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Verhindern, verzögern, vertuschen –
Bayerns politische Aufarbeitung des Putsches

Die maßgeblich von der BVP geprägte bayerische Politik hat durch vielfältige Versäumnisse zu Hitlers politischem Überleben beigetragen. Sie hat aber nicht bewusst und zielgerichtet auf seinen Aufstieg am Ende des Jahrzehnts hingearbeitet. Hitler war nach dem Putsch für sie als politischer Faktor erledigt, und man beschäftigte sich mit ihm allenfalls am Rande, nach Möglichkeit jedoch gar nicht. Vor allem der BVP, seit dem kalten Putsch im März 1920 dominierende Kraft im Land, war sehr daran gelegen, über die Ordnungszelle Bayern ein großes Tuch des Schweigens zu legen. Die wahnwitzigen Pläne, das angeblich jüdisch und marxistisch verseuchte Berlin von München aus zu «retten», sollten möglichst schnell und konsequent vergessen werden. An einer ernsthaften Aufarbeitung von politischen Fehlern und Irrwegen war die Partei nicht interessiert. Ihr Fraktionsvorsitzender Heinrich Held sprach zwar im Februar 1924 davon, Bayern sei im Jahr zuvor «eine Unordnungszelle ersten Ranges geworden»,[1] kam aber über eine pauschale und oberflächliche Distanzierung von der Politik Knillings und Kahrs nicht hinaus. Er hatte diese Politik ja als Fraktionschef der dominierenden Regierungspartei nicht nur hingenommen, sondern wesentlich mitgestaltet.

In der Sitzung des Bayerischen Landtags am 6. Februar 1924 versuchte Held die besondere Form der Revolution in Bayern dafür verantwortlich zu machen, dass sich die Dinge in Bayern ganz anders entwickelt hatten als in Württemberg, Baden, Hessen oder Preußen. Ein ausführliches Zitat aus dieser Rede ist aufschlussreich.

«Haben wir nicht in Bayern eine ganz besondere Art der Revolution durchgemacht, eine Revolution, so scheußlich, wie in keinem anderen Landesteile Deutschlands? Hat es sonstwo noch einen Eisner gegeben, der Bayern und das ganze Reich an die Entente verraten hat, dem allein vor allem zuzuschreiben ist, dass die Schuldlüge nicht verstummen will? Dem allein es zuzuschreiben ist, dass Poincaré bis zum heutigen Tage seine unverschämten Forderungen basieren kann auf der Alleinschuld Deutschlands. Das war der Herr Eisner und seine Spießgesellen, die diese Revolution in Bayern hervorgebracht haben, in dem Bayern, von dem anerkannt wird, dass es vor der Revolution und vor dem Kriege sicherlich mit zu den freiheitlichsten zu den – wenn Sie wollen – demokratischsten Ländern Deutschlands gehört hat. Vergessen Sie doch diese Tatsache nicht und vergessen Sie nicht die Wirkung dieser Tatsachen der Eisnerschen Revolution und was drum und dran hängt, auf das Volk, seine Nachwirkungen bis auf den heutigen Tag! Wenn sie heute wirklich in nationale Kreise kommen und es kommt die Rede darauf, so ist alles voll Empörung und Entrüstung über die Tat eines Eisner, namentlich über den schmählichen Verrat Deutschlands Frankreich gegenüber. (…) Nach Eisner, was haben wir dann erlebt? Die Gräuel und Scheußlichkeiten einer Räterepublik! Wir stehen doch heute noch alle unter dem Eindrucke der Erinnerung; wir denken mit Entsetzen an das, was damals bei uns war und wie es ähnlich heute von den Separatisten in der Pfalz getrieben wird. Glauben Sie, diese Dinge graben sich nicht tief in die Seele eines Volkes ein? Glauben Sie, sie haben nicht ihre Wirkungen fern und fern auf viele Jahrzehnte hinaus?»[2]

Die Ursachen für die politische Entwicklung Bayerns von 1920 bis 1924 sah der BVP-Fraktionsvorsitzende und spätere Ministerpräsident ausschließlich in der Revolution von 1918/19. Etwas tiefer gehende Analyse oder gar Selbstkritik lagen Held fern, kein Gedanke, dass auch andere Faktoren als der Verlauf der Revolution eine Rolle gespielt haben könnten. Die Geschichte dieser Verteidigungslinie der BVP reicht bis in die Geschichtsschreibung unserer Gegenwart. Bemerkenswert ist allerdings, dass es offenbar für den Zeitgenossen Held vor allem die Eisnersche Politik des «Landesverrats» war, die zu den Verwerfungen der bayerischen Nachkriegspolitik geführt hatte, während er auf die Räterepublik deutlich weniger scharf und in einem Atemzug mit den separatistischen Bestrebungen in der Pfalz zu sprechen kam. Heute wird dagegen Eisner in diesem Kontext kaum mehr erwähnt und stattdessen vor allem die Räterepublik verantwortlich gemacht.

