Einen Streit anzufangen gleicht dem Öffnen eines Dammes;
deshalb lass eine Sache lieber auf sich beruhen, bevor es zum
Streit darüber kommt.
Sprüche 17,14
Als ich ein Kind war, machten wir oft in den Bergen Urlaub. Immer am selben Ort. Dort gab es eine Stelle, an der ein normalerweise reißender Gebirgsbach recht flach dahinplätscherte. Daneben befanden sich eine Bank und ein paar große Steine.
Wenn meine Eltern entschieden hatten, keine Wanderung zu machen, dann konnte es vorkommen, dass die ganze Familie loszog und sich an dieser Stelle niederließ. Mein Vater lag dann auf der Bank und schlief, meine Mutter schrieb Briefe und wir Kinder bauten Staudämme.
Das war eine Wissenschaft für sich. Da der Bach eine gewisse Strömung hatte, konnte man das Baumaterial nicht einfach irgendwohin setzen. Kies und Sand wurden weggeschwemmt, ebenso kleine Stöckchen.
Man musste zuerst einige größere Steine geschickt platzieren. Zwischen diese Steine wurden Stöcke gelegt, und zwar so, dass die Steine sie hielten. Am besten als eine Art Flechtwerk. Und hinter dieses Flechtwerk verfüllte man dann mittlere, zum Teil auch kleinere Steine, Kies und Sand, bis eine halbwegs dichte Mauer entstanden war.
Dann begann das Wasser sich langsam zu stauen, und wir Kinder standen mit hochgekrempelten Hosenbeinen im Wasser und beobachteten aufmerksam die Mauer, um jede noch so geringe undichte Stelle sofort zu entdecken und zu flicken. Irgendwann war dann auf diese Art ein kleiner Stausee entstanden.
Mein Vater bestand jedes Mal darauf, dass wir den Staudamm einrissen, bevor wir wieder gingen. Vielleicht hatte er Angst, es könne eine kleine Überschwemmung geben oder vielleicht auch Ärger mit anderen Urlaubern. Vielleicht aber hatte er einfach Spaß an der Art, wie wir den Staudamm zu zerstören pflegten:
Wir stellten uns alle hin, um das Schauspiel zu beobachten. Dann bohrte einer ein kleines Loch an einer einzigen Stelle in die so sorgfältig gebaute Staumauer. Und durch dieses kleine Loch begann das Wasser abzufließen. Aber es blieb nicht lange bei dem einen Leck. Das Wasser, welches jetzt mit seiner ganzen Kraft durch die Öffnung strömte, nahm das kleinkörnige Material rund um das Loch herum mit, sodass es sich ziemlich schnell vergrößerte, immer weiter. Mittlerweile war es bereits ein kleiner Bach, der sich an dieser Stelle seinen Weg bahnte. Er riss die Ästchen mit und die Steine, zum Teil sogar die großen, welche wir mit so viel Mühe an dieser Stelle platziert hatten. Innerhalb von Minuten war das Bauwerk zerstört, und während dieses Vorgangs hätten auch keine Flickversuche mehr geholfen. Darüber hinaus nahm das Wasser auch noch weiter unterhalb Steine, Äste und anderes mit. Wir standen da und besahen in einer Mischung aus Bedauern und Bewunderung das Zerstörungswerk. Und wenn wir dann gingen, dann zeugten vielleicht nur noch zwei oder drei jetzt anders liegende große Steine davon, dass hier vor kurzer Zeit noch ein Staudamm gestanden hatte.
Wasser ist ein Segen, das weiß jeder, der nach wochenlanger Trockenheit beobachtet hat, wie nach einem Sommerregen die Natur geradezu über Nacht wieder grünt und blüht.
In Wasser steckt eine unheimliche Energie, das weiß jeder, der einmal eine Wassermühle beobachtet hat – oder auch nur einen Gebirgsbach angesehen und sich klargemacht hat, dass die ganzen Baumstämme, Äste und Felsbrocken von diesem kleinen Bächlein hergebracht worden sind – zur Zeit der Schneeschmelze.
Und Wasser kann zerstören, kleine Staudämme, aber auch ganze Städte und Landstriche, das weiß jeder, der einmal eine richtige Überschwemmung erlebt oder wenigstens die Bilder davon im Fernsehen gesehen hat.
Meinungsverschiedenheiten gibt es immer wieder einmal. Meinungsverschiedenheiten gehören zum Leben dazu, auch unter Menschen, die sich wertschätzen oder sogar lieben. Hin und wieder müssen Grenzen gesetzt, Probleme angesprochen oder Kritik geübt werden. Nicht jeder kann das gleich gut, und nicht jeder kann das gleich gut vertragen.
