ernst Pöhner (Rat am Obersten Landesgericht), Hermann Kriebel (Oberstleutnant a. D.), Wilhelm Frick (Oberamtmann bei der Polizeidirektion in München), Dr. Friedrich Weber (Tierarzt), Ernst Röhm (Hauptmann a. D.), Wilhelm Brückner (Oberleutnant der Reserve a. D.), Robert Wagner (Leutnant) und Heinz Pernet (Oberleutnant a. D. und Bankbeamter). Die Anklageschrift schilderte für jeden Angeklagten dessen spezielle Beteiligung am Hochverratsverbrechen. Sie beschränkte sich nahezu vollständig auf das Geschehen am 8. und 9. November. Hitler wurde in der Anklageschrift als «die Seele des ganzen Unternehmens» bezeichnet.[8]
Angeklagte und ihre Verteidiger beim Hitler-Prozess. Von links nach rechts: Georg Götz (Verteidiger Fricks), Otto Gademann (Verteidiger Kriebels), Justizrat Heinrich Bauer (Verteidiger Pernets), Justizrat Karl Kohl (Verteidiger Brückners), Walther Hemmeter (Verteidiger Pöhners und Wagners), Alfred Holl (Verteidiger Webers), Friedrich Weber (Führer des Bundes Oberland), Hellmuth Mayer (Verteidiger Webers), Oberstleutnant a. D. Hermann Kriebel (militärischer Führer des Kampfbundes), Lorenz Roder (Verteidiger Hitlers, Pöhners und Fricks), Justizrat Christoph Schramm (Verteidiger Röhms), General a. D. Erich Ludendorff, Justizrat Willibald von Zezschwitz (Verteidiger Ludendorffs), Adolf Hitler, Walter Luetgebrune (Verteidiger Ludendorffs), Hauptmann Ernst Röhm, Oberleutnant d. Res. a. D. Wilhelm Brückner, Oberleutnant Heinz Pernet (Stiefsohn Ludendorffs), Oberamtmann der Münchner Polizeidirektion Wilhelm Frick, unbekannter Mann mit Mütze hinter Frick, Leutnant Robert Wagner, Referendar Horst Kohl, Rechtsanwalt Karl Schramm.
Man hatte schon recht früh beschlossen, außer denjenigen, die sich Verbrechen hatten zuschulden kommen lassen, nur die prominentesten Führer vor Gericht zu stellen. Insgesamt wurden vier Verfahren durchgeführt. Das erste und wichtigste war das Verfahren gegen Hitler und Genossen. Ein zweiter Prozess fand später gegen Mitglieder des Stoßtrupps Hitler wegen des Angriffs auf die Münchener Post statt, ein dritter gegen mehrere Putschisten, die bei den amtlichen Druckereien Banknoten beschlagnahmt hatten, und ein vierter gegen die für den Waffendiebstahl im St. Anna-Kloster Verantwortlichen.[9]
Gleich nach der Verlesung der Anklageschrift beantragte der Erste Staatsanwalt Stenglein, die Öffentlichkeit auszuschließen, weil im Verfahren von der Verteidigung Dinge zur Sprache gebracht werden sollten, «deren Erörterung in öffentlicher Verhandlung schwere Gefahren für den Staat, namentlich in außenpolitischer Beziehung, herbeiführen würde. Diese Gefahren müssen im vaterländischen Interesse unter allen Umständen vermieden werden.»[10] Stenglein scheiterte mit diesem Antrag am massiven Widerstand der Angeklagten und der Verteidigung, aber immer wieder schloss Neithardt im Lauf der Verhandlungen die Öffentlichkeit aus, insbesondere wenn es um Fragen ging, bei denen die geheime und illegale Aufrüstung der Reichswehr berührt wurde.
Kennzeichnend für Neithardts Prozessführung war, dass er auf «Führung» im Wesentlichen verzichtete. Sein Hauptziel war es, wie er kurz nach Abschluss des Prozesses in einer Rechtfertigungsschrift formulierte, «um die Vernehmung der drei Herren von Kahr, von Lossow und von Seißer herumzukommen, denn bei der Gereiztheit der Stimmung der sämtlichen Beteiligten versprach die Vernehmung eine unerträgliche und das Staatsansehen schädigende Szene zu werden.»[11] Die Strategie, die Neithardt wählte, um dieses Ziel zu erreichen, erwies sich allerdings als denkbar ungeeignet. Der Vorsitzende gab den Angeklagten Gelegenheit zu grenzenloser Selbstdarstellung ihres Werdegangs, ihrer Motive und Zielsetzungen.
