Weise Menschen behalten ihr Wissen für sich,
aber der geschwätzige Mund eines Narren führt ins Verderben.
Sprüche 10,14
Dass Geschwätzigkeit ins Verderben führen kann, ist ja vorstellbar, aber wieso soll es weise sein, sein Wissen für sich zu behalten? Gehen die Menschen, geht die Welt nicht viel eher an ihrer Dummheit zugrunde? Das mag sein – trotzdem kann Wissen Geschwätz sein, weil es kopflos und ohne Empathie ausgeteilt wird.
In meinem Sportclub werden neue Mitglieder von den Trainerinnen an den Sportgeräten und beim Stretching angelernt. Bis die sachgerechte und gesundheitsförderliche Nutzung aller Sportgeräte verstanden und behalten ist, vergeht manchmal geraume Zeit. In dieser Zeitspanne greifen langjährige Clubmitglieder manchmal ein und geben »Tipps«. Das gefällt weder den neuen Mitgliedern noch den Trainerinnen. Die neuen Mitglieder kommen sich dann begriffsstutzig und dumm vor. Und die Trainerinnen kommen erstens unter Druck, weil ein Mitglied, wenn auch ohne Auftrag und ungefragt, ihre Arbeit übernommen hat. Zweitens müssen sie als ausgebildete Trainerinnen darauf achten, dass die Trainingseinheit korrekt ausgeführt wird, damit kein gesundheitlicher Schaden entsteht. Das kann kein Mitglied ohne Trainerausbildung leisten.
Unerwünscht ausgesprochenes Wissen gefährdet die Beziehung.
Ein anderes Beispiel: Ich bin eine extrovertierte, kommunikative Frau. Ich rede und diskutiere gerne. Das ist privat und im Beruf so – und erst einmal ja auch nicht schlecht. Dennoch kann es Probleme verursachen. Denn wenn ich unreflektiert so extrovertiert lebe, wie es mir passt, bezahle ich dafür einen Preis. Die Leute wenden sich von mir ab und hören nicht mehr zu. Oder sie halten die Luft an und/oder rollen mit den Augen, wenn von mir schon wieder ein Beitrag kommt.
Unreflektiert ausgesprochenes Wissen gefährdet möglicherweise das Gesamtprojekt.
Oder da ist der junge Mann, der vor lauter Wissen sein Lebensglück verpasst, wie es in einem Lied der Wise Guys6 beschrieben wird.
Sie trafen sich am Strand kurz vor dem Sonnenuntergang
und lächelten und waren leicht verlegen.
Alles war so neu, sie kannten sich noch nicht sehr lang.
Er streckte ihr ’nen Rosenstrauß entgegen.
Sie sagte: »Rosen wecken so romantische Gefühle.«
Da nickte er und sprach: »Ja, zweifelsohne!
Da reichen in der Nase ein paar tausend Moleküle
der Duftstoffe mit Namen ›Pheromone‹.«
Und sie saßen eine ganze Weile schweigend beieinander
und blickten auf das weite Meer hinaus.
So saßen sie am Meer in dieser warmen Sommernacht.
Sie griff nach seiner Hand und seufzte leise:
»Wie wundervoll die Sterne funkeln – es ist eine Pracht!«,
und sie schmiegte sich an ihn auf sanfte Weise.
Er sah sie an und sagte nur: »Die Sterne funkeln nicht.
Das wäre ja verrückt, wenn das so wäre!
Es sieht vielleicht so aus, doch es bricht sich nur das Licht
in den Schichten oben in der Atmosphäre.«
Und sie saßen eine ganze Weile schweigend beieinander
und blickten auf das weite Meer hinaus.
Und dann ging sie ohne ihn nach Haus.
Wissensvermittlung ohne Empathie verhindert Lebensglück.
Ich arbeite für eine Akademie, bei der sich in erster Linie Leiter und Leiterinnen weiterbilden lassen. Manchmal bewerben sich auch Dozenten und Dozentinnen um einen Lehrauftrag. Nach der Motivation befragt, antworten manche Bewerber: »Ich habe so viel, was ich weitergeben kann. Daran möchte ich andere teilhaben lassen.« Hier will also jemand sein Wissen austeilen. Offen bleibt, ob dabei die Bedürfnisse der zu Lehrenden berücksichtigt werden. Nach einigen Jahren Erfahrung kann ich sagen, dass diese Bewerber häufig von sich selbst eingenommene Vielredner sind. Ohne Zweifel haben die meisten eine hohe Sachkompetenz. Aber: Wissensvermittlung ohne Interesse am Bedürfnis der anderen verfehlt das Ziel (und verhindert Lehraufträge).
