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3. Woche

Der Weg zum Zorn

Seid schnell bereit, zuzuhören,

aber lasst euch Zeit, ehe ihr redet oder zornig werdet.

Jakobus 1,19

Da sind wir uns wohl einig: Zorn kommt nicht von Gott! Wer seinem Zorn Raum gibt, der lebt in Sünde. Zorn ist keine akzeptable christliche Eigenschaft. Doch will dieser Text genau das aussagen? Es lohnt sich, einige andere Bibelstellen zu diesem Thema anzuschauen.

Im Markusevangelium, Kapitel 10 lesen wir, wie die Jünger – vergleichbar mit Bodyguards, die einen Prominenten beschützen – Kinder abwiesen, als ihre Eltern diese zu Jesus bringen wollten. Es heißt im Text, dass Jesus zornig wurde und seinen Jüngern befahl, die Kinder zu ihm kommen zu lassen. Nur wer so vertrauen lerne wie die Kinder, könne in das Reich Gottes eingehen.

Im Markusevangelium, Kapitel 3 lesen wir die Geschichte einer Heilung. Jesus war unterwegs zu einer Synagoge. Dort saß ein Mann mit einer verkrüppelten Hand. Einige der Gegner von Jesus wollten sehen, ob er diesen Mann an einem Sabbat heilen würde. Sie hätten dann etwas gegen ihn in der Hand gehabt. Als Jesus ihre Herzenshaltung wahrnahm, wurde er zornig und heilte den Mann.

In der Bergpredigt im Matthäusevangelium, Kapitel 5 lesen wir in der Auslegung der Zehn Gebote, dass derjenige dem Gericht überantwortet wird, der auf seinen Bruder zornig ist.

Wie müssen wir jetzt mit diesen unterschiedlichen, scheinbar widersprüchlichen Texten umgehen?

Ich denke, dass wir nicht grundsätzlich Gefühle des Zorns verteufeln dürfen. Zorn ist ein Ausdruck von Gefühlen, die auf ein Unrecht oder einen Missstand reagieren. Jesus selbst ließ Gefühle des Zornes zu. Es stellt sich vielmehr die Frage, wie wir mit unserer Gefühlswelt umgehen, wenn nicht alles so läuft, wie wir es uns wünschen.

Jakobus warnt vor zu schnellen und unreflektierten Zornesausbrüchen. In der Bergpredigt erklärt Jesus, dass wir keinen Zorn gegenüber einem Menschen hegen sollen. Beide Texte sprechen, so denke ich, von unüberlegten Äußerungen von Zorn. Verletzter Stolz, unerfüllte Erwartungen, ich-zentriertes Verhalten oder Kontrollsucht können Menschen zu Zornesausbrüchen verführen. Ich denke da zum Beispiel an das in christlichen Kreisen oft verdrängte Thema der häuslichen Gewalt. Ehemänner schlagen ihre Gattinnen, Ehefrauen ihre Männer, weil sie mit ihren Gefühlen nicht zurechtkommen.

Es gibt aber offensichtlich auch andere Formen von Zorn, die durchaus ihre Berechtigung haben. Eine gute Konfliktkultur herrscht, wenn sich Menschen trotz unterschiedlicher Meinungen intensiv auseinandersetzen, sich dabei aber aktiv zuhören. Dabei können sie sich durchaus auch gefühlsmäßig stark engagieren, wobei Jakobus nur das überschnelle emotionale Reagieren verbietet, nicht die engagierte Auseinandersetzung an sich.

Jetzt wollen wir uns aber den zwei Beispielen von Jesus Christus zuwenden. Bei beiden Geschichten war Jesus Christus zornig, weil Menschen der Zugang zum Reich Gottes verwehrt wurde. Bei den Kindern geht es darum, dass diese von den Jüngern als nicht zur Offenbarung des Reiches Gottes zugelassene Menschen erklärt wurden. Im Falle des Mannes mit der verkrüppelten Hand erlaubten offensichtlich die religiösen Vorstellungen und Empfindungen der Gegner von Jesus eine göttliche Heilung nicht. In beiden Fällen wurde der Gerechtigkeit des Reiches Gottes nicht Genüge getan, und Jesus wurde zornig.