Allein Hitlers Verteidigungsrede am ersten Prozesstag dauerte über dreieinhalb Stunden. Er übernahm gleich zu Beginn des Prozesses die volle Verantwortung für das gesamte Geschehen, lehnte es aber ab, sich des Hochverrats für schuldig zu bekennen, «denn es gibt keinen Hochverrat gegen die Landesverräter von 1918.» Außerdem hob er darauf ab, dass es nicht nur um die Tat am 8. und 9. November gehen könne, wenn von Hochverrat die Rede sei, sondern um die ganze Gesinnung und das ganze Handeln in den Monaten zuvor. «Wenn ich wirklich Hochverrat getrieben haben sollte, so muss ich mich wundern, dass die, die damals das gleiche mit mir trieben, nicht an meiner Seite sitzen. (…) ich meine die Herren von Berchem, von Aufseß, Kahr, Lossow und Seißer und die andern alle. Dass der Herr Staatsanwalt gegen diese Herren nicht Anklage erhoben hat, muss ein Irrtum sein. (…) Solange diese Herren nicht neben mir sind, lehne ich die Schuld am Hochverrat ab.»[12]
Damit waren die Grundlinien der Verteidigung und letztlich des gesamten Prozesses beschrieben. Die Angeklagten standen zu ihren Taten und warfen zugleich Kahr, Lossow und Seißer vor, diese Taten in ihrem Wesenskern gemeinsam mit ihnen geplant und vorbereitet zu haben. Über weite Strecken ging es im Prozess um die Ziele, die Haltung und die Taten von Kahr, Lossow und Seißer. Das Triumvirat saß insgeheim mit auf der Anklagebank, auch wenn die Staatsanwaltschaft es dort nie sehen wollte und das Ermittlungsverfahren gegen die drei Herren später einstellte. Wenn der Vorsitzende die Hoffnung gehabt haben sollte, Wohlverhalten der Angeklagten dadurch erreichen zu können, dass er ihnen unbegrenzt Raum für Propagandareden im Gerichtssaal ließ, dann wurde er bereits am ersten Tag eines Besseren belehrt. Angesichts des späteren Urteils und der Urteilsbegründung ist es aber durchaus auch denkbar, dass Neithardt Hitler und den Mitangeklagten aus persönlicher Überzeugung Gelegenheit gab, den Gerichtssaal zur Bühne für ihre politische Agitation zu machen. Der Bayerische Kurier, das Organ der BVP, sprach zurecht von einem Prozess, «der von einer Gerichtsverhandlung oft nur den Namen trug und im Inhaltlichen einer völkischen Agitationsversammlung glich».[13] Der württembergische Gesandte Moser berichtete am 2. März nach Stuttgart, man habe im Allgemeinen den Eindruck, «dass die Sympathien des Vorsitzenden auf Seiten der Angeklagten sind. (…) Er gestattet den Angeklagten lange vorbereitete Volks- und Propagandareden zu halten, anstatt sie durch Fragen zu den für die Beurteilung der Straftat wesentlichen Äußerungen zu verlassen.»[14] Am 13. März ergänzte er, man werde «den Eindruck nicht los, dass, nachdem die bayerische Politik kläglichen Schiffbruch gelitten hat, nun auch die bayerische Rechtspflege versagt und sich ihrer Aufgabe keineswegs gewachsen zeigt.»[15]
Ursprünglich waren für die Hauptverhandlung nur wenige Tage angesetzt. Die Angeklagten und ihre insgesamt elf Verteidiger schafften es aufgrund der Prozessführung Neithardts daraus 25 Verhandlungstage zu machen – und das bei in der Sache geständigen Angeklagten! Von einem geordneten Strafverfahren im Sinne der Strafprozessordnung konnte beim Hitlerprozess keine Rede sein. Am 27. Februar, dem zweiten Tag, waren Weber und Pöhner an der Reihe, am dritten und am Vormittag des vierten Tages folgte Kriebel, danach Ludendorff. Röhm war am 1. März dran, und so ging es weiter, wobei nun immer wieder auch Zeugen vernommen wurden. Der Verteidigung ging es erkennbar darum, all das auf den Tisch zu bringen, was in der Anklageschrift tunlichst nicht erwähnt wurde, um Kahr, Lossow und Seißer nicht zu belasten. Sie wollte aufzeigen, dass die drei Männer wochenlang gemeinsam mit dem Kampfbund darauf hingearbeitet hatten, die Reichsregierung zu stürzen und in Berlin eine nationale Diktatur zu errichten. Sie wollte belegen, dass sie sich im Bürgerbräukeller nach anfänglichem Druck am Ende doch aus freien Stücken und überzeugt dem Unternehmen Hitlers und Ludendorffs angeschlossen hatten – und keineswegs nur «scheinbar». Und sie wollte nachweisen, dass das Triumvirat nach dem Verlassen des Bürgerbräukellers keineswegs «ungesäumt die notwendigen Maßnahmen zur Niederschlagung des Putsches» getroffen hatte, wie das in der Anklageschrift behauptet wurde.[16]
