Es wurde dir, Mensch, doch schon längst gesagt, was gut ist und wie
Gott möchte, dass du leben sollst. Er fordert von euch nichts anderes,
als dass ihr euch an das Recht haltet, liebevoll und barmherzig miteinander
umgeht und demütig vor Gott euer Leben führt.
Micha 6,8
Der amerikanische Theologe und Sozialaktivist Jim Wallis ging als Student mit seinen Freunden der Frage nach, was die Bibel zu den Themen »Soziale Gerechtigkeit und Armutsbekämpfung« zu sagen hat. Sie wollten wissen, welchen Stellenwert diese Thematik in der Bibel hat. Daraufhin begann einer seiner Freunde, alle Verse über Gerechtigkeit und Armut aus der Bibel auszuschneiden. Sie wurde immer löchriger, manche Seiten fielen fast auseinander. Zum Schluss fehlten mehr als 2000 Verse, immerhin jeder 14. Vers in der Bibel.
Wie kommt es, dass wir einen so großen Teil der Bibel so leicht übersehen? Wie kann es sein, dass die Bekämpfung von Armut und der Einsatz für Gerechtigkeit Gott so sehr am Herzen liegen, aber bei uns kaum eine Rolle spielen?
Ich denke, es hat damit zu tun, dass jeder von uns die Bibel mit der Brille seiner Kultur und persönlichen Vorerfahrung liest. Wir Christen in Deutschland gehören weithin zu bürgerlich wohlsituierten Kreisen. Wer eine Arbeitsstelle hat, denkt eben automatisch wenig über Armut nach. Wer in einer Demokratie lebt, muss sich nicht gegen Willkür und Unterdrückung wehren. Kurzum: Wer gut abgesichert lebt, für den ist Gerechtigkeit und Armut kein Thema. Doch Gott sieht das anders. Für ihn ist das ein Thema.
Mit Micha 6,8 fasst Gott zusammen, welches konkrete Verhalten er von seinem Volk erwartet. Doch diese Weisungen stehen nicht im luftleeren Raum. Er gibt sie, nachdem er ausführlichst klargemacht hat, wie gut seine Absichten und seine Wege sind. Er ist der Gott, der sein Volk aus der Sklaverei befreit hat. Er ist der Gott, der immer wieder fähige Leiter eingesetzt hat. Er ist der Gott, dem es nicht um Unterwürfigkeit und Opfergaben geht, sondern um eine lebendige Beziehung. Gott verwendet unwahrscheinlich viel Mühe, um durch diesen Prophetenspruch klarzumachen, wie sehr er für uns Menschen ist.
Alle ethischen und moralischen Forderungen, die in Micha 6,8 enthalten sind, müssen auf diesem Hintergrund verstanden werden. Gott ist gut, er liebt uns, er will die Fülle des Lebens für uns und alle seine Geschöpfe. Sind wir uns darüber nicht im Klaren, so werden ethische Weisungen Gottes ganz schnell zur moralischen Keule. Aus Jesu Zusage »Mein Joch ist leicht« wird dann das Empfinden: »Sein Joch ist schwer«. Doch was Gott uns hier ans Herz legt, ist in der Tat leicht zu tragen.
Zuerst einmal will Gott, dass wir unser Handeln an dem ausrichten, was nach seinem Willen richtig ist. Hier wird im hebräischen Urtext das Wort »mishpat« verwendet, ein Begriff, der sowohl das Recht anspricht, das bei Gericht gesprochen wird, als auch die Gerechtigkeit, die in einem Volk herrschen soll. Gerechtigkeit, Recht, im Sinne Gottes zielt darauf ab, soziale Ordnungen zu schaffen, die ein positives und sinnerfülltes menschliches Zusammenleben möglich machen. Im 5. Kapitel erklärt Gott durch den Propheten, welche menschenverachtenden Verhaltensweisen er durch seine Weisungen verhindern will: Straßenraub, Frauenhass, Kinderfeindlichkeit, Zinswucher, Zwangsversteigerung, Gewalttaten, Korruption. Es ist erschreckend, wie aktuell diese uralte Vergehensliste im Zeitalter der Globalisierung immer noch ist.
Gott will uns Mut machen, uns einzumischen. Recht und Gerechtigkeit fallen nicht vom Himmel. Gott befähigt uns vielmehr, mit der Kreativität des Heiligen Geistes immer wieder neu Wege und Mittel zu finden, dass Gerechtigkeit auf dieser Erde geschieht. Und zwar nicht nur für uns, sondern auch für andere. Wir müssen nicht die Spielregeln der Globalisierung kritiklos übernehmen. Gottes Geist inspiriert uns zu Alternativen.
