Ein einziger Sünder kann viel Gutes zerstören.
Prediger 9,18
Ein klarer Kontrast entsteht vor unseren Augen, ein Kontrast wie zwischen schwarz und weiß, Licht und Finsternis, Wasser und Feuer.
Auf der einen Seite ist da »viel Gutes«: vielleicht ein ganzer Berg gelungener Arbeit. Oder die schöne Frucht sorgsam aufgebauten Vertrauens in einer Beziehung. Ein Arbeitsteam, das gut zusammenarbeitet. Gutes entsteht nicht von alleine. Menschen mühen sich darum.
Diesem Guten, diesem vielen Guten steht ein einziger Sünder gegenüber. Luther nennt ihn Bösewicht. Es reicht ein einziger Mensch, so klein er ist, um viel Gutes zu zerstören, wenn er es durchtrieben anfängt. Der Kontrast ist also nicht nur klar, sondern steht auch in einem Missverhältnis. Denn es ist »ein Einziger« der hier »vieles« zerstören kann. Ein Missverhältnis, das leider der Realität entspricht.
In Prediger 10,1 geht der Text weiter: Tote Fliegen lassen das Salböl stinkig und ranzig werden. Genauso wiegt ein Gramm Dummheit schwerer als ein Pfund Weisheit und Ehre. Dieser Vers scheint eine Erläuterung zu unserem Vers zu sein. Man stelle sich einen orientalischen Haushalt vor. Fliegen überall. Will jemand Salbe herstellen, ist die Gefahr groß, dass sich die kleinen Wesen irgendwo dazwischenquetschen und sich voller Appetit in die Salbe stürzen. Schon ist sie verdorben. Dies ist eine gute Illustration für diese Lektion. Kleine Ursachen können große Wirkungen haben.
Und ein wenig Dummheit verschafft sich oft mehr Gehör als viel Weisheit und Ehre. Denn der Weise krakeelt nicht so laut. Er verschafft sich, gerade weil er weise ist und um die Beschränkung seiner Einsicht weiß, ungern lautstark Gehör. Der Dumme hingegen kennt keine Hemmungen. Deshalb wird er stark. So kommt mir unsere Gesellschaft und vor allem die Medienlandschaft häufig vor.
Aber kann das denn sein, dass ein einziger Sünder viel Gutes zerstört? Wo gibt es das?
Spurensuche:
Die gelungene Arbeit eines ganzen Nachmittags kann durch den üblen Winkelzug eines gemeinen Kollegen zerstört werden, indem er das Ergebnis, das Sie präsentieren, bewusst missachtet, vor anderen zerredet oder durch Gerüchte den Eindruck erweckt, als wäre er selbst der Urheber dieser Arbeit.
Eine Beziehung, die voller Vertrauen ist, kann durch einen Menschen, der es böse meint, leiden, zumindest angekratzt und, wenn es ganz schlimm kommt, zerstört werden. Ich habe es selbst erlebt, dass Leute, die gut miteinander arbeiten konnten, aneinandergeraten, weil eine Person negativ redet oder Vertrauen missbraucht.
Eine Nachbarschaft pflegt gute Beziehungen. Wie schnell geschieht es, dass durch Klatsch und Tratsch zunächst Missverständnisse und im nächsten Schritt Feindschaften entstehen. Es gibt Nachbarn, mit denen kann man nur sehr schwer auskommen, weil sie mit sich selbst nicht im Reinen sind und sich deswegen auf Kosten anderer profilieren. Ein Einziger kann da viel kaputt machen.
Eine Schulklasse, die ansonsten ganz passabel miteinander auskommt, kann durch eine Person, die die richtige Mischung aus Machtbewusstsein, Redegewandtheit und Rücksichtslosigkeit hat, völlig durcheinandergewirbelt werden. Ich habe es in einer Jugendgruppe erlebt. Ein noch sehr unreifer junger Mann, der zweifelsohne Führungsqualitäten besaß, aber die eigene Handlungsweise noch nicht durchschaute, war der Dreh- und Angelpunkt der Gruppe. Und wenn er es wollte, wenn er sich querstellte, funktionierte nichts mehr.
Adolf Hitler war ein Bösewicht. Mit seiner despotischen Rede und verführerischen Kraft konnte er unglaublich viel Gutes zerstören. Ich sage damit natürlich nicht, dass er der »einzige Sünder« gewesen sei und alle anderen die ahnungslos Verführten. Das wäre der schlimmste Rückschluss, der hier gezogen werden könnte. Hitlers Gift fiel auf vorbereiteten Boden, er nutzte die Gunst der Stunde, hatte seine Helfer und Helfershelfer. Aber doch kann man auch sagen, dass da ein einziger Mann zum Zerstörer von vielem wurde.