Kurz vor Beginn der Verhandlungen hatte der französische Geschäftsträger in München noch vermutet, «dass der Prozess, wenn er stattfindet nicht die erwarteten Sensationen bringt, da ein jeder daran interessiert ist, Skandale zu ersticken.»[17] Nach den ersten Verhandlungstagen machte sich dann jedoch in den demokratischen Parteien Entsetzen über das breit, was im Prozess zutage kam. Am 5. März 1924 erklärte der Zentrumsabgeordnete Ludwig Kaas im Reichstag: «Wenn man in den Prozessberichten liest, was für unmögliche Pläne dort erörtert worden sind, wenn man liest, wie die schwarz-weiße-rote Fahne nach Berlin getragen werden sollte, und wie man nach dem Sturze der «Judenregierung» Stresemann – es war mir noch nicht bekannt, dass er auch dazu gehört – beabsichtigte, die schwarz-weiß-rote Fahne über den Rhein zu tragen, (…) dann kann man nur mit äußerster Sorge in die Zukunft schauen. Wenn (…) es diesen Kreisen gelingt, das Ruder des Deutschen Reiches in die Faust zu bekommen und den Wahnsinnskurs zu steuern, der ihnen als Forderung völkischen und nationalen Denkens vorschwebt, dann Gnade Gott dem deutschen Volke!»[18]
Noch deutlicher wurde in derselben Sitzung der Sozialdemokrat Rudolf Breitscheid. «Auf der Anklagebank in München sitzt nur ein Teil von denen, die wirklich angeklagt werden müssten.» Breitscheid nannte Kahr, «von dem doch feststeht, dass er um diese Pläne der anderen gewusst hat, dass er bereit war, mit gewissen Modifikationen diese Pläne zu den seinigen zu machen». Breitscheid zeigte auf die bayerische Regierung: «Hat die Reichsregierung sich jemals ernsthaftem Zweifel darüber hingeben können, dass mit Wissen der Regierungsstellen in Bayern derartige Pläne gegen das Reich geschmiedet worden sind?»[19] Und er wies auf die bevorzugte Behandlung von Bayern hin: «Nach Thüringen, nach Sachsen hat man Reichskommissare geschickt. Wo war der Reichskommissar, den man nach Bayern geschickt hat? (…) Ausnahmezustand gegen die Arbeiterregierungen, gegen die Länder, in denen Arbeiterregierungen saßen, Bereitwilligkeit, mit sich handeln zu lassen, Bereitwilligkeit beide Augen zuzudrücken einem Lande gegenüber, von dem die größte Gefahr drohte».[20]
Obwohl viele der erschütterndsten Enthüllungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden, drohte der Prozess zum Desaster für den Freistaat zu werden. Pozzi berichtete am 13. März nach Paris: «Dank der Nachsicht des Gerichtspräsidenten konnten die Angeklagten in ihren großen Reden kühn die Taktik verfolgen, die Mitschuld der bayerischen Autoritäten am Putsch zu Tage zu fördern.»[21]
Das wurde besonders deutlich, als Kahr am 11. und 12. März als Zeuge vernommen wurde. Der ehemalige Generalstaatskommissar las vorbereitete Erklärungen vom Blatt ab und wurde vom Vorsitzenden mehrfach ermahnt, dies zu unterlassen. Kahr bestand – so gut es eben ging – darauf, lediglich über das unmittelbare Geschehen am 8. und 9. November Auskunft geben zu dürfen, antwortete ausweichend und berief sich häufig auf das «Amtsgeheimnis» oder konnte sich nicht erinnern. Auch vor Lügen schreckte er nicht zurück, wenn er annehmen konnte, dass sie ihm nicht nachzuweisen waren. Der aus Berlin angereiste französische Botschafter Margerie berichtete am 17. März vom Prozess nach Paris, die Zeugenaussage Kahrs habe «den Eindruck eines absoluten Mangels an Ehrlichkeit und an politischem Geist vermittelt. Es zeigte sich, dass der ehemalige Generalstaatskommissar ernstlich das Projekt eines Marsches nach Berlin ins Auge gefasst hat. … Wie es auch sei, Herr von Kahr hat den Eindruck erweckt, eine zweifelhafte und wenig sympathische Rolle gespielt zu haben.»[22]
Dem Kreuzverhör durch die Verteidiger und die Angeklagten – auch das ließ der Vorsitzende Richter zu – war Kahr in keiner Phase seines Auftritts gewachsen. So befragte beispielsweise Rechtsanwalt Roder ihn am 11. März zur entscheidenden Nacht vom 8. zum 9. November: «Warum haben Exzellenz von 10 bis 3 Uhr, das sind 5 Stunden, es nicht für notwendig gefunden, die Minister zu verständigen»? Kahr: «Die Minister sind verständigt worden sobald als möglich.» Roder: «Fünf Stunden ist aber etwas lang. Warum haben sie so lange gebraucht, sie zu verständigen, insbesondere darüber, dass Exzellenz nur gezwungen Komödie gespielt haben?» Kahr: «Das war nicht so einfach. Ich hatte mit anderen Dingen zu tun».[23]
Verteidiger Schramm wollte von Kahr wissen, woher er für sich oder für das bayerische Staatsministerium die Befugnis abgeleitet habe, «einen bayerischen Zivilgouverneur und Zivilkommissär für Thüringen und Sachsen zu bestimmen. Denn es war doch eine Reichsaktion». Kahr: «Ich habe ausdrücklich erklärt, dass die Bestellung nicht nur von mir ausgeht, sondern dass das eine Sache des Gesamtministeriums sei, natürlich im Benehmen mit der Reichsleitung.» Verteidiger Hemmeter wollte daraufhin wissen: «Glaubt Kahr, dass der Reichspräsident oder Reichswehrminister die Bestätigung des Vorschlags, Pöhner nach Thüringen und Sachsen als Zivilgouverneur oder Zivilkommissar zu setzen, jemals erteilt hätte?» Kahr: «Das kann ich nicht sagen.»[24] Auf ähnliche Szenen stößt man in den stenografischen Niederschriften des Hitlerprozesses auf vielen Seiten.