Held ging am 6. Februar 1924 gar so weit, die Verteidigung der Republik gegen die von Bayern aus operierenden Mordorganisationen für die Politik Bayerns im Jahr 1923 verantwortlich zu machen: «Denken Sie an die Auswirkungen der Republikschutzgesetze, denken Sie an die systematische Zertrümmerung unserer Einwohnerwehren usw., dann müssen Sie doch begreifen, dass die Dinge nahezu gesetzmäßig so kommen mussten, wie sie vielfach in Bayern gekommen sind.»[3]

Noch im selben Monat hatte dann der Hitlerprozess begonnen, und vor Gericht war aufgrund der Verteidigungsstrategie einiges zur Sprache gekommen, was die Spitze der BVP gern geheim gehalten hätte. Wichtige Tatsachen und Verbindungen waren allerdings noch nicht öffentlich bekannt geworden, weil sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt worden waren. Oder sie lagen noch ganz im Dunkeln, weil Kahr, Lossow und Seißer nicht angeklagt waren und das Gericht Beweisaufnahmen, die in ihre Richtung gingen, in aller Regel ablehnte.

Das war vor allem einem jüngeren SPD-Abgeordneten ein Dorn im Auge, der im April 1924 erstmals in den bayerischen Landtag gewählt wurde. Noch bevor der neue Landtag zu seiner konstituierenden Sitzung in seinem damaligen Sitz in der Prannenstraße 16–23 zusammenkam, begann der 36-jährige Jurist Wilhelm Hoegner auf die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses hinzuarbeiten. Das war in der jungen deutschen Demokratie ein noch völlig neues politisches Instrument, das die Rechte der Opposition im Parlament stärken sollte. Von Anfang an war es Hoegners Ziel, Hitlers Putsch im Kontext zu untersuchen und die rein politisch motivierte, sachlich völlig unangebrachte Begrenzung auf das Geschehen am 8. und 9. November, die für die Arbeit der Staatsanwaltschaft und den Prozess gegolten hatte, hinter sich zu lassen.

Schon früher, am 21. November 1923, hatte es einen ersten Antrag der SPD auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gegeben. Gegen einen solchen Ausschuss war damals vorgebracht worden, er würde dem Hitlerprozess vorgreifen und die Richter beeinflussen. Das hat die SPD dazu bewogen, auf die Einsetzung zu verzichten.[4] Mit dem Ende des Hitlerprozesses waren solche Bedenken erledigt. Zusätzlich bestärkt wurde Hoegner vermutlich auch durch die Entscheidung der Staatsanwaltschaft München I vom 12. Mai 1924, das Ermittlungsverfahren gegen Kahr, Lossow und Seißer einzustellen, weil bei den Beschuldigten ein Vorsatz, sich an dem Putsch zu beteiligen, nicht erwiesen sei.

Bereits in der konstituierenden Sitzung am 3. Juni 1924 brachte die Fraktion der SPD den Antrag ein, einen Ausschuss einzurichten «Zur Untersuchung der Vorgänge am 1. Mai 1923 in München und der gegen Reichs- und Landesverfassung gerichteten Bestrebungen in Bayern, die in der Zeit vom 26. September bis 9. November 1923 aufgetreten sind». Nach § 52 Abs. 2 der Bayerischen Verfassung war für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ein Antrag von mindestens einem Fünftel der Abgeordneten notwendig. Konkret betrug das Quorum im Juni 1924 26 Abgeordnete. Da die SPD lediglich über 23 Mandate verfügte, war sie auf die Unterstützung von Angehörigen anderer Fraktionen angewiesen.

Mit Schreiben vom 9. Juli 1924 an den Ministerpräsidenten, inzwischen Heinrich Held, erhoben die Vaterländischen Verbände Augsburgs «Einspruch gegen die von sozialdemokratischer Seite geforderte Schaffung eines Parlamentarischen Ausschusses zur Untersuchung der gegen Reichs- und Landesverfassung gerichteten Bestrebungen in Bayern während des vergangenen Jahres. Darüber ist bereits in aller Öffentlichkeit verhandelt worden; was jetzt noch erreicht werden kann, ist nur das schmachvolle Schauspiel, dass die Tragik des 9. November, die ihren Abschluss im Hitlerprozess gefunden hat, wieder hervorgezerrt wird, um sozialistischen Agitationsbedürfnissen neue Nahrung zu geben.»[5]

