Am Sonntag nach der Urteilsverkündung im Hitlerprozess fanden in Bayern Wahlen zum Landtag statt. Anstelle der seit dem 9. November 1923 verbotenen NSDAP trat der «Völkische Block» bei diesen Wahlen an und wurde mit hauchdünnem Rückstand auf die SPD drittstärkste Kraft. Die Bayerische Volkspartei kam auf einen Stimmenanteil von 32,8 Prozent, die SPD auf 17,2, der Völkische Block auf 17,1 Prozent. Es folgten die Vereinigte Nationale Rechte mit 9,4 Prozent und die KPD mit 6,6 Prozent der Stimmen. Die bürgerlichen Demokraten waren mit 3,2 Prozent in Bayern nur noch eine Randerscheinung.
In der Landeshauptstadt München waren die Sympathien für die völkisch-nationalistische Bewegung noch deutlich ausgeprägter. Hier erreichte der Völkische Block 33 Prozent der Stimmen und damit einen höheren Stimmenanteil als Sozialdemokraten und Kommunisten zusammengenommen. Bei der Reichstagswahl am 4. Mai 1924 sah es ganz ähnlich aus. Jeder dritte Münchner wählte 1924 die Stellvertreterpartei der NSDAP. Hitler hatte viele gute Gründe, warum er am 2. August 1935 München den Ehrentitel «Hauptstadt der Bewegung» verlieh. Dies war einer davon.
Von der nationalsozialistischen Bewegung und ihren Organisationen war zur Jahresmitte allerdings kaum mehr etwas übriggeblieben. Die NSDAP und der Völkische Beobachter waren verboten, die bekannten Köpfe der Bewegung waren inhaftiert oder ins Ausland geflüchtet. Zu diesem Zeitpunkt erschien manchem die NSDAP als Krisenphänomen einer vergangenen Zeit, das sich nun überlebt hatte. Die deutsche Wirtschaft fasste nach und nach Fuß und auch in der Reparationsfrage gab es dank der vertrauensbildenden Politik Stresemanns, der nach seinem Sturz als Reichskanzler Außenminister geblieben war, erkennbare und entlastende Fortschritte. Die junge Republik begann sich zu stabilisieren. Die Zeit der blutigen Putsche und Revolten schien vorbei zu sein.
Politisch stand Hitler nach dem Prozess vor dem Nichts. Direkt aus dem Gerichtssaal war er zur Verbüßung seiner Festungshaftstrafe wieder nach Landsberg gebracht worden. «Festungshaft» war seinerzeit nicht nur die mildeste Form von gerichtlichem Freiheitsentzug, sondern auch eine ehrenhafte. Ein Festungshäftling brauchte keine Anstaltskleidung zu tragen und war von jeder Arbeit befreit. Er konnte seine Zeit nach eigenem Belieben gestalten. Möglich waren beispielsweise Spaziergänge, Gesellschaftsspiele, Gespräche mit anderen Festungshäftlingen, Lektüre, Schreibarbeiten, Sport und auch gemeinsame Mahlzeiten. Ein Festungshäftling konnte sich selbst verpflegen, Besuche empfangen und Briefe schreiben.
Hitler während der Haft in Landsberg. Neben ihm von links nach rechts: Hitlers Chauffeur und Duzfreund Emil Maurice, Hermann Kriebel, Rudolf Heß und Friedrich Weber.