Der Vorsitzende konfrontierte Kahr mit den Aussagen Pöhners und Fricks, er, Kahr, habe am späten Abend des 8. November auf einen Zettel geschrieben: «Die Leitung der Staatsgeschäfte habe ich als Statthalter übernommen.» Er habe auch seine Zustimmung erteilt, dies den Pressevertretern mitzuteilen, die um Mitternacht in die Polizeidirektion geladen waren. Kahr: «Ich kann mich dunkel erinnern, dass von einer Pressebesprechung die Rede war.» Auf Nachfrage des Vorsitzenden, ob die Angaben richtig seien: «Ich kann mich an den Wortlaut nicht erinnern, aber ich will sie nicht bestreiten.»[25]
Auf ähnliche Weise verliefen auch die Auftritte des Generals von Lossow am 10. und am 14. März und die von Oberst von Seißer am 12. und am 13. März. Lossow hatte am 18. Februar sein Rücktrittsgesuch eingereicht. Ihm war nicht gestattet worden, zum Prozess seine Uniform zu tragen. Er geriet mächtig unter Druck, als er beschreiben sollte, was er unter dem «anormalen» Weg zu einer Regierungsänderung in Berlin verstehe, wenn nicht einen Putsch. Als er danach gefragt wurde, von welchen Männern die Idee eines Direktoriums stamme, das ohne Einfluss des Parlaments regieren sollte, und mit wem er verhandelt habe, lehnte Lossow die Beantwortung der Frage ab, und das Gericht fasste den förmlichen Beschluss, sie nicht zuzulassen. Als Hitler Lossow im weiteren Verlauf der Sitzung vorwarf, er habe sein Wort gebrochen, wurde er für diese «persönliche Beleidigung» und «grobe Ungehörigkeit» vom Vorsitzenden gerügt. Lossow nahm den Vorfall zum Anlass, den Gerichtssaal nach der Mittagsunterbrechung nicht mehr zu betreten. Bis zum Ende des Prozesses ignorierte er sämtliche Aufforderungen, vor Gericht zu erscheinen, und bezahlte die dafür verhängten Ordnungsstrafen.
Das Triumvirat wurde nicht nur während seiner eigenen Auftritte bloßgestellt, seine Glaubwürdigkeit wurde auch durch eine Reihe unbeteiligter Zeugen erschüttert. So erklärte beispielsweise Universitätsprofessor Geheimer Rat Michael Doeberl, wie schon erwähnt, niemand sei es in den Sinn gekommen, dass im Bürgerbräukeller Komödie gespielt worden sein könnte. Dass Kahr Pöhner sehr lange in die Augen gesehen habe, «sei ihm sogar sehr aufgefallen. In einer solchen Situation hat das so lange gedauert, dass es etwas ganz Ungewöhnliches war. Das hat namentlich auf mich einen sehr starken Eindruck geübt.» Anfangs sei «das Vorkommnis» als Überfall gedeutet worden, und es habe zuerst große Unruhe geherrscht. «Aber später, nach den Erklärungen der Herren, da war eigentlich in der ganzen Versammlung ein Enthusiasmus, wie ich ihn selten erlebt habe.» Auch der Kaufmann Hans Helmuth bestätigte, dass es «ein sehr ergreifender Akt» gewesen sei. Er könne beschwören, dass Hitler die Pistole nicht auf Kahr gerichtet, sondern sie vor ihm gesenkt habe. Hitler und Kahr hätten sich später lange in die Augen gesehen. «Das war für mich insofern bedeutungsvoll, als ich mir gesagt habe, dass sich die Herren jetzt vollständig ehrlich gegenüberstehen.»[26]
Für das Triumvirat war der Hitlerprozess ein Fiasko. Der Vorsitzende Richter Neithardt lehnte dafür allerdings jede Verantwortung ab. In seiner neunseitigen Stellungnahme vom April 1924 schrieb er: Dass die Herren von Kahr, von Lossow und von Seißer «unter die Räder kamen, war vorauszusehen und nicht zu vermeiden. (…) Die schweren Angriffe auf die Herren von Kahr, von Lossow und von Seißer, sowie sonstige Bloßstellungen erforderten, dass man auch die Angegriffenen zu Wort kommen ließ. So blieb denn der Öffentlichkeit das klägliche Schauspiel der Vernehmung des Herrn von Kahr nicht erspart. Trotz aller Bemühungen der Prozessleitung, den Zeugen von Kahr zu schützen und zu unterstützen, konnte der niederschmetternde Eindruck, den die Vernehmung machte, nicht verwischt werden.»[27]
Noch niederschmetternder dürfte für alle demokratisch gesinnten Prozessbeobachter die republikfeindliche Atmosphäre gewesen sein, die im Gerichtssaal von der ersten bis zur letzten Minute herrschte. Nicht nur die Angeklagten und ihre Verteidiger, sondern auch die meisten Zeugen hielten mit ihrer grundsätzlichen Ablehnung der demokratischen Ordnung und der Weimarer Verfassung nicht hinter dem Berg. Bei aller Auseinandersetzung über den Putsch und seine Vorbereitung herrschte im Saal grundsätzliches Einverständnis darüber, dass die Republik beseitigt und durch eine nationale Diktatur ersetzt werden müsste.