Die Welt kann gemein sein, das Leben ungerecht und ein einzelner Mensch viel zerstören. Auch der Fromme muss sich dieser Realität stellen, ob es ihm passt oder nicht. Der Prediger beschreibt diese Realität ungeschminkt und gnadenlos. Er versteht etwas von dieser Erde, der er sehr verbunden ist. In seiner Theologie erscheint der handelnde und eingreifende Gott weit weg. Er hat sich zurückgezogen und das Böse bekommt Spielraum, auch der Sünder. Wir wollen das gerne anders und es fällt schwer, diese Realität anzuerkennen.
Und tatsächlich gibt es in anderen biblischen Büchern, vor allem im Neuen Testament, andere Aussageschwerpunkte. Aus diesem Grund hatte es das Predigerbuch schwer, Teil des alttestamentlichen und später des gesamtbiblischen Kanons zu werden. Denn der »Fromme« befürchtet, dass der Prediger Gottes Realität in der Welt zu wenig beachtet. Aber genauso regelmäßig setzte sich die Einsicht durch, dass der Prediger doch in das Gesamtbild der Bibel passt und dass er einen Aspekt betont, der genauso zum Gott der Bibel passt wie der des immer eingreifenden und alles verändernden Gottes.
Der Prediger erkennt die Verstrickung des Menschen in die Sünde und das Dilemma, in dem er sich befindet! Und weil sowieso alles nichts nützt (Alles ist eitel und Haschen nach Wind; Prediger 2,17; LUT), soll der Mensch ein wenig sein Leben genießen, denn es bleibt ihm nichts anderes übrig.
Und er soll mit einem geschärften Auge sein Leben betrachten, damit er nicht überrascht wird von den Härten des Lebens. Und dazu gehört eben genau diese Einsicht: Ein Sünder kann viel Gutes zerstören. Willkommen im Club der Realisten.
Zwei Fragenfelder tun sich auf:
1. Gibt es vielleicht Situationen, wo ich selbst dieser Eine bin, der der Sünde Raum gibt und dadurch viel Gutes zerstört? Der Gedanke kommt mir unerträglich vor. Aber ich will es nicht von vornherein ausschließen. Schließlich dürfte das die Sichtweise der Bösewichte dieser Welt sein, dass sie sich selbst für untadelig halten. Wo missbrauche ich meine Machtstellung, um andere niedrig zu halten? Macht habe ich als Vater oder Mutter, als jemand, der einen Informationsvorsprung hat, als Vorgesetzter, als Lehrer oder Leiter einer Gruppe. Öffne ich der Sünde die Türe, sodass sie Macht bekommt, erst bei mir und dann durch mich in den Beziehungen, in denen ich lebe?
2. Wo muss ich lernen, meine rosarote Brille abzusetzen, um die Welt zu sehen, wie sie ist: bedroht und von einzelnen Menschen, wenn sie Raum bekommen, gefährdet. Wegsehen ist einfacher. Für die Bösewichte sind dann die anderen zuständig. Wie schnell ziehen wir uns in die fromme Gemeinschaft zurück und spielen »heile Welt«?
Und wenn ich sehe, was wirklich los ist: Was kann ich dagegen tun? Ist couragiertes Auftreten eines Einzelnen angeraten? Oder soll ich mich mit anderen zusammenschließen? Muss ich die Polizei einschalten? Oder soll ich mich zurückziehen, weil dem wachsenden Misstrauen nicht mehr zu begegnen ist, weil jedes weitere Wort das Problem nur verstärkt?
Die Bibel, besonders der Prediger, öffnet uns die Augen für die zerstörerische Kraft eines einzelnen Menschen. Die spannende Frage bleibt: Wo muss ich diese Wirklichkeit akzeptieren, vielleicht ertragen, und wo muss ich dagegen angehen? Ohne den Realismus des Predigers würde uns in jedem Fall ein entscheidender Beitrag zur Alltagstauglichkeit des Glaubens fehlen.
Ansgar Hörsting, Jahrgang 1965, verheiratet mit Susanne, wohnt in Witten a.d. Ruhr. Er ist Pastor und seit 2008 Präses des Bundes Freier evangelischer Gemeinden Deutschland. Seine Hobbys sind Sport, Kaffee, gutes Essen, lustige Spielrunden und Gartenarbeit.