Wie strittig der Untersuchungsausschuss war, zeigte sich auch im zunächst zuständigen Verfassungsausschuss, wo sämtliche bürgerlichen Parteien seine Einsetzung ablehnten, besonders die weiß-blau und schwarz-weiß-rot orientierten. Ihre Blockadehaltung führte jedoch nicht zum Erfolg, denn der Völkische Block, die Ersatzorganisation der NSDAP, war am 31. Juli 1924 bereit, die Einsetzung des Untersuchungsausschusses mit zu beantragen, weil «in Richtung gegen Kahr, Lossow und Seißer» die notwendige Aufklärung noch nicht erfolgt sei – so der Abgeordnete Rudolf Buttmann vom Völkischen Block im Bayerischen Landtag.[6]

Hoegner führte in der Sitzung am 31. Juli die Fragen im Einzelnen auf, mit denen sich der Ausschuss nach den Vorstellungen der Sozialdemokraten zu beschäftigen hatte. Einige der Fragen bezogen sich auf die Vorfälle am 1. Mai 1923. Im Kern sollte hier geklärt werden, ob am 1. Mai ein Staatsstreich beabsichtigt war. Ganz im Mittelpunkt stand jedoch das Geschehen vom September bis November 1923. Das begann mit den Gründen für die Errichtung des Generalstaatskommissariats und angeblichen Plänen Kahrs, eine eigene Guldenwährung für Bayern zu schaffen. Eine ganze Reihe von Fragen beschäftigte sich mit der Rolle Ehrhardts in der Planung Kahrs. Hatte Kahr ihn nach Bayern gerufen? Hatte Kahr ein Staatskommissariat für Thüringen geplant? Was war mit den Ehrhardt-Truppen in Nordbayern beabsichtigt? Aus welchen Mitteln wurden sie bezahlt? Der Ausschuss sollte auch Licht in den Bruch Bayerns mit dem Reich im Oktober bringen: Wer hat verhindert, dass General Lossow seines Dienstes enthoben wurde, so wie das der Reichswehrminister verfügt hatte? Welche Minister waren mitverantwortlich für die Verpflichtung der Reichswehr auf Bayern? Wer war dafür verantwortlich, dass Haftbefehle des Reichsgerichts nicht vollstreckt wurden? Wer hat angeordnet, dass die bayerischen Steuern nicht nach Berlin abgeführt werden sollten?

Ganz zentral war die Frage zu klären: «War militärischer Marsch nach Berlin mit Staatsstreich von bayerischen Behörden geplant?» Und in diesem Zusammenhang: «Hat Kahr vor dem 8. November 1923 das Gesamtstaatsministerium darüber unterrichtet, dass im Reich auf normalem oder anormalem Weg eine Reichsdiktatur mit Kahr an der Spitze errichtet werden solle?» «Welchen Inhalt hatten die Verhandlungen des Herrn von Kahr mit Minoux, Tirpitz, Scheer, Kriebel über die Anwendung des anormalen Druckes?» «Hat Herr von Kahr durch Ehrhardt tatsächlich Gelder (20.000 Dollar) für den Marsch nach Berlin in Nürnberg sammeln lassen?»[7] «Welchem Zwecke diente und welchen Erfolg hatte die Reise des Herrn Seißer nach Berlin?» «Hat Herr von Kahr in der Nacht vom 8. auf 9. November 1923 Funkspruch an alle maßgebenden bayerischen Behörden erlassen, dass er in Bayern die Geschäfte als Statthalter der Monarchie übernommen habe?» Auch die Rolle des ehemaligen Kronprinzen Rupprecht unter dem Generalstaatskommissariat hielt Hoegner für dringend aufklärungsbedürftig. Ebenso die Frage, ob der Landtag unter dem Generalstaatskommissariat an der Ausübung seiner verfassungsmäßigen Rechte gehindert worden sei.[8]

Als Hoegner seine lange Liste mit Fragen und Themen mit der Bemerkung abschloss, «Dies ist der Fragenkomplex, den wir vorläufig geklärt wissen wollen», vermerkte das Protokoll zwar «Heiterkeit», aber vermutlich war den Abgeordneten der BVP und der Bayerischen Mittelpartei (BMP) nicht wirklich zum Lachen zumute. Hoegner meinte es erkennbar ernst mit Untersuchung und Aufklärung, und die bürgerlichen Parteien waren nicht in der Lage, die Einsetzung des Untersuchungsausschusses zu verhindern.