Ohne vom Vorsitzenden unterbrochen oder gar gerügt zu werden, konnten die Verteidiger ihrem Hass auf die Novemberrevolution und die Demokratie freien Lauf lassen. Verteidiger Dr. Holl sprach im Hinblick auf die Novemberrevolution von «einem verfluchten Staatsstreich ausländischen Gesindels».[28] Rechtsanwalt Hellmuth Mayer, der Verteidiger Webers, war 1919 Mitglied im Freikorps Epp gewesen. Er erklärte, dass diese Revolution «getragen wurde durch Deserteure, Fahnenflüchtige und Gesindel aller Sorten» und «nichts anderes war als Meineid und Hochverrat.» Er nannte die Weimarer Verfassung ein Instrument, «das den Machthabern der Revolution die Fortdauer ihrer Macht verbürgte» und bestritt ihre Gültigkeit für Bayern.[29]
Rechtsanwalt Dr. Hemmeter, der Führer in Ehrhardts Bund Wiking war und selbst im März 1920 an der Beseitigung der Regierung Hoffmann in Bayern mitgewirkt hatte, nannte die Novemberrevolution ein «Verbrechen», mit dem eine Zeit tiefsten Elends begonnen habe. «Nach außen hin ein sklavisches Winseln und Betteln um die Huld eines unerbittlichen sadistischen Feindes, nach innen ein wirtschaftlicher und sittlicher Verfall, wie er bis dorthin bei unserem Volke nicht für möglich gehalten worden wäre.»[30] Hemmeter empörte sich auch: «Wohin sind wir gekommen, wenn wir in einem deutschen Gerichtssaal nicht mehr sagen dürfen, dass wir Frankreich hassen».[31]
Justizrat Dr. Christoph Schramm, Rechtsanwalt in München und Vorstandsmitglied der Anwaltskammer, sprach vom ehemaligen Kronprinzen Rupprecht als «Seiner Majestät dem König».[32] Er behauptete, schon Schmerzen zu empfinden, wenn Monarchie und Republik in einem Satz genannt würden. «Die deutsche Republik, die nur durch Verrat und Meineid einer geringen Menge undeutschen Gesindels entstanden ist, kann sich unmöglich darauf berufen, dass sie rechtlich entstanden ist. Sie kann keinen Rechtschutz für sich in Anspruch nehmen.»[33]
Dr. Walter Luetgebrune, Rechtsanwalt in Göttingen, seit 1919 Verteidiger in zahllosen Prozessen von Angeklagten der extremen politischen Rechten, zitierte den Berliner Strafrechtler Bornhak: «Es muss weiterhin festgehalten werden, dass Gegenstand des Rechtschutzes durch die Strafbestimmungen über den Hochverrat nicht die auf den Hochverrat der Revolution aufgebaute Weimarer Verfassung, sondern nur die auf gesetzmäßigem Wege zustandegekommene alte Reichsverfassung ist.»[34]
Die elf aufgebotenen Rechtsanwälte waren nicht nur Verteidiger der Angeklagten, sondern Gesinnungsgenossen. Sie standen zur völkisch-nationalistischen Sache. Karl Kohl, Rechtsanwalt und Justizrat in München, legte in seinem Schlussplädoyer geradezu ein Bekenntnis ab, als er erklärte, «dass die deutsche Frage nicht gelöst wird durch Parlamentsbeschlüsse, durch Parlamentsreden und Mehrheitsbeschlüsse, sondern wie einst unter Bismarck, durch Blut und Eisen. Zur Lösung der deutschen Frage bedarf es deutscher Führer. Und diese Führer – das ist der völkische Trost – hat uns Gott gegeben. Heil Ludendorff! Heil Hitler!»[35] In den Augen Kohls war Hitler neben Ludendorff «ein zweiter Siegfried des neuen Deutschlands, der Mann, der den marxistischen Drachen erschlägt, der den deutschen Arbeiter von der marxistischen Syphilis befreit und ihn vom internationalen Schwätzer zum deutschen Staatsbürger wandelt. Diesen Mann hat Gott uns Deutschen gegeben, um uns zu erlösen aus den Klauen der roten und goldenen Internationale.» Auch solche Exzesse ließ der Vorsitzende ungerügt und unkommentiert.[36]
