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27. Woche

Vom Glück, kritisiert zu werden

Wenn ein Gottesfürchtiger mich züchtigt, wird es mir nur gut tun.

Sein Tadel ist wie lindernder Balsam, den ich freundlich annehme.

Psalm 141,5

Momos ist in der griechischen Mythologie die Personifikation des Tadels, ein Meister scharfzüngiger Kritik, der auch vor den Göttern nicht haltmachte. Sie wählten, nachdem Zeus den Stier, Prometheus den Menschen und Athene das Haus geschaffen hatten, Momos als Schiedsrichter für den Wettstreit ihrer Kunstfertigkeiten. Dieser hatte jedoch an allen Werken etwas auszusetzen: Der Stier sollte die Hörner lieber unterhalb der Augen haben, damit er besser sehen könnte, wohin er stößt; der Mensch müsste das Herz außen am Körper tragen, damit man ihm seine eventuelle Schlechtigkeit ansehe; das Haus müsste Räder haben, damit man sich im Falle eines bösen Nachbarn einfacher entfernen könne. Selbst Aphrodite, an der er sonst nichts auszusetzen fand, schmähte er wegen ihrer klappernden Schuhe. Aufgrund von so viel Mäkelei wurde er schließlich von Zeus aus dem Olymp verbannt.

Kritiker sind von Natur aus unbeliebt. Wir mögen es nicht, wenn man uns infrage stellt, unsere Fähigkeiten bemängelt oder an unseren Werken herummäkelt. Ich habe jedenfalls noch keinen Menschen getroffen, der sich nach Tadel gesehnt hat, weil er wie ein lindernder Balsam wirkt, wie es in diesem Bibelvers behauptet wird. Im Gegenteil, wir fürchten die Kritik, weil sie uns wehtut und sehr oft sogar verletzend ist. Eine Verletzung ist aber das Gegenteil von linderndem Balsam. Hat David, der den kurzen Psalm 141 geschrieben hat, hier übertrieben oder sich die Wahrheit schöngeredet? Wollte er die Augen vor der Wirklichkeit, die wir alle nur zu gut kennen, verschließen? Wenn man den Psalm im Ganzen liest, merkt man schnell, dass sich der von Gott berufene, aber von Menschen kaltgestellte König der Boshaftigkeit der Leute, die über ihn lästerten, sehr wohl bewusst war und darunter litt. Er klagt Gott sein Leid darüber, aber mittendrin leuchtet dieser dankbare Vers auf.

Dem Bild von der lindernden Salbe, das David hier gebraucht, liegt eine andere Überlegung zugrunde. Die Salbe wird auf eine Verletzung oder einen Insektenstich aufgetragen, die Verletzung ist also schon da und wird nicht durch die Salbe erzeugt. Übertragen wir das auf unser Leben, kommen wir zu der – nicht überraschenden – Erkenntnis: Wir sind nicht vollkommen, wir sind Mangelwesen, wir machen nicht alles perfekt. Da sind wunde Punkte, die wir zu verbergen suchen. Einer tut es, indem er auf andere zeigt. Ein anderer lobt sich so sehr, dass er hofft, man nimmt die Schwachpunkte nicht mehr wahr. Wieder einer scheut das Licht der Öffentlichkeit, damit seine Fehler nicht auffallen, er tut lieber gar nichts. Berechtigte Kritik bringt unsere Mängel ans Tageslicht, wir können sie nicht mehr verstecken. Dieser schmerzhafte Akt ist aber wichtig, damit die Wunde heilen kann. Eine gute Kritik zeigt auch einen Weg, wie es besser werden kann. Sie hilft bei der Heilung unserer Schwachstellen. Sie ist wie eine lindernde Salbe auf unseren Wunden.

Ich möchte Ihnen drei Formen der Kritik vorstellen.

1. Kritik um meinetwillen

Als junger Pastor war ich noch voller theologischer Ideen und hatte mir im Studium eine ausgefeilte Fachsprache angewöhnt. So schrieb ich meine ersten Predigten wie eine Facharbeit für meinen Professor. Bevor ich allerdings auf die Menschen meiner Gemeinde losgelassen wurde, gab ich die fertige Predigt meiner lieben Frau. Sie las sich alles von Anfang bis Ende durch und meinte dann trocken: »Matthias, ich verstehe kein Wort! Und wenn ich es nicht verstehe, dann verstehen es die anderen auch nicht. Außerdem ist es viel zu lang. Schreib deine Predigt so, wie du mit mir redest.« So setzte ich mich noch einmal daran, und noch einmal, so lange, bis meine Frau zufrieden war. So ging es jede Woche, bis ich begriffen hatte, worum es ging. Heute hält mich meine Claudia für den besten Prediger und hat nur noch ganz selten etwas auszusetzen.

Es gibt eine Kritik, die geschieht aus Liebe. Es steckt in erster Linie kein Eigennutz des Kritikers dahinter, es geht auch nicht um die Sache selbst, es geht um mich, der ich kritisiert werde. Es geht darum, dass ich besser werde. Die Kritik dient mir. Auch solche Kritik kann unbeholfen oder kratzbürstig wirken und nicht immer trifft sie ins Schwarze. Aber nur, wenn ich mich solcher Kritik aussetze, kann ich wachsen und lernen. Diese Kritik hilft, meine Schwachstellen zu heilen.