Hitler und die anderen verurteilten Putschisten schmückten ihre Zellen und Aufenthaltsräume unter stillschweigender Duldung der Gefängnisdirektion mit Hakenkreuzfahnen und anderen NS-Symbolen. «Der Nikotin- und Alkoholkonsum erinnerte eher an ein Lokal als an ein Gefängnis. Auch von der Möglichkeit der Selbstverpflegung wurde reichlich Gebrauch gemacht. Die Aufzeichnungen über Hitlers Haftkonto dokumentieren regelmäßig Abbuchungen zum Kauf von zusätzlichen Lebensmitteln.» Noch aus der Festungshaftanstalt heraus fragte Hitler bei der Daimler-Benz AG an, zu welchem Preis er «den 11/40 bzw. den 16/50 Wagen haben könnte» und ob er sofort lieferbar wäre.[1]
In den ersten Monaten seiner Haft empfing Hitler schier endlos Besucher. Insgesamt waren es während der 13 Monate in Landsberg 345 Personen an 524 Terminen, darunter auch Vertreter aus Politik und Wirtschaft.[2] Spitzenreiter war, was die gesamte Zeit der Festungshaft angeht, das Ehepaar Bechstein aus Berlin mit insgesamt 18 Stunden und 25 Minuten, was 11,6 Prozent der Besuchszeit ausmachte. Auf den Plätzen zwei und drei folgten Rechtsanwalt Roder mit 15 Stunden und 20 Minuten (9,7 Prozent der Besuchszeit) und General Ludendorff mit 13 Stunden und 55 Minuten (8,8 Prozent).[3] Hitlers Verehrer und vor allem seine Verehrerinnen überhäuften ihn mit Geschenken wie Blumen, Wein, Kuchen, Pralinen und Büchern. Die Präsente erreichten ein solches Ausmaß, dass weitere Zellen frei geräumt werden mussten, um sie unterzubringen. Anhänger und Sympathisanten schrieben ihm Berge von Briefen und Karten. Auch die Grundlagen für Hitlers «schriftstellerische» Tätigkeit wurden von seinen Freunden und Gönnerinnen prompt nach Landsberg geliefert: Schreibmaschinen, Schreibtisch und Schreibpapier – «jede Seite verziert mit einem Hakenkreuz».[4]
Schon früh trug sich Hitler mit dem Gedanken, schriftlich und ausführlich mit den Herren abzurechnen, von denen er sich verraten fühlte. Im Juni 1924 entwickelte er dann nach mehreren missglückten Anläufen ein völlig neues Konzept für sein geplantes Buch: Aus einer bloßen Abrechnungs- und Rechtfertigungsschrift sollte «ein umfassendes politisches Manifest im biografischen Gewand werden.»[5] Es ging Hitler jetzt nicht mehr nur um Rückblick, sondern auch um die Zukunft. Die NSDAP hatte bislang kein wirkliches Parteiprogramm gehabt. Das «25-Punkte-Programm» vom Februar 1920 war «nicht viel mehr als eine dürftige Sammlung vager, zum Teil widersprüchlicher Forderungen».[6] Hitler hatte nun die Absicht, eine ausformulierte ideologische Grundlage für die nationalsozialistische Bewegung zu liefern.
Anfang Juni 1924 wirbt der Eher-Verlag mit einer vierseitigen Broschüre für das geplante große Werk Hitlers. Der Erscheinungstermin wird mehrmals verschoben. Dann stellt der Verlag die Werbung ein. Unter dem neuen Titel «Mein Kampf» erscheint der erste Band von Hitlers Buch schließlich am 18. Juli 1925.
Voraussetzung dafür waren Zeit und eine gewisse Ruhe. Deshalb teilte Hitler in einer öffentlichen Erklärung mit, «dass er die Führung der nat-soz. Bewegung niedergelegt hat und sich auf die Dauer seiner Haft jeder politischen Tätigkeit enthält.» Hitler bat auch darum, «von Besuchen in Landsberg künftig absehen zu wollen». Er leide unter einer «allgemeinen Arbeitsüberlastung». Erläuternd ergänzte der Völkische Kurier, der die Erklärung am 7. Juli veröffentlichte: «Herr Hitler schreibt zur Zeit an einem umfangreichen Buche und will sich so die dafür nötige freie Zeit sichern.»[7] Die Zäsur der Haft wurde zur Voraussetzung dafür, «dass Hitler all das, was er bisher erlebt, erdacht und gelesen hatte, in Mein Kampf systematisieren und zusammenfassen konnte.»[8] Die Arbeit an dem Werk dauerte allerdings weit länger, als Autor und Verlag veranschlagt hatten – man staunt darüber angesichts des Inhalts und der völlig chaotischen «literarischen» Form. Bereits im Juni 1924 legte der Eher-Verlag eine vierseitige Werbebroschüre mit einem ausführlichen Konzept des geplanten Buches auf und schaltete eine Zeitungsanzeige. «Weder mit dem Inhalt noch mit der Struktur des späteren ersten Bandes hat dieses Konzept viel gemeinsam».[9] Hitler war offensichtlich mit dem Vorhaben überfordert und konnte nichts liefern. Nach mehreren Ankündigungen und immer neuen Verschiebungen des Erscheinungstermins stellte der Verlag seine Mitteilungen ein. Entgegen der kursierenden Legende, er habe den Text diktiert, steht heute fest: «Hitler verfasste den Text tatsächlich allein, große Teile des Manuskripts tippte er selbst auf einer Schreibmaschine.»[10] Der erste Band von Mein Kampf kam schließlich am 18. Juli 1925 auf den Markt – ein Jahr später als ursprünglich geplant.[11] Hitler war zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als ein halbes Jahr in Freiheit.