Der Fraktionsvorsitzende der deutschnationalen BMP, Hans Hilpert, meinte angesichts der langen Liste bereits zu erkennen, «zu welchem groben Unfuge sich dieser so genannte parlamentarische Untersuchungsausschuss auswachsen wird.» Es sei sehr bedauerlich, dass die Verfassung keine Handhabe gebe, um einen derartigen groben Unfug, der von einer verschwindenden Minderheit in Szene gesetzt werde, zu verhindern.[9]

Hoegner versuchte zu beschwichtigen und zu erläutern, worum es ihm im Kern ging: «Wie war es möglich, dass die berühmte ‹Ordnungszelle› Bayern nach den Worten des gegenwärtigen Herrn Ministerpräsidenten vom Februar 1924 zu einer ‹Unordnungszelle ersten Ranges› geworden ist? Das aufzuklären, daran hat auch die gesamte bayerische Öffentlichkeit, hat das bayerische Volk ein dringendes Interesse. Wir verlangen ferner, dass die gesamte Regierungstätigkeit des vermeintlichen Retters Bayerns, des Herren von Kahr, einer genauen Nachprüfung unterzogen wird. Wir wollen nicht den ganzen Hitlerprozess wieder aufnehmen, wir wollen lediglich die politischen Vorgänge, die im Hitlerprozess nicht aufgedeckt worden sind, klarstellen lassen. Es handelt sich für uns gar nicht darum, Dinge, die hinter verschlossenen Türen vor sich gegangen sind, in die breite Öffentlichkeit zu bringen. Wir sind selbstverständlich damit einverstanden, dass alle die Dinge, die geheim zu halten im Interesse der Staatssicherheit liegt, auch in diesem Untersuchungsausschusse vertraulich behandelt werden.»[10]

Am folgenden Tag wurden die Fragen und Themenkomplexe in der Münchener Post vollständig veröffentlicht, und an diesem 1. August 1924 wurden auch bereits die Mitglieder des Ausschusses auf Vorschlag der Fraktionen benannt. Die BVP als stärkste Fraktion des Landtags beanspruchte drei Sitze im Ausschuss, KPD und DDP waren nicht vertreten, die übrigen Fraktionen stellten jeweils ein Ausschussmitglied. Diese Aufteilung gab der größten Fraktion überproportionales Gewicht und entsprach ganz und gar nicht dem Grundgedanken, durch einen solchen Ausschuss die Rechte der Opposition zu stärken. Für die BVP rückten ihr stellvertretender Faktionsvorsitzender Georg Stang, der angesehene Nürnberger Rechtsanwalt Josef Graf von Pestalozza und der Münchner Kreisverbandsvorsitzende und Jurist Fritz Schäffer in den Ausschuss ein. Die BMP entsandte ihren Fraktionsvorsitzenden Hans Hilpert, ebenso der Bayerische Bauern- und Mittelstandsbund (BBMB) seinen Fraktionsvorsitzenden Anton Staedele. Der Völkische Block wurde durch den Oberlandesgerichtsrat und Landtagsvizepräsidenten Theodor Doerfler vertreten, die SPD durch Wilhelm Hoegner. Die hochkarätige Besetzung zeigt, dass die Regierungsparteien den Ausschuss zwar ablehnten, ihn aber zugleich für äußerst brisant hielten.

Nach seiner Einsetzung durch den Landtag am 1. August 1924 traf sich der Untersuchungsausschuss am 13. März 1925 zu seiner konstituierenden Sitzung. Dass man mehr als sieben Monate untätig blieb, ließ nichts Gutes erwarten. Georg Stang (BVP) wurde nun zum Vorsitzenden gewählt, Graf Pestalozza und Wilhelm Hoegner bestimmte man als ausschussinterne Berichterstatter. Das schien ein gutes Zeichen im Sinne der angestrebten Aufklärung zu sein, denn Pestalozza hatte die bayerische Justiz und ihren Umgang mit dem Hitlerputsch massiv kritisiert. Unter anderem hatte er vorgeschlagen, man solle die Aufschrift am Münchner Justizpalast «Justitia fundamentum regnorum» – Gerechtigkeit ist die Basis der Herrschaft – ersetzen durch die Inschrift aus Dantes Göttlicher Komödie: «Lasset, die ihr hier eintretet, alle Hoffnung fahren.»[11] In einer zweiten Sitzung verständigte sich der Ausschuss am 17. März darauf, dass die beiden Berichterstatter «unabhängig voneinander unter Heranziehung aller für das Ausschussthema relevanten Aktenbestände zwei Berichte zum gesamten Fragenkomplex für den Ausschuss erstellen sollten.»[12] So wollte man dem gesamten Ausschuss eine hinreichende Materialbasis für seine Tätigkeit verschaffen. Der Ausschuss verlangte nun zunächst «die Vorlage des gerichtlichen Materials von der Staatsanwaltschaft beziehungsweise von den in Betracht kommenden Behörden». Der Präsident des Bayerischen Landtags wandte sich mit Schreiben vom 18. März 1925 an die Regierung.[13]