Inzwischen habe ich einiges gelernt. So achte ich zum Beispiel darauf, möglichst kein ungefragtes Feedback zu geben. In meinem Sportclub beiße ich mir manchmal einfach auf die Zunge und in Sitzungen achte ich darauf, möglichst nur dann das Wort zu ergreifen, wenn ich einen wichtigen Beitrag habe oder wenn die Tagungsordnungspunkte mit einem meiner Aufgabenfelder zu tun haben. Als ich vor einiger Zeit eine Sitzung moderierte und mich eine Teilnehmerin gegen Ende aufforderte, meine Meinung doch auch noch einzubringen, erkannte ich: »Ich habe schon was gelernt!« Darüber habe ich mich sehr gefreut!
Vor einiger Zeit wollte ich als Predigtzuhörerin dem Prediger ein Feedback geben. Daher habe ich ihn zuerst gefragt, ob ich das darf. Seine Antwort lautete: »Jetzt nicht, aber ich kann morgen Abend zu dir kommen. Dann habe ich mehr Ruhe und Zeit dazu.« Wir vereinbarten ein Treffen. Als er dann am nächsten Abend kam, brachte er Stift und Papier mit, um sich meine Rückmeldung aufzuschreiben. Aus meiner Wertschätzung ihm gegenüber, die ihm die Freiheit der Entscheidung ließ, erwuchs Wertschätzung mir gegenüber. Mein Feedback war ihm so wichtig, dass er es sich sogar aufschrieb.
Das alles hat sich über einen langen Zeitraum entwickeln können. In dieser Zeit besuchte ich einige Schulungen, die mir biblisch-theologische und kommunikationswissenschaftliche Reflexionen ermöglichten, und reflektierte mein Leben und das Gelernte mit einer Seelsorgerin. Den Übungen in der Theorie folgte sogleich die Lebenspraxis. Niederlagen folgten Neuanfänge, und manches Feedback war von Tränen begleitet. Wer sich weiterentwickeln möchte, wird sich auch auf schmerzhafte Prozesse einlassen müssen. Aber es lohnt sich! Wer danach strebt, auf eine gute Weise weiser zu werden, befindet sich im Rahmen biblischer Weisheit.
Ob ungefragt Wissen vermittelt werden sollte, kann man auch an folgenden Fragen prüfen:
• Verhindert mein Wissen ein schweres Unglück?
• Wozu und für wen ist mein Wissen wirklich nützlich?
• Was erreiche ich für mich, wenn ich mein Wissen einbringe?
• Verhindert mein Wissen, dass andere Menschen ihre eigenen (hilfreichen) Erfahrungen machen?
In den Sprüchen Salomos werden die weisen Menschen den Narren gegenübergestellt. Wer Wissen kopflos und ohne Empathie weitergibt, gleicht einem Narren. Wer Erkenntnis für den rechten Moment, den Kairos, zurückbehalten kann, ist weise. Die Chancen, gehört zu werden, vervielfachen sich und dann entfaltet das erwünschte Wissen seine Kraft. Und das wünsche ich mir und Ihnen, verehrte Leser. Denn: Ein gutes Wort zur rechten Zeit ist so lieblich wie goldene Äpfel in einem silbernen Korb (Sprüche 25,11). Dieser Vers ruft mit seinem Vergleich ein wertvolles, ästhetisches und kunstgeprägtes Bild für den rechten Zeitpunkt einer Wissensvermittlung hervor. Darauf lohnt es sich, mit Weisheit geduldig zu warten!
Martina Kessler (MTh), Jahrgang 1961, lebt in Gummersbach und ist Dozentin und Mitglied der Akademieleitung der Akademie für christliche Führungskräfte, psychologische Beraterin und Fernsehmoderatorin. Sie ist Mitglied der Freien evangelischen Gemeinde Gummersbach-Dieringhausen.