Das war keineswegs so selbstverständlich, wie das Urteil und der Bewährungsbeschluss des Volksgerichts vom 1. April 1924 auf den ersten Blick vermuten lassen. Die Staatsanwaltschaft legte gegen den Bewährungsbeschluss Beschwerde ein, «weil ihr die sofortige Bewilligung von Bewährungsfristen mit Rücksicht auf die Schwere der Straftaten nicht angezeigt schien und weil sie die Fassung des Beschlusses für unklar erachtete.» Diese Beschwerde wurde dem Volksgericht zur Stellungnahme zugeleitet. In einem Beschluss vom 22. April 1924 erklärte das Volksgericht München I daraufhin, es habe am 1. April «nicht sogleich eine endgültige Entscheidung über die Frage der Bewilligung von Bewährungsfristen treffen wollen». Es habe aber doch die Empfindung gehabt, dass fünf Jahre Festungshaft «eine zu schwere Sühne für die Tat seien». Deshalb habe das Volksgericht geglaubt, «dafür sorgen zu müssen, dass in sechs Monaten von Amts wegen und unter allen Umständen das dann zuständige Gericht sich über die Bewährungsfrist-Frage schlüssig zu machen habe.»[12]
In der Bewährungsfrage war folglich alles offen, und über sie war nach den üblichen Grundsätzen zu entscheiden, wie sie in Art. 14 der Gnadenbekanntmachung vom 5. März 1922 festgehalten waren. Bewährungsfristen konnten danach «nur Verurteilten bewilligt werden, die nach ihren persönlichen Verhältnissen und nach den Umständen der Tat besondere Berücksichtigung verdienen und die Erwartung rechtfertigen, dass sie sich auch ohne die ganze oder teilweise Vollstreckung der Strafe künftig wohlverhalten werden. Bei der Entscheidung ist besonders zu berücksichtigen, ob der Verurteilte sich nach Kräften bemüht hat, den durch die Tat entstandenen Schaden wiedergutzumachen.»[13]
Am 1. Oktober 1924 hatte Hitler die sechs Monate abgesessen, die der Gerichtsbeschluss vom 1. April als Mindesthaftzeit festgelegt hatte. Er und seine Anhänger rechneten fest mit der Entlassung zu diesem Termin.[14] Der stellvertretende Münchner Polizeipräsident Friedrich Tenner warnte allerdings am 23. September dringend vor einer vorzeitigen Entlassung Hitlers. Tenner führte aus, die Polizeidirektion habe schon in einem Bericht vom 8. Mai die Auffassung vertreten, dass Hitler seine Ziele nach der Entlassung weiterverfolgen werde und «eine ständige Gefahr für die innere und äußere Sicherheit des Staates bilden wird.» Der Neuaufbau der aufgelösten Kampfverbände sei bereits im Gang, und die wichtigsten Entscheidungen würden von den in Landsberg inhaftierten Führern Weber, Hitler und Kriebel gefasst. Hitler sei «mehr denn je die Seele der ganzen Bewegung». Er werde die völkische Bewegung wieder sammeln und ihr zu einem neuen Aufschwung verhelfen. «Ausschreitungen, wie sie noch in lebhafter Erinnerung sind, sind sicher zu erwarten.» Hitler werde auch den rücksichtslosen Kampf mit der Regierung wieder aufnehmen. «Bei dieser Sachlage», so Tenner weiter, «kann eine Entlassung mit Bewährungsfrist wohl nicht in Frage kommen. Sollte freilich wider Erwarten das Gericht Bewährungsfrist bewilligen, so ist es aus den angeführten Gründen unerlässlich, Hitler als die Seele der ganzen völkischen Bewegung auszuweisen, um so die unmittelbare Gefahr für den bayerischen Staat zu bannen.»[15]