Zu seiner nächsten Sitzung, der ersten ordentlichen Arbeitssitzung, trat der Untersuchungsausschuss am 5. Oktober 1927 zusammen, also erst nach mehr als zweieinhalb Jahren. Für intime Kenner der politischen Verhältnisse in Bayern war das keine Überraschung. Der württembergische Gesandte in München, Carl Moser von Filseck, berichtete bereits am 19. Juli 1924 nach Stuttgart, die Koalitionsparteien seien sich darüber einig, «dass dieser Ausschuss nicht in Tätigkeit treten darf und werden jeglichen Versuch einer solchen mit allen Kräften zu sabotieren suchen.»[14] Selbstverständlich wies der Ausschussvorsitzende, ein enger Vertrauter des Ministerpräsidenten, jede Verschleppungsabsicht strikt von sich. Das Justizministerium habe die einschlägigen Untersuchungs- und Strafakten immer wieder nur zeitweise entbehren können und jeweils wegen einzelner anstehender Verfahren wieder zurückfordern müssen.

Was Stang nicht erwähnte: Das Justizministerium weigerte sich beharrlich, den Berichterstattern die stenografischen Niederschriften des Hitlerprozesses vollständig und unzensiert zukommen zu lassen. Das Justizministerium hatte darüber hinaus am 11. Juli 1926 angeordnet, wenn ein Untersuchungsausschuss «um die Übersendung von Akten ersucht oder die Akten zur Einsichtnahme verlangt, ist mit größter Beschleunigung auf dem Dienstwege, wenn aber größere Eile geboten, unmittelbar, nötigenfalls fernmündlich oder telegrafisch dem Staatsministerium der Justiz zu berichten und dessen Entscheidung abzuwarten».[15] Alles in allem «ergibt sich ein relativ klares Bild systematischer und verfassungswidriger Behinderung und Verzögerung der Ermittlungstätigkeit des Untersuchungsausschusses durch das Justizministerium.»[16]

Der Justizminister hatte gute persönliche Gründe, so zu verfahren, denn es ging im Komplex 1. Mai 1923 auch um die Frage, ob Gürtner selbst – verfassungswidrig – in das Ermittlungsverfahren gegen Hitler eingegriffen hatte und im Hinblick auf diesen Eingriff den bayerischen Landtag belogen hatte.

Es waren aber keineswegs nur Gürtner und sein Ministerium, die es Hoegner schwer machten, an die notwendigen Unterlagen zu kommen. Die Landtagsverwaltung reichte Unterlagen nicht an ihn weiter, teilte ihm oft nicht einmal mit, wenn dort Unterlagen eingegangen waren. Monatelang blieben Akten im Frühjahr und Sommer 1925 beim Berichterstatter Graf Pestalozza liegen, ohne dass der Graf Zeit fand, sie durchzuarbeiten. Er gab allerdings in dieser Zeit dem Mitberichterstatter Hoegner auch keine Gelegenheit zur Einsichtnahme.

Im Frühjahr 1927 lagen Hoegner dann endlich die wesentlichen Akten vor, im Juli auch die stenografischen Niederschriften des Hitlerprozesses. Auf seinen Antrag beschloss der Bayerische Landtag am 21. Juli 1927, dass der Untersuchungsausschuss bereits ab 5. Oktober – also noch vor der Einberufung des Landtages nach dessen Sommerpause – Sitzungen abhalten konnte. Die Zeit drängte nun sehr, denn mit dem Ende der Legislaturperiode im April 1928 endete auch die Arbeit des Untersuchungsausschusses – völlig unabhängig davon, ob er überhaupt tätig geworden war.

Allgemein war erwartet worden, dass die Vertreter der Regierungskoalition im Ausschuss versuchen würden, auch noch die letzten Monate mit ihrer Verschleppungstaktik zu überbrücken. Was den Ausschlag für den Kurswechsel gab, ist nicht zweifelsfrei zu ermitteln. Mit Sicherheit war es nicht das ernsthafte Bestreben, Licht in die düsteren Angelegenheiten des Jahres 1923 zu bringen. Vielleicht hoffte die BVP auf Material, das Völkische und Nationalsozialisten belasten würde und sich im anstehenden Wahlkampf verwenden lassen könnte. Vielleicht kamen Held und die BVP-Spitze aber auch zu der Überzeugung, dass der Imageschaden für den Freistaat Bayern bei vollständiger Tatenlosigkeit des Untersuchungsausschusses größer sein würde als bei einer so kurzzeitigen Befassung mit den einschlägigen Themen, wie sie zwischen Oktober und April noch denkbar war. Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Ausschuss schien man im Übrigen ja auch alles unter Kontrolle zu haben.

