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33. Woche

Wie ein roter Apfel

Geht so mit anderen um, wie die anderen mit euch umgehen sollen.

Matthäus 7,12

Es war ein kalter, grauer Tag im Jahr 1942. Ein Junge stand am Stacheldrahtzaun eines Konzentrationslagers und schaute sehnsüchtig in die Freiheit. Er war hungrig und er fror. Doch noch viel mehr bedrückte ihn die Situation im Lager.

Er spürte keine Freundlichkeit, keine Güte und Liebe mehr. Jeder dachte nur an sich, an das eigene Überleben. Und die Wachsoldaten schienen gefühllose Roboter zu sein, die ohne nachzudenken die Befehle ihrer Vorgesetzten ausführten. Einige von ihnen zeigten sogar eine perverse Lust an Grausamkeiten. Der Junge erschauerte. Wie sehr sehnte er sich nach Wärme, nach Licht, nach einem einzigen freundlichen Wort.

Ein Mädchen ging auf der anderen Seite am Stacheldraht vorbei. Sie blieb stehen und schaute den Jungen an. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dann griff sie in ihre Tasche, zog einen roten Apfel heraus und warf ihn über den Zaun.

Der Junge bückte sich, hob den Apfel auf und hielt ihn in beiden Händen. Er war für ihn nicht nur eine Frucht – nicht nur etwas, das seinen Hunger stillen würde. Nein, er war ein Zeichen der Güte und Freundlichkeit. Wärme durchströmte seinen ausgezehrten Körper. Er spürte die beißende Kälte nicht mehr. Er sah den trüben Himmel und die grauen Baracken nicht mehr. Es war ihm, als strahlte der Apfel Licht und Wärme aus. – Als er aufblickte, war das Mädchen verschwunden.

Sie würde bestimmt nicht wiederkommen. Warum sollte sie auch? Es war zu gefährlich für sie. Und