Ebenfalls am 23. September warnte auch die Staatsanwaltschaft in einem mehrseitigen Schreiben vor einer vorzeitigen Entlassung Hitlers. Zuständig für die Bewährungsfrage war nach der Auflösung der Volksgerichte nun die III. Strafkammer beim Landgericht München I. Der Erste Staatsanwalt Stenglein beantragte, die Bewilligung einer Bewährungsfrist abzulehnen. «Von einer Abkehr von den staatsgefährlichen Absichten kann bei den Verurteilten keine Rede sein. Dass sich die Verurteilten sofort wieder in die politische Tätigkeit stürzen werden, ist unzweifelhaft; dass diese politische Tätigkeit keine Abkehr vom 8./9. November 1923 bringen wird, ist nach der Persönlichkeit der Verurteilten ebenso sicher.»[16]
Dennoch bewilligte das Landgericht München am 25. September Strafunterbrechung und eine Bewährungsfrist von vier Jahren. Gegen diesen Beschluss legte die Staatsanwaltschaft München am 29. September Beschwerde ein. Sie machte noch einmal auf geschmuggelte Schriftstücke und Aktivitäten zur Fortführung der verbotenen Verbände aufmerksam.[17] Völlig unbeeindruckt davon bewilligte am 6. Oktober 1924 auch das Bayerische Oberste Landesgericht die Bewährungsfrist für Hitler. Es verwies nun plötzlich auch auf die angeblich widersprüchliche Formulierung des Beschlusses des Volksgerichts vom 1. April 1924.[18] Mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit wandte sich die Staatsanwaltschaft am 5. Dezember zu guter Letzt noch an den Generalstaatsanwalt beim Bayerischen Obersten Landgericht und bat um dessen Unterstützung, letztlich ohne Erfolg.
Die Bayerische Gerichtsbarkeit wollte Hitler offenbar unter allen Umständen so schnell wie möglich in Freiheit sehen. Der Direktor der Festungshaftanstalt Landsberg, Oberregierungsrat Otto Leybold, wurde ein weiteres Mal aufgefordert, die «gute Führung» Hitlers zu bestätigen, und Leybold schrieb am 12. Dezember, was von ihm erwartet wurde: Hitler sei «anspruchslos in seinen persönlichen Bedürfnissen, uneigennützig, höflich. Er hat einen geraden, offenen Charakter, unterdrückt gelegentlich auftretende üble Laune oder Verärgerung, achtet den pflichtgetreuen Beamten auch dann, wenn dieser ihm nicht zu Gefallen sein kann. Heimlichkeiten liegen ihm Ferne. Er hält bei sich und seinen Haftgenossen auf Ordnung und Anstand, ist ein Mann von guter Selbstzucht und Beherrschung, fügt sich ohne Widerspruch und ohne ausfällige Kritik auch in widrige Verhältnisse und ist in diesem Sinne ein gutes Vorbild für seine Haftgenossen. Politisch hat er sich während der Haftzeit mehr und mehr zurückgezogen, seit Monaten nach außenhin ganz und gar abgeschnürt. Er muss als politischer Idealist bezeichnet werden. Wenn er die Gelegenheit wahrnimmt, seinen Haftgenossen seine politischen Ziele zu erklären, tut er das mit Zurückhaltung, ohne Aufdringlichkeit, in einer die Gegensätzlichkeiten nach Möglichkeit ausgleichenden Form in guter Ausdrucksweise. Von der Festungshaftstrafe von 5 Jahren hat er nun 13 Monate verbüßt. Er ist nach seiner Führung im Strafvollzug der Bewilligung einer Bewährungsfrist in besonderem Maße würdig».[19] Am 19. Dezember 1924 verfügte das Oberste Landesgericht endgültig die vorzeitige Entlassung Hitlers.