Wilhelm Hoegner bewältigte in den Sommermonaten ein gigantisches Arbeitspensum und verschaffte sich einen profunden Einblick in das bayerische Geschehen im Krisenjahr 1923. Der Untersuchungsausschuss trat am 5. Oktober 1927 zu seiner ersten ordentlichen Sitzung zusammen und traf sich innerhalb von drei Wochen zu weiteren neun Sitzungen. Thema war an diesen zehn Tagen ausschließlich der erste, weitaus kleinere und leichter zu überschauende Teil des Auftrags, der Aufmarsch der Kampfverbände am 1. Mai 1923 mit all seinen Begleitumständen.

Bereits in dieser ersten ordentlichen Sitzung berührte Pestalozza im Rahmen seines Berichts den heikelsten Punkt dieses Komplexes, als er im Hinblick auf das gegen Hitler wegen des 1. Mai seinerzeit anhängige Gerichtsverfahren erklärte, «in den Münchener Gerichtsstuben» sei es «als eine bekannte Tatsache bezeichnet worden, dass Herr Minister Gürtner telefonisch durch Ministerialrat Dürr den Staatsanwalt angewiesen habe, dieses Verfahren einzustellen.»[17] Hoegner beantragte, dazu Zeugen zu vernehmen, aber dies «wurde von der Ausschussmehrheit zumeist abgelehnt.» Der frühere Innenminister Schweyer machte allerdings «bei seiner Vernehmung wichtige Aussagen gegen den Justizminister.» Schweyer war der Meinung, nach dem großen Landfriedensbruch vom 1. Mai 1923 hätte die Hitlerbewegung «von Staats wegen unterdrückt werden müssen. Dann wäre Bayern die Katastrophe vom November 1923 und die noch größere des Hitlerprozesses erspart geblieben.»[18]

Am Ende der umfangreichen Beschäftigung des Ausschusses mit diesem Komplex stand eine «eher milde politische Rüge des Untersuchungsausschusses am Verhalten Gürtners», die allerdings den Bayerischen Kurier zu einer scharfen Kritik am nach wie vor amtierenden deutschnationalen Justizminister veranlasste. Dies sorgte in der amtierenden Regierungskoalition für Konflikte und auch für Druck auf den Ausschuss, sich eindeutig zu positionieren. «Wenn der Ausschuss die Verfassung für verletzt halte,» forderte und drohte Hilbert, der Vertreter der deutschnationalen BMP im Ausschuss, «müsse das Parlament die Ministeranklage erheben.»[19]

Das hätte zweifellos das Ende der Regierungskoalition bedeutet und auch innerhalb der BVP die ohnehin heftigen Flügelkämpfe noch verstärkt. Also entschieden sich der Ausschussvorsitzende Stang (BVP) und das BVP-Mitglied Schäffer «den offensichtlichen Verfassungsverstoß Gürtners zu leugnen».[20] Damit war über den Einzelfall hinaus klargestellt, dass es der BVP im Ausschuss nicht wirklich um sachliche Aufklärung ging. Graf Pestalozza verzichtete, wohl auch unter erheblichem Druck seiner Parteifreunde,[21] für die weitere Arbeit des Ausschusses auf «Abweichungen» von der Parteilinie und zog sich in eine Art innere Emigration zurück.

In einem Beleidigungsprozess erklärte Pestalozza am 20. April 1928 in München vor Gericht: «Als Berichterstatter habe ich im Ausschuss keine eigene Meinung sagen dürfen. Mir ist von meiner Partei verboten gewesen, um der Koalition willen im Ausschuss auch nur ein einziges Wort zu sagen.»[22]

In seiner 11. ordentlichen Sitzung begann der Ausschuss am 28. Oktober 1927 mit der Behandlung des zweiten Themenkomplexes. Pestalozza berichtete über seine Erkenntnisse aufgrund des Aktenstudiums, die sich im Hinblick auf eine Verwicklung von Kahr, Lossow und Seißer in das Putschgeschehen weitestgehend mit der von Anfang an von der BVP verfolgten Linie deckten. Die BVP-Spitze hatte endgültig entschieden, sich mit dem von ihr installierten «System von 1923» nicht kritisch auseinanderzusetzen, sondern an ihrer Vertuschungsstrategie festzuhalten, und sie hatte den Grafen auf Linie gebracht.

Fast fünf Wochen musste dann wegen einer Erkrankung Pestalozzas unterbrochen werden. In der 12. Sitzung am 1. Dezember begann Hoegner seinen Bericht über das zu untersuchende Geschehen des Herbstes 1923 und setzte ihn bis zum Ende der 16. Sitzung am 19. Dezember fort. Offenbar war er inzwischen zu der Überzeugung gekommen, dass es aufgrund der politischen Gemengelage aussichtslos war, innerhalb des Ausschusses zu einvernehmlichen Feststellungen zu kommen, und er nutzte nun zumindest die Gelegenheit, seine Erkenntnisse in den öffentlichen Sitzungen des Ausschusses darzulegen. Adressaten waren wohl nicht mehr nur seine Ausschusskollegen, sondern auch die Pressevertreter im Saal. Allerdings wurde auch im Untersuchungsausschuss die Öffentlichkeit immer wieder ausgeschlossen, wenn es um Fragen mit außenpolitischer Brisanz ging, also beispielsweise die Ausbildung der Wehrverbände durch die Reichswehr.