Hitler war der unangefochtene Star des Prozesses. 25 Tage machte er den Gerichtssaal zu seiner Bühne, zog alle Register seiner propagandistischen Fähigkeiten und inszenierte sich in seinem Schlusswort gar als Ankläger: «Ich klage an Ebert, Scheidemann und Genossen des Landesverrats und des Hochverrats vom Jahre 1918, ich klage sie an, ein 70-Millionen-Volk vernichtet zu haben». Der Vorsitzende sah sich lediglich bemüßigt, milde zu rügen: «Herr Hitler, es geht zu weit, daß Sie hier im Sitzungssaal Ebert, Scheidemann und Genossen des Hochverrats und des Landesverrats bezichtigen.»[37]
Ohne Zweifel genoss Hitler die Sympathie des Vorsitzenden Richters, aber auch der Erste Staatsanwalt Stenglein fand in seinem Plädoyer am 21. März 1924 wohlwollende Formulierungen für Hitler und sein politisches Programm: «Aus einfachen Verhältnissen hervorgegangen, hat Hitler im großen Kriege als tapferer Soldat seine deutsche Gesinnung bewiesen. Erfüllt von echter, glühender Begeisterung für ein großes deutsches Vaterland hat er nach dem Kriege aus kleinsten Anfängen in mühsamer Arbeit eine große Partei, die national-sozialistische Arbeiterpartei, geschaffen, wobei die Bekämpfung des internationalen Marxismus und Judentums, die Abrechnung mit den Novemberverbrechern, wie er die Urheber der Novemberrevolution von 1918 nennt, und die Ausbreitung des nationalen deutschen Gedankens in allen Volkskreisen, insbesondere auch in der Arbeiterschaft, die wesentlichen Programmpunkte waren.» Über Hitlers Parteipolitik habe er nicht zu urteilen, erklärte Stenglein, «sein ehrliches Streben aber, in einem unterdrückten und entwaffneten Volke den Glauben an die deutsche Sache wieder zu erwecken, bleibt unter allen Umständen ein Verdienst. Er hat hier, unterstützt durch seine einzigartige Rednergabe, Bedeutendes geleistet.» Hitler dürfe geglaubt werden, so Stenglein weiter, «dass schnöder Eigennutz ihm ferne lag.» Der Erste Staatsanwalt kam zu dem Ergebnis: «Als Mensch können wir Hitler unsere Achtung nicht versagen.»[38]
Stenglein forderte 8 Jahre Festungshaft für Hitler wegen Hochverrats. Im Hinblick auf Ludendorff plädierte Stenglein auf Beihilfe zum Hochverrat, beantragte eine Festungshaftstrafe von 2 Jahren und erklärte: «Der Schwere der Tat mit ihren furchtbaren Folgen steht gegenüber die selbstlose Hingabe Ludendorffs an die völkische Sache, der er sein Leben geweiht hat, die Reinheit seines Wollens und die Dankesschuld des deutschen Volkes gegenüber seinem großen Feldherrn.»[39] Für die acht Mitangeklagten beantragte die Staatsanwaltschaft Festungshaftstrafen zwischen 6 Jahren und 1 Jahr und 3 Monaten.[40]
Die Urteilsverkündung fand am Dienstag, 1. April 1924, 10 Uhr unter besonders strengen Sicherheitsvorkehrungen statt. Ein starkes Aufgebot von Landespolizei und berittenen Schutzleuten sperrte die durch Stacheldraht gesicherten Zugänge zum Gerichtsgebäude noch in weiterer Entfernung ab. Der Andrang zum Gerichtsgebäude war außergewöhnlich. Eine große Zahl von Besuchern war mit Blumen gekommen, die aber nicht in den Saal gebracht werden durften, sondern im Wachzimmer abgegeben werden mussten.[41]
Ludendorff war wie die meisten der Angeklagten in Uniform erschienen und hatte alle Orden angelegt. Hitler trug einen Zivilanzug und hatte das Eiserne Kreuz 1. Klasse angesteckt. Hitler, Weber, Kriebel und Pöhner wurden jeweils wegen Hochverrats zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt – das war die Mindeststrafe, die das Gesetz für Hochverrat vorsah. Darüber hinaus stellte das Gericht ihnen nach der Verbüßung von sechs Monaten Festungshaft die Aussetzung der Strafe zur Bewährung in Aussicht.