Bei aller berechtigten Kritik am Urteil vom 1. April 1924 wäre es also ganz verfehlt, allein Georg Neithardt und das Volksgericht München I verantwortlich dafür zu machen, dass Hitler noch vor Weinachten 1924 wieder auf freiem Fuß war. Es hätte zahlreiche Gründe und vielfältige Möglichkeiten gegeben, ihn weiter in Haft zu halten. Es war nicht gewollt.
Auch im Hinblick auf eine Ausweisung Hitlers hatte das Volksgericht München I nicht so abschließend entschieden, wie das im Urteil vom 1. April 1924 scheinbar formuliert wurde. Hitler hätte trotz des Urteils auf dem Verwaltungsweg ausgewiesen werden können. Es gab in der Münchner Polizeidirektion Überlegungen, Hitler als Ausländer nach Österreich abzuschieben. Man wandte sich an den Magistrat von Linz, der das Heimatrecht Hitlers anerkannte und am 20. April mitteilte, «dass gegen die Übernahme Hitlers im Falle einer gesetzlich begründeten Ausweisung von der oberösterreichischen Landesregierung keine Einwände erhoben würden.» Die Münchner Polizeidirektion verständigte nun auch die österreichische Grenzstelle Passau, und so war Anfang Mai alles vorbereitet, um Hitler sofort nach seiner Entlassung von der bayerischen Polizei nach Österreich abschieben zu lassen.[20]
Im September erfuhr allerdings die Bundesregierung in Wien von diesem Vorhaben und schob entschieden einen Riegel vor. Sie fürchtete, dass Hitler in Österreich politisch aktiv werden könnte und wies die Landesregierung in Linz und alle Grenzbahnhöfe an, Hitler auf keinen Fall das Betreten Österreichs zu gestatten. «Der österreichische Bundeskanzler Dr. Ignaz Seipel bestritt das Heimatrecht Hitlers, indem er ausführte, dass Hitlers Dienst im deutschen Heer den Verlust seiner österreichischen Staatsbürgerschaft nach sich gezogen hätte.» Das bayerische Innenministerium wandte sich an das Bayerische Kriegsarchiv, um zu erfahren, «wie es zu Hitlers Aufnahme in das bayerische Heer gekommen sei und wie die rechtliche Lage bei dem Eintritt kriegsfreiwilliger Österreicher in das bayerische Heer gewesen wäre.» Man stellte fest, dass Hitler gar nicht hätte aufgenommen werden dürfen, sondern den österreichischen Grenzbehörden hätte übergeben werden müssen.[21]
Damit war auch die Möglichkeit einer Ausweisung nach Österreich fürs Erste erledigt. Um sie auch für die Zukunft nicht mehr fürchten zu müssen, bat Hitler mit Schreiben vom 7. April 1925 die Stadt Linz um «Entlassung aus der Österreichischen Staatsbürgerschaft».[22] Die österreichische Regierung genehmigte diese Entlassung mit erstaunlicher Geschwindigkeit bereits am 30. April. Österreich wollte mit diesem Sohn der Alpenrepublik nichts mehr zu tun haben – und das so schnell wie möglich.
Anders sah das in München aus, wo man ihm nach seiner Entlassung ein Comeback ermöglichte. Hitler machte sich sofort an die Neugründung der Partei, was natürlich voraussetzte, dass die bayerische Regierung das bestehende Verbot der NSDAP aufhob. Um das zu erreichen, ließ er den bayerischen Ministerpräsidenten Heinrich Held (BVP) um einen Termin bitten, und Held lehnte nicht etwa ab, sondern traf sich bereits am 4. Januar 1925 mit Hitler. Held war seit einem halben Jahr im Amt, nachdem Eugen von Knilling aufgrund der massiven Verluste der BVP bei den Landtagswahlen im Mai 1924 zurückgetreten war. Am 28. Juni 1924 war dann Heinrich Held, bis dahin Fraktionsvorsitzender der BVP, von einer Koalition aus BVP, DNVP, DVP und Bauernbund zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Die Koalition reichte von der konservativen bürgerlichen Mitte bis weit nach Rechtsaußen, schloss aber den rechtsextremistischen Völkischen Block nicht mit ein. Die Regierung war durch die Wahl Helds dichter an das Parlament herangerückt, als das bei seinen Vorgängern Kahr, Lerchenfeld und Knilling der Fall gewesen war, die alle drei den Typus des «Beamten-Ministerpräsidenten» verkörperten. Das konservative Lager in Bayern begann jetzt offenbar, sich ernsthafter auf die parlamentarische Demokratie einzulassen.