Ein Beispiel ist die Micha-Initiative der Deutschen Evangelischen Allianz. Sie hat zum Ziel, ihre Stimme für die Verlierer der Globalisierung zu erheben und sich für gerechtere Wirtschaftsstrukturen einzusetzen. Aber auch jeder einzelne Christ ist dazu aufgerufen, an seinem Platz dafür einzutreten, dass »Recht« geschaffen wird.
Nachdem die gesellschaftlichen Ordnungen und Strukturen geklärt wurden, zielt nun der zweite Punkt auf die Art des Zusammenlebens von uns Menschen ab. Das hier im Hebräischen verwendete Wort »chäsäd« kann im Deutschen für eine Fülle von Begriffen stehen: Güte, Gnade, Treue oder auch Loyalität. Gott erklärt, wie wir Menschen diese gesellschaftlichen Ordnungen mit Leben erfüllen sollen. Es geht ihm um eine Herzenshaltung, die von Gottes Liebe geprägt sein soll. Nicht umsonst wird von Jesus das Doppelgebot der Liebe als das höchste Gebot, das alle anderen Gebote miteinschließt, bezeichnet.
Zu einer Gesellschaft wie der unsrigen, in der es vor allem um Durchsetzungsvermögen, Erfolg, Leistung und Gewinnen geht, wird hier eine christliche Kontrastkultur entworfen. Was würde sich in unseren persönlichen Beziehungen, an unseren Arbeitsplätzen und im öffentlichen Leben verändern, wenn wir einander verstärkt mit Güte, Barmherzigkeit und Freundlichkeit begegnen würden? Haben wir Mut und Fantasie, in ein christliches Kontrastprogramm zu investieren? Sind wir bereit, den Preis zu zahlen? Oder sind wir angepasste Realisten, die sich irgendwie durch den Alltag lavieren, um noch das Bestmögliche herauszuholen? Ich bin mit Shane Claiborne überzeugt: »Die Welt braucht Menschen, die so sehr an eine andere Welt glauben, dass sie nicht anders können, als sie schon jetzt zu leben.«3 Dies ist jedoch nur möglich, wenn Gott als die Kraftquelle zum Tun des Guten ins Spiel kommt.
Damit wir gerechte und liebevolle Beziehungen im Großen wie im Kleinen leben können, brauchen wir die Rückkoppelung an Gott. Was Luther mit »demütig sein vor Gott« übersetzte, kann man noch treffender mit »Lebe in steter Verbindung mit deinem Gott« ausdrücken. Wir brauchen Gott und seinen Geist. Es ist der Geist der Liebe und der Kraft, den wir haben, weil wir Gottes Kinder sind, und der uns umso mehr erfüllt, je mehr wir darum bitten.
Ein Blick in die Kirchengeschichte zeigt, welchen Sprengstoff Gottes Liebe haben kann. Philipp Spener, bekannt als einer der Väter des Pietismus, sorgte sich nicht nur um den zerrütteten Zustand der Kirche, sondern entwarf für Berlin und Frankfurt eine kommunale Armenordnung und eine staatliche Sozialversicherung – 200 Jahre bevor eine solche allgemein von Bismarck eingeführt wurde! William Carey, bekannt durch seine zahlreichen Bibelübersetzungen, rief öffentlich dazu auf, keinen Zucker zu kaufen, der von Sklaven produziert wurde. Und Carl Christian Mez führte als einer der ersten Unternehmer eine Pflichtkrankenversicherung ein, verzichtete auf Kinderarbeit und reduzierte die tägliche Arbeitszeit seiner Angestellten auf 10 Stunden.
Auch wenn unser Alltag in kleinerer Münze gelebt wird als der von Spener, Carey oder Mez: Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Dinge tun, werden das Gesicht der Welt verändern. Unser Leben hat diese Beauftragung. Jörg Zink fasst sie in ein Gebet: »Herr, wir danken dir, dass du unserem kleinen Leben diesen großen Sinn gegeben hast: mit dir zu wirken, mit dir Gerechtigkeit zu schaffen und Frieden auszubreiten. Du willst, dass wir ohne Gewalt, ohne Anspruch und ohne Befehl, allein in Glauben und Geduld, deine Liebe zu denen bringen, die an Liebe nicht mehr glauben.«4
• Informieren Sie sich über das Thema bei www.micha-initiative.de oder www.stoparmut2015.ch und überlegen Sie, was Sie tun können.
• Beten Sie eine Woche lang täglich ein kurzes Stoßgebet beim Hören, Sehen oder Lesen einer Katastrophenmeldung.
• Nehmen Sie am Leben eines Missionars teil, der Christus unter den Armen bekannt macht. Unterstützen Sie ihn durch Gebet, Kontaktpflege und Spenden.
Dr. Andreas Kusch, Jahrgang 1959, wohnt in Gomaringen bei Tübingen. Er ist Spiritual und Dozent an der Akademie für Weltmission, Mitglied in der evangelischen Landeskirche und leidenschaftlicher Nordic Walker.