Zu seiner 17. Sitzung trat der Ausschuss nach fast dreimonatiger Unterbrechung erst am 13. März 1928 zusammen. Gleich zu Beginn kam es zu einer heftigen Kontroverse, weil der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Alwin Saenger im Reichstag erklärt hatte, die Arbeit des Untersuchungsausschusses sei verschleppt worden. Das wollte der Ausschussvorsitzende keinesfalls auf sich und seiner Partei sitzen lassen. Die Auseinandersetzung darüber wurde auch zu Beginn der 18. Sitzung fortgeführt. Danach forderte der Vorsitzende ein schnelles Ende des Ausschusses. Hoegner stellte noch einige Anträge zur weiteren Beweiserhebung und zur Einvernahme von Zeugen, die allesamt abgelehnt wurden. Weitere Ermittlungstätigkeit wurde generell abgelehnt.

Pestalozza und Hoegner trugen ihre jeweiligen Feststellungsanträge vor. Ohne weitere Aussprache wurde über die Feststellungsanträge Punkt für Punkt abgestimmt. Die Anträge Hoegners wurden alle mehrheitlich abgelehnt. Danach stimmte man über die Feststellungsanträge Pestalozzas ab, und sie wurden bis auf geringfügige Änderungen als Feststellungen der Ausschussmehrheit verabschiedet. Im Unterschied zur Ausarbeitung der Feststellungen des Untersuchungsausschusses zum Komplex 1. Mai 1923 wurde nun «in keiner Weise der Versuch unternommen, Kompromissanträge unter Einbeziehung von Wilhelm Hoegner zu finden.»[23]

Die Feststellungen der Ausschussmehrheit lauteten:

«1.

Die Frage, ob durch Schaffung einer eigenen Währung die Geldverhältnisse in Bayern stabilisiert werden könnten, wurde im Generalstaatskommissariat erwogen, aber als dem Reichsgedanken abträglich und undurchführbar erkannt.

2.

Die Aufstellung von Truppen in Nordbayern bezweckte nach den Absichten der bayerischen Behörden lediglich den polizeilichen Grenzschutz gegenüber dem zu erwartenden Übergreifen von Aufständen in Thüringen.

3.

Dass im Oktober 1923 ein Bruch mit dem Reiche beabsichtigt war, lässt sich nicht feststellen.

4.

Ein Beweis dafür, dass seitens bayerischer Behörden ein militärischer Marsch nach Berlin geplant war, hat sich nicht ergeben.

5.

Bezüglich einer Beteiligung der Herren von Kahr, von Lossow und von Seißer an den hochverräterischen Plänen Hitlers liegen gerichtliche bzw. staatsanwaltschaftliche Feststellungen vor. Der Untersuchungsausschuss glaubt, zu deren Nachprüfungen nicht berufen zu sein. (…)

6.

Wie bereits durch den Gerichtsvorsitzenden festgestellt wurde, stand Kronprinz Rupprecht zu den hochverräterischen Vorgängen in keiner Beziehung.»[24]

Im bereits erwähnten Beleidigungsprozess erklärte der Berichterstatter Pestalozza am 20. April 1928 in München vor Gericht: Der Vertreter der deutschnationalen BMP, «Dr. Hilpert hat den Ausschuss derartig terrorisiert, dass überhaupt kein richtiger Beschluss gefasst werden konnte. In diesem Untersuchungsausschuss ist mit dem Recht Schabernack gespielt worden.»[25]

Im Licht dieser «Abwicklung» des Untersuchungsausschusses kann der Umgang der Regierungsparteien mit dessen Ergebnissen und Feststellungen kaum überraschen. Zunächst sollte wohl eine Auseinandersetzung des Plenums mit dem Bericht und dessen Veröffentlichung als Landtagsdrucksache vor den anstehenden Wahlen ganz verhindert werden. Erst eine Interpellation der SPD-Fraktion veranlasste das Präsidium des Landtags, den Bericht des Untersuchungsausschusses auf die Tagesordnung der letzten Sitzung des Landtags am Freitag, 27. April 1928, zu setzen.[26]