Im Gespräch mit Held gab sich Hitler reumütig und versprach, sich künftig im Rahmen der Legalität bewegen zu wollen. Er distanzierte sich klar von den Angriffen Ludendorffs gegen die katholische Kirche. Der Ministerpräsident erklärte, die bayerische Regierung werde Zustände, wie sie vor dem Putsch geherrscht hätten, «unter keinen Umständen dulden», sondern ihnen «mit allen Mitteln der Staatsautorität» entgegentreten. Offenbar gelang es Hitler, einen geläuterten Eindruck auf Held zu machen, denn der erklärte sich schließlich bereit, das Verbot der NSDAP und des Völkischen Beobachters aufzuheben. «Die Bestie ist gezähmt», soll er geäußert haben. «Jetzt kann man die Fesseln lockern.»[23]
Segensreich für Hitler war, dass der bayerische Justizminister auch im Kabinett Held immer noch Franz Gürtner hieß. Gürtner hatte seit seinem Amtsantritt im August 1922 seine schützende Hand über Hitler gehalten und sie ihm auch nach dem Putsch und während der Haftzeit nicht entzogen. Gürtner gehörte der Bayerischen Mittelpartei an, dem regionalen Ableger der DNVP, und hoffte noch immer darauf, den Nationalsozialisten ihren Extremismus austreiben und sie für die national-konservative Sache gewinnen zu können. Gürtner blieb bis 1932 Justizminister in Bayern und wechselte dann unter Reichskanzler Franz von Papen in gleicher Funktion in die Reichsregierung. Hitler sah keinerlei Anlass, Gürtner irgendwann abzulösen. Er blieb Justizminister bis zu seinem Tod am 29. Januar 1941 und war verantwortlich für die Pervertierung des deutschen Rechtssystems in diesen Jahren.
Gleich zu Jahresbeginn 1925 setzte Gürtner sich für die Wiederzulassung der NSDAP ein, und bereits Mitte Februar wurden die Verbote für die Partei und ihr Presseorgan aufgehoben. Am 26. Februar erschien der Völkische Beobachter erstmals wieder, und gleich am folgenden Tag hatte Hitler seinen ersten öffentlichen Auftritt. Demonstrativ hatte er den Bürgerbräukeller gewählt, den Ort des Putsches vom 8. November 1923. Schon Stunden vor Beginn war der Saal überfüllt, und seine Anhänger begrüßten Hitler frenetisch, als er endlich mit der üblichen Verspätung auftauchte. In seiner Rede machte er dort weiter, wo er im November 1923 aufgehört hatte. Mit seinen sattsam bekannten antisemitischen Hetztiraden peitschte er die Stimmung im Saal fast zwei Stunden auf. Erst dann, gegen Ende seiner Rede, kam Hitler auf das eigentliche Thema des Abends zu sprechen, die Neugründung der Partei. Er appellierte an alle die «im Herzen alte Nationalsozialisten geblieben» seien, die Streitaxt zu begraben und sich um ihn zu scharen. An seinem Führungsanspruch ließ er keinerlei Zweifel aufkommen. Die Veranstaltung endete mit einer «geschickt arrangierten Versöhnungsszene zwischen den verfeindeten Wortführern der NSDAP-Nachfolgeorganisationen», die sich auf dem Podium demonstrativ die Hände reichten. Noch am selben Abend «ließ Hitler sich mit Winifred Wagner, die er in den Bürgerbräukeller eingeladen hatte, in seinem neuen Mercedes nach Bayreuth chauffieren.»[24]
Hitlers erster öffentlicher Auftritt hatte ein Nachspiel. Ganz im Widerspruch zu seinen Beteuerungen, sich künftig im Bereich der Legalität zu bewegen, hatte Hitler in seiner Rede formuliert: «Entweder geht der Feind über unsere Leiche oder wir über die seine». Vor allem wegen dieser Äußerung verhängte die bayerische Regierung am 7. März ein Redeverbot über ihn. Preußen und die meisten anderen Länder schlossen sich diesem Verbot an.