Brückner, Röhm, Pernet, Wagner und Frick wurden jeweils wegen Beihilfe zum Hochverrat zu einem Jahr und drei Monaten Festungshaft verurteilt. Diese fünf Männer konnten den Gerichtssaal als freie Männer verlassen. Ihnen wurde für den Strafrest mit sofortiger Wirksamkeit Bewährungsfrist bis 1. April 1928 bewilligt. Ludendorff wurde freigesprochen.[42]
Das Gericht billigte den Angeklagten zu, dass sie «bei ihrem Tun von rein vaterländischem Geiste und dem edelsten selbstlosen Willen geleitet waren. Alle Angeklagten, die in die Verhältnisse genauen Einblick hatten – und die übrigen ließen sich von den Mitangeklagten als ihren Führern und völkischen Vertrauensmännern leiten – glaubten nach bestem Wissen und Gewissen, dass sie zur Rettung des Vaterlandes handeln müssten und dass sie dasselbe täten, was kurz zuvor noch die Absicht der leitenden bayerischen Männer gewesen war. Das rechtfertigt ihr Vorhaben nicht, aber es gibt den Schlüssel zum Verständnis ihres Tuns. Seit Monaten, ja Jahren waren sie darauf eingestellt, dass der Hochverrat von 1918 durch eine befreiende Tat wieder wettgemacht werden müsste.»[43]
Die vom Gesetz zwingend vorgeschriebene Ausweisung Hitlers aus dem Deutschen Reich lehnte das Gericht ab. In der Urteilsbegründung hieß es: «Hitler ist Deutschösterreicher. Er betrachtet sich als Deutschen. Auf einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler, der freiwillig viereinhalb Jahre lang im deutschen Heere Kriegsdienste geleistet, der sich durch hervorragende Tapferkeit vor dem Feinde hohe Kriegsauszeichnungen erworben hat, verwundet und sonst an der Gesundheit beschädigt und vom Militär in die Kontrolle des Bezirkskommandos München I entlassen worden ist, kann nach Auffassung des Gerichts die Vorschrift des § 9 Abs. II des Republikschutzgesetzes ihrem Sinn und ihre Zweckbestimmung nach keine Anwendung finden.»[44]
Gegen das Urteil gab es keinerlei Rechtsmittel, es wurde nach Artikel 20 des Gesetzes über die Einsetzung von Volksgerichten bei inneren Unruhen vom 20. Juli 1919 sofort rechtskräftig.[45]
Die Zuhörer im Gerichtssaal und das Münchner Publikum, das sich wochenlang mit dem sensationellen Prozess befasst hatte, begrüßten die Verurteilung Hitlers, die praktisch ein Freispruch war, mit frenetischem Jubel. Der Jurist und Publizist Otto Gritschneder hatte noch Jahrzehnte später «die lebhaften Freudenausbrüche» im Ohr, die damals auf den Straßen Münchens, in den Bäckereien und Milchläden zu hören waren – auch wenn er als Zehnjähriger nichts von der Sache verstanden habe. «Hitler bekam beim Verlassen des Gerichtssaals Blumen und lautstarke Zurufe, in den folgenden Wochen erreichten die Justizbehörden Hunderte von Briefen, in denen die sofortige Freilassung des ‹tapferen Patrioten› Hitler verlangt wurde.»[46]
Nach dem Ende des Prozesses konnte sich Ludendorffs PKW nach dessen eigener Schilderung kaum «durch die mir huldigenden Menschenmassen bewegen und kam ‹stark ramponiert› vor meinem Hause in der Heilmannstraße an. Eine Abordnung von Oberland und andere Deutsche hatten sich sozusagen als Ehrenwache aufgestellt. Abends wurde mir ein Fackelzug gebracht.»[47]
Kahrs Stern war dagegen durch den Prozess noch weiter gesunken, das gesamte Triumvirat wurde verachtet und verspottet. Immer wieder, erinnerte sich Gritschneder, war der Vers zu hören:
«Kahr, Lossow, Seißer
sind drei Hosenscheißer.