Hoegner nutzte die Sitzung zu einer zweistündigen Rede, in der er den Umgang der Regierungsfraktionen mit dem Untersuchungsausschuss und der «Wahrheit» anprangerte. «Die Wahrheit hätte der herrschenden Regierungsmehrheit einfach nicht in ihren politischen Kram gepasst; deshalb durfte sie nicht ausgesprochen werden. Aber die Wahrheit ist doch an den Tag gekommen, wenigstens zum Teil, und sie wird bestehen, wenn gewisse Feststellungen des Ausschusses nur noch die Bedeutung einer geschichtlichen Groteske, der seltsamen Verzerrungen in einem Spiegelkabinett haben werden.»[27]

Hoegner trug seine wichtigsten Feststellungen im Plenum vor und warf zentrale Fragen auf, die bislang nicht abschließend beantwortet oder gewürdigt waren. Es ging um Ehrhardt und den «Grenzschutz» an der Bayerischen Nordgrenze. Es ging um die Aussagen verschiedener Beteiligter im Oktober 1923, Kahr habe erklärt, er werde «marschieren und gewisse Fragen wie Bismarck lösen». Es ging um Lossows Befehl zur Verdreifachung der VII. Reichswehrdivision durch Mitglieder der Wehrverbände. Es ging um die «Herbstübung 1923», die Vorbereitung des militärischen Aufmarschs, der eine «nationale» Regierung in Berlin erzwingen sollte. Es ging um die Zusammenarbeit mit rechtsextremen Putschisten im Norden Deutschlands. Es ging um die Frage, was das Gesamtstaatsministerium und die Spitzen der Regierungsparteien von alledem wussten. Und es ging um die Frage, ob der ehemalige Kronprinz Rupprecht in die Pläne verwickelt war.

Hoegner betonte, dass manches noch nicht vollständig aufgeklärt sei. «Zur vollen Aufdeckung der Wahrheit hätte der Schleier, der über den Vorgängen des Jahres 1923 lag, noch stärker gelüftet werden müssen. Der Inhalt der von dem Ausschuss allein beigezogenen Gerichtsakten und die Aussagen der wenigen vernommenen Zeugen reichen zu einem abschließenden Urteil über viele Vorgänge des Jahres 1923 nicht aus. Ich habe im Ausschusse wiederholt weitere Beweiserhebungen beantragt, bin aber nicht durchgedrungen.»[28]

Hoegner präsentierte dem Plenum sein Minderheitenvotum.[29] Er übte heftige Kritik am Hitlerprozess, sprach von einer «Justizkatastrophe» und griff die bayerische Justiz massiv an, weil sie die Strafe des Hochverräters Hitler zur Bewährung ausgesetzt hatte. Auch die Causa Gürtner brachte er zur Sprache, nannte das Verhalten der Justizverwaltung «eine objektive Verletzung der bayerischen Verfassung». Es war eine Generalabrechnung mit dem «System von 1923» und dessen Verschleierung, die bis ins Jahr 1928 reichte – und weit darüber hinaus.

Eine ausführliche Debatte über Hoegners Rede fand nicht statt. «Zur Raumersparnis» verzichtete die Landtagsverwaltung auch darauf, Hoegners ausführlichen Bericht aus dem Untersuchungsausschuss – er umfasst 1631 Schreibmaschinenseiten – in den Landtagsdrucksachen zu veröffentlichen. Er steht bislang lediglich als Schreibmaschinendurchschlag im Bayerischen Hauptstaatsarchiv zur Verfügung (MA 103.476), wird aber rechtzeitig zum 8./9. November 2023 online verfügbar gemacht werden. Da die grundlegenden, 19 Bände umfassenden Prozessakten des Volksgerichts München I nicht mehr existieren und auch die vier Aktenbände des bayerischen Justizministeriums im April 1945 gezielt verbrannt wurden,[30] ist der umfassende Bericht Hoegners im Hinblick auf Aussagen von Beschuldigten und Zeugen bei Vernehmungen durch die Staatsanwaltschaft eine Quelle von herausragender Bedeutung.

Auszüge aus Hoegners Bericht hat der Landesausschuss der SPD in Bayern 1928 in zwei Teilen mit 52 bzw. 205 Seiten unter dem Titel «Hitler und Kahr. Die bayerischen Napoleonsgrößen von 1923» veröffentlicht. «An eine politische Ausnützung der Enthüllungen dachte der Parteivorstand 1928 noch nicht», merkte Hoegner 1959 in seinen Erinnerungen an. «Man hielt Hitler für erledigt und was sollte schon aus Bayern Gutes kommen? War doch ein Redeverbot gegen Hitler ausgerechnet auf Antrag des Reichstagspräsidenten Loebe (SPD – WN) aufgehoben worden – aus Gründen der Demokratie. Als so harmlos sah man nach dem Hitlerputsch von 1923 den Nationalsozialismus an.»[31]