Jetzt stellt sich die Frage, wie wir mit diesen Gedanken in unserer Zeit umgehen können. Gibt es Menschengruppen, denen wir innerlich, mit unserer Herzenshaltung den Zugang zum Reich Gottes verwehren? Gibt es unter uns Menschen, die andern den Zugang zur Gerechtigkeit des Reiches Gottes verwehren? Falls ja, reagieren wir da mit Gleichgültigkeit oder mit Zorn? Dürfen wir zornig werden, wenn Menschen in unserer Gesellschaft wegen ihrer Herkunft oder ihrem Glauben oder ihrer Rasse ausgegrenzt werden? Dürfen wir zornig werden, wenn Konsumenten sich nur am billigen Preis orientieren und nicht an gerechten Löhnen und Lebensumständen der Menschen, die ein Produkt anfertigen oder produzieren? Dürfen wir zornig werden, wenn unsere Länder Subventionen und Exporterleichterungen geben und zum Beispiel Bauern in Schwellenländern ihre Existenz verlieren, weil sie nicht billiger produzieren können? Dürfen wir zornig werden, wenn mit Grundnahrungsmitteln spekuliert wird und die Preise deshalb ins Unermessliche steigen, vielleicht nicht für uns in Europa, aber für die Menschen in Schwellenländern? Haben wir uns schon einmal darüber Gedanken gemacht, dass Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln für uns schon deshalb erträglicher sind, weil wir nur einen geringen Teil unseres Einkommens für Nahrungsmittel aufwenden im Vergleich zu den Armen der Welt, die 80 Prozent und mehr ihres Einkommens für das Essen einsetzen müssen? Dürfen wir da zornig werden?

Ja, es stellt sich die Frage, ob Jesus nicht zornig wird, wenn er diese Ungerechtigkeit sieht, die wir Menschen in den Industrienationen als gegeben akzeptieren. Möchte Jesus Christus in uns nicht einen Zorn entfachen, damit wir aufstehen gegen die Ausbeutung von Menschen und Völkern, gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt? Ich glaube, ja. Denn dieser Zorn macht uns sprach- und aktionsfähig.

Braucht es nicht eine gewisse innere Erregung, um aktiv zu werden? Ist eine innere Entrüstung, ein innerer Zorn nicht die Voraussetzung dafür, sich für Menschen einzusetzen? Ist die emotionale Ergriffenheit nicht der erste Schritt, um in Bewegung zu kommen? Die zwei Beispiele von Jesus zeigen, dass sein Zorn über die Situation oder das Verhalten seiner Freunde Ausdruck dafür war, der Gerechtigkeit des Reiches Gottes praktisch Raum zu geben. Jesus heilte den Mann mit der verkrüppelten Hand, obwohl es Sabbat war und am Sabbat gemäß den Vorstellungen der Gegner von Jesus der Mensch nicht arbeiten durfte. Er ließ die Kinder zu sich kommen und stellte sie als Vorbilder hin, obwohl seine Freunde wie Bodyguards eben diesen Kindern den Zugang zu ihm verwehren wollten.

Was lösen diese Gedanken aus? Gleichgültigkeit? Vielleicht sind Sie genervt, wenn Sie diese Zeilen lesen. Möglicherweise sagen Sie, dass dieses Thema Sie im Moment nicht betrifft.

Es ist aber auch möglich, dass Sie in der kommenden Woche bewusster die Nachrichten hören, sehen oder lesen und sich damit auseinanderzusetzen beginnen, wo Unrecht und Ungerechtigkeit in unserer Welt angeprangert werden müssen, und wie Sie mit praktischen Schritten den Schwachen und Ausgegrenzten Hilfe und Unterstützung geben können. Freundlichkeit gegenüber Ausländern, materielle Unterstützung für Alleinerziehende, praktische Hilfe für ältere Menschen, all das sind kleine Schritte auf dem Weg zu einer jesusmäßigeren – und glücklicheren – Welt.

Martin Bühlmann, geboren 1955, lebt in Berlin. Er ist Leiter der Vineyard Bewegung Deutschland, Österreich, Schweiz. Er ist verheiratet mit Georgia, hat fünf Kinder und vier Enkelkinder. Zu seinen Hobbys gehört die Philatelie; er ist spezialisiert auf Alt-Schweiz und SBZ.