Was um 10 Uhr sagt der Kahr,
ist um 11 Uhr nicht mehr wahr.» [48]
Auch die auflagenstärkste Münchner Zeitung, die Münchner Neuesten Nachrichten, begrüßte die Urteile und bekannte mit einem Leitartikel ihres Chefredakteurs, Dr. Fritz Gerlich, ganz offen, dass auch sie zu den Feinden der Republik gehörte: «Wir machen kein Hehl daraus, dass unsere menschlichen Sympathien auf Seiten der Angeklagten in diesem Prozess und nicht auf Seite der Novemberverbrecher vom Jahre 1918 stehen. Es ist auch juristisch richtig, einen Unterschied zwischen den Männern vom November 1918 und den Männern vom November 1923 zu machen. Die Männer vom November 1918 sind Landesverräter».[49] Die Frankfurter Zeitung sah dagegen im Urteil «eine Farce» und eine «Verhöhnung des deutschen Volkes».[50]
Zeitgenössische Juristen außerhalb Bayerns kritisierten das Urteil massiv, beispielsweise der bekannte Strafrechtsprofessor Alexander Graf zu Dohna. Dohna übte Kritik am Strafmaß, an der in Aussicht gestellten Bewährung und an der unterbliebenen Ausweisung Hitlers, bei der das Gesetz dem richterlichen Ermessen keinen Spielraum lasse: «Das ist nicht mehr Justiz, das ist Willkür.»[51]
Vor allem Otto Gritschneder hat sich als Jurist und Publizist jahrelang mit dem Hitlerprozess beschäftigt und das Verfahren umfassender Kritik unterzogen. Nach seiner Analyse war es ein grober Fehler, dass wichtige Teile des Sachverhalts im Verfahren gar keine Rolle spielten. Die vier erschossenen Polizisten, die Geiselnahmen, der Raub von Banknoten sowie die Zerstörung der Räume der Münchener Post hätten zwingend Bestandteil der Anklage sein müssen. «All diese Delikte erfüllen einen eigenen Tatbestand, sie gehen nicht sozusagen im Verbrechen des Hochverrats auf.»[52] Was das Strafmaß angeht, erinnerte Gritschneder daran, dass die bayerischen Volksgerichte bis zu ihrer Auflösung im Mai 1924 immerhin zwanzig Todesurteile gefällt haben. «Als angemessene Strafe konnte daher bei gerechter Würdigung dieses blutigen Staatsstreichs in einem Staat, dessen Gesetze diese Strafe zulassen, nur die Todesstrafe ausgesprochen werden, wie sie zum Beispiel am 5. Juni 1919 vom Standgericht gegen den Führer der Münchner Kommunisten und Vorsitzenden des Vollzugsrates der Zweiten Räterepublik Eugen Leviné verhängt und vollstreckt worden war.»[53]
Die nicht erfolgte Ausweisung Hitlers nannte Gritschneder «die augenfälligste Rechtsbeugung», er sieht aber auch in der in Aussicht gestellten Bewährung eine Rechtsbeugung. «Hitler hatte nämlich bereits im September 1921 eine Versammlung des Bayernbundes im Löwenbräukeller mit Gewalt schon vor ihrem Beginn sprengen lassen und wurde deshalb im Januar 1922 wegen Landfriedensbruchs zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Hiervon musste er lediglich einen Monat absitzen; der Rest wurde mit einer Bewährungsfrist bis 1926 ausgesetzt. Noch innerhalb dieser Bewährungsfrist hat Hitler nun jenen gewaltsamen Hochverrat vom November 1923 begangen. Wer während der Bewährungsfrist rückfällig wird, kann keine Bewährungsfrist mehr bekommen, er muss dazu die bisher bedingt ausgesetzte Strafe nachsitzen. Davon ist im Urteil mit keinem Wort die Rede!»[54]
Nicht nur juristisch, auch politisch waren der Prozess und das Urteil vom 1. April 1924 ein folgenreicher Skandal. Schon bei der Vorbereitung für den Prozess hatte Hitler die depressive Stimmung abgeschüttelt, die ihn nach dem 9. November 1923 befallen hatte. Zu Beginn seiner Untersuchungshaft hatte er die Aussage verweigert, war resigniert gewesen und hatte sich sogar mit Selbstmordabsichten getragen. Bei Verhandlungsbeginn hatte er Mutlosigkeit und Verzweiflung hinter sich gelassen. Der Prozessverlauf bot ihm dann die Gelegenheit, seine Fähigkeiten als Propagandaredner optimal zu nutzen. Er rechtfertigte seine Rolle beim Putsch nicht nur, sondern überhöhte und verherrlichte sie. Von Oberland und Reichskriegsflagge wurde nicht mehr gesprochen, nur noch von Hitler und der NSDAP. Auch Ludendorff begann er zu überflügeln. Hitler hatte sich während des Prozesses als unangefochtener «Führer» präsentiert und wurde von der Öffentlichkeit jetzt auch immer stärker als solcher wahrgenommen. Während des Prozesses entstand die Legende vom «Hitlerputsch», in der alle anderen Beteiligten ganz beiseitegeschoben oder auf Zwergenmaß reduziert wurden.
Aus der bayerischen Lokalgröße Adolf Hitler machten der Prozess und die intensive wochenlange Berichterstattung für einige Zeit einen Politiker, der die Schlagzeilen in ganz Deutschland beherrschte. Hitlers Namen hatten die meisten nun schon mal gehört. Mit der öffentlichen Aufmerksamkeit war nach dem 1. April 1924 allerdings Schluss. Hitler saß in Landsberg ein, und die NSDAP war verboten. Die Hakenkreuze waren schon nach dem gescheiterten Putsch aus der Öffentlichkeit verschwunden, die Sturmtrupps verbreiteten keinen Schrecken mehr, «und der Name Adolf Hitler fiel beinahe in Vergessenheit zurück», hielt Stefan Zweig später fest. «Niemand dachte mehr an ihn als einen möglichen Machtfaktor.»[55] Es war allerdings eine trügerische Ruhe. Das skandalös milde Urteil und der gesamte Verlauf des Prozesses hatten die Voraussetzungen für ein politisches Comeback Hitlers geschaffen, die helfenden Hände in München sorgten dafür, dass es tatsächlich dazu kam. Der Prozess vor dem Volksgericht München I war aus heutiger Sicht eines der folgenreichsten Strafverfahren der deutschen Geschichte.