Trotzdem: Solange die Kritik mit Wertschätzung verbunden ist, solange sie respektvoll ausgesprochen wird, ohne die angesprochene Person abzuwerten, ist sie oft nötig und sogar im Endeffekt hilfreich.
Der Anfang eines Zankes ist, wie wenn einer Wasser entfesselt; so lass den Streit, ehe er heftig wird – das steht in den Sprüchen, in der Bibel (ELB).
»Streit« steht dort. »Lass den Streit, ehe er heftig wird.«
Wie nun unterscheide ich einen solch heftigen Streit von einer Meinungsverschiedenheit? Wie bemerke ich es, wenn sie zum »heftigen Streit« wird?
Ein Streit entsteht fast immer auf die gleiche Art. Meistens geht es zunächst nur um eine einzelne Sache, einen einzelnen Punkt – oft genug nur eine Kleinigkeit. Der eine hat wieder einmal eine Socke im Bad liegen lassen, die andere vergessen, den Brief einzuwerfen. Man wirft sich das vor. Wenn jetzt der »Schuldige« um Entschuldigung bittet und der andere ihm verzeiht, dann ist alles in Ordnung. Vielleicht überlegt man noch zu zweit, wie man ein solches Versäumnis in Zukunft vermeiden kann – dann ist es gut. Viel zu oft aber läuft die Sache anders weiter: Nummer eins findet, er sei im Recht, und zumindest müsse niemand ein solches Theater um eine einzelne Socke veranstalten. Nummer zwei meint, es gehe nicht um eine einzelne Socke, sondern um das Prinzip. Nummer eins erinnert Nummer zwei an dessen Versäumnisse, Nummer zwei gräbt ein paar weitere Fehler von Nummer eins aus.
Jetzt sind wir schon in dem Stadium, in dem der Damm der gegenseitigen Wertschätzung ein ziemliches Leck hat. Das Wasser des Streits fließt, mit ungeahnter Kraft, und reißt das Loch immer größer, wenn es nicht doch noch ganz schnell jemandem gelingt, es zu flicken.
Es geht schon lange nicht mehr um einzelne Socken, noch nicht einmal mehr um Socken im Allgemeinen, sondern um Unordnung, um mangelnde Mithilfe, um unmögliche Herkunftsfamilien, um nicht gezeigte Liebe.
Das Loch im Damm wird immer größer. Schon strömt das »Wasser« des Streits an den verschiedensten Stellen. Schon kann man gar nicht mehr absehen, wohin diese Auseinandersetzung noch führen wird – und meistens wissen beide auch gar nicht mehr so genau, was eigentlich der Auslöser war.
Im Notfall kann man noch bremsen. Aber die Verletzungen sind möglicherweise schon entstanden. So viel ist schon gesagt worden, was besser ungesagt geblieben wäre.
Wenn der Streit jedoch weiter eskaliert, wenn er so richtig heftig wird, verliert wahrscheinlich mindestens einer der Streitenden die Kontrolle über sich. Hiebe und Beschimpfungen werden ausgeteilt. Vertrauen wird zerstört, womöglich unwiederbringlich. Jeder versucht nur noch, den anderen zu verletzen, wie ein Tier, welches in einer Falle sitzt und sich nicht daraus befreien kann. Jahrelang Vergessenes, Aufgestautes wird frei. Keiner hat mehr die Kontrolle über sich selbst und will sie in seinem Zorn vielleicht auch gar nicht haben. Es wird nur noch zerstört und verletzt.
Und dann? Wenn der Zorn verraucht ist, sitzen die Beteiligten vor einem Scherbenhaufen.
Heftiger Streit zerstört blindwütig. Bis die Verletzungen verheilt sind, können Jahre vergehen. Deshalb rät der Sprücheschreiber: Lasst Streit nicht eskalieren! Er entwickelt eine blinde Gewalt wie Wasser, das durch ein Loch im Damm fließt. Bremst euch, ehe ihr von konkreter Kritik auf Grundsätzliches kommt! Haltet ein, ehe ihr die Kontrolle verliert und nur noch verletzt! Behandelt einander mit Wertschätzung!
Guter Gott, hilf mir an diesem Tag, selbst wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt, im anderen deine geliebte Tochter, deinen geliebten Sohn zu sehen und den Damm der Wertschätzung nicht einstürzen zu lassen! Hilf mir, Streit abzuwenden, gerade dann, wenn er droht, heftig zu werden! Amen.
Inken Weiand, Jahrgang 1968, lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Bad Münstereifel und arbeitet nach einigen Familienjahren als Autorin. In ihrer ev. Kirchengemeinde ist sie in der Kinderarbeit, in der Kirchenmusik sowie in der Gottesdienstgestaltung aktiv.