2. Kritik um der Sache willen

In einer Gemeinde bekam ich regelmäßig Besuch von einer Dame, die heftig kritisierte, was in der Gemeinde ihrer Meinung nach alles schieflief. »Man müsste doch …, man sollte mal …, man kann doch nicht …!« Jeden Sonntag nach dem Gottesdienst hatte sie wieder irgendetwas. Manchmal war ich direkt froh, wenn sie nicht da war. Trotzdem versuchte ich, ihr freundlich zuzuhören, ihre Anliegen ernst zu nehmen und etwas zu unternehmen. Ich begriff mit der Zeit, dass sie das Herz auf dem rechten Fleck hatte, dass es ihr um die Gemeinde Jesu ging und darum, dass sie perfekt sein sollte. Sie konnte nur schwer mit den Begrenzungen, die bei der Arbeit mit Menschen automatisch entstehen, umgehen. Sie wollte mich nicht ärgern, sie wollte wirklich nur das Beste.

Bei dieser Kritik geht es um die Sache. Das kann sehr unterschiedlich sein. Einer wird sehr sachlich und konkret sagen können, was ihm missfällt. Ein anderer fällt emotional geradezu über uns her. Manche Kritik ist scharfsinnig und berechtigt, andere geht meilenweit an der Realität vorbei. Manchmal fühlen wir uns persönlich angegriffen, ein anderes Mal schauen wir mit Abstand auf die Sache. Aber die Kritik hat nichts mit uns persönlich zu tun. Es geht um die Sache, darum, dass sie besser wird. Deshalb sollten wir uns dieser Kritik stellen. Sie kann uns helfen, mit dem schärferen Blick des Kritikers auf unser Werk zu sehen. Und wenn wir von hundert Kritikpunkten nur einen verbessern können, dann haben wir schon etwas erreicht. Oft stehen wir uns selbst im Weg, weil wir die Kritik persönlich nehmen, weil wir versuchen, uns zu rechtfertigen, weil wir gekränkt sind. Das ist schade, denn die Sache Jesu ist es wert, dass wir unsere Befindlichkeiten zurückstellen.

3. Kritik um der Unzulänglichkeit des Kritikers willen

Zwei Männer, die ich lange Zeit als enge Freunde betrachtet habe, hatten mich zum Gespräch geladen. Sie hatten sich in einer Auseinandersetzung unerwartet auf die andere Seite geschlagen und versuchten nun, ihr Handeln zu rechtfertigen. Es ging nach der Devise: Angriff ist die beste Verteidigung. Mit vielen Worten versuchten sie mich verantwortlich zu machen für das, was alles Schlimmes kommen würde. Sie brauchten einen Sündenbock. Ständig tönte es: »Du bist verantwortlich, wenn …« Kein einziges Mal klang Selbsterkenntnis durch. Allerdings ist keine der prophezeiten Katastrophen eingetreten. Der Angriff war ganz und gar unnötig.

Es gibt eine Kritik, die von der eigenen Unzulänglichkeit ablenkt, indem sie auf andere zeigt. Da oft nicht genügend Fakten da sind, wird wild drauflos vermutet, werden Aussagen verdreht, böse Motivationen unterstellt. Manchmal ist es nicht einfach, solch einen Angriff unbeschadet zu überstehen. Der gute Ruf leidet, die Seele wird verwundet und er kann sogar die materielle Existenz angreifen. Deshalb beendet David diesen Vers (nach Luther 1984) mit dem Satz: Deshalb bete ich, dass jene mir nicht Schaden zufügen! Es gibt eine Kritik, vor der ich mich schützen muss, indem ich mich unter den Schutz Gottes begebe.

Lassen Sie uns in dieser Woche drei konkrete Aufgaben angehen, durch die wir lernen, mit Kritik richtig umzugehen:

•  Danken Sie jedem, der Sie in dieser Woche kritisiert, ganz herzlich, weil er den Mut aufgebracht hat, Ihnen entgegenzutreten, eventuell sogar Ihre Freundschaft zu verlieren. Machen Sie ihm ein kleines Geschenk, das Ihre Dankbarkeit zeigt.

•  Nehmen Sie sich in dieser Woche einen Kritikpunkt vor, an dem Sie arbeiten wollen. Hängen Sie sich Ihren Vorsatz auf Zetteln an (auch für andere) gut sichtbare Orte wie Kühlschrank, Toilettentür, Autospiegel. Wenn andere diese Zettel sehen, werden sie mit darauf achten, ob Sie danach handeln.

•  Gehen Sie in dieser Woche einen Kritikpunkt an, der Sie in der Vergangenheit besonders gekränkt hat. Prüfen Sie für sich, ob nur die Form sehr ungeschickt war oder ob tatsächlich jemand von sich ablenken wollte. Beten Sie für sich, dass die lieblose Kritik Ihnen keinen Schaden zufügt. Und segnen Sie den Kritiker im Namen Jesu. Nur so können Sie frei werden von der bedrückenden Last der Kränkung.

Matthias Herrchen arbeitet als Pfarrer in der reformierten Kirche von Zürich. Im Rahmen von streetchurch baut er eine Jugendkirche im streetstyle auf, die Jugendlichen ein Zuhause gibt, die in normalen Gemeinden nicht heimisch werden können.