Dieses Redeverbot hätte durchaus ein massiver Schlag gegen Hitler sein können, denn es nahm ihm seine stärkste Waffe, die Rede in Massenkundgebungen. Es erstreckte sich allerdings nicht auf geschlossene Veranstaltungen und Mitgliederversammlungen und bot deshalb Hitlers Gönnern die Chance, ihm hilfreich unter die Arme zu greifen. Besonders Elsa Bruckmann war dabei sehr aktiv, die Frau des Verlegers Hugo Bruckmann. Ihr Salon hatte vor 1914 einem breiten Kreis von namhaften Künstlern und Gelehrten Gelegenheit zum intellektuellen Austausch gegeben, sich aber nach 1918 zunehmend zum Treffpunkt völkisch-antisemitischer Autoren und Politiker entwickelt. Elsa Bruckmann hatte Hitler schon im Februar 1921 erstmals gehört, kam aber offenbar erst während seiner Haft in Landsberg in näheren Kontakt mit ihm. Ende Dezember 1924 betrat Hitler dann zum ersten Mal den Salon Bruckmann im Palais am Karolinenplatz Nr. 5. Nachdem das Redeverbot gegen ihn verhängt war, konnte Hitler häufig in diesem Salon vor ausgewählten Kreisen von 40 bis 60 Gästen sprechen, «meist einflussreichen Vertretern von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur».[25]
Das Redeverbot für Hitler galt in Bayern bis zum März 1927, Justizminister Gürtner setzte sich massiv für seine Aufhebung ein. Zwei Jahre lang war es durch Hitlers Sympathisanten und Gönner in den besten Kreisen Münchens systematisch unterlaufen worden. Sie halfen Hitler die Durststrecke der «goldenen Zwanziger Jahre» zu überstehen, in denen er mit seinen völkisch-nationalistischen Vorstellungen kaum Anklang beim Wahlvolk fand, auch nicht in Bayern. Der wirtschaftliche Aufschwung, die Stabilisierung der politischen Verhältnisse und durchaus auch die neue vielfältige Kultur der Weimarer Republik waren kein günstiger Nährboden für Demagogen und Ideologen wie ihn. Bei der Reichstagswahl am 20. Mai 1928 kam die NSDAP auf 2,6 Prozent der Stimmen. Bei der am selben Tag stattfindenden Wahl des Landtags in Bayern erreichte sie 6,1 Prozent und verlor damit zwei Drittel der Stimmen, die der Völkische Block vier Jahre zuvor erreicht hatte.
Aber die Partei und ihre Organisationen wurden durch ihre Gönner und Sympathisanten in den «besseren Kreisen» aufrechterhalten. Die Schlägertrupps der SA und der SS demonstrierten bald wieder bei jeder Gelegenheit in Uniform und gingen, besonders in Saalschlachten, rücksichtslos gegen ihre Gegner vor. Trotz der bescheidenen Wahlerfolge der NSDAP verschwanden die Uniformen ihrer Organisationen keineswegs vollständig aus dem Straßenbild. SA und SS standen bereit, als durch die Weltwirtschaftskrise die Karten ganz neu gemischt wurden. Bereits bei den Reichstagswahlen am 14. September 1930 erreichte die NSDAP 18,3 Prozent der Stimmen und wurde hinter der SPD zweitstärkste Partei. In Bayern blieb die BVP bei diesen Reichstagswahlen stärkste Partei, die NSDAP landete mit 17,9 Prozent der Stimmen hinter der SPD auf Rang 3.
Ohne die helfenden Hände in München und Bayern wäre dieser Aufstieg nicht denkbar gewesen. Nur durch ihre massive Unterstützung konnte Hitler das Fiasko des Putsches vom 8./9. November 1923 hinter sich lassen und die NSDAP in der großen Wirtschaftskrise ab 1929 zur führenden politischen Kraft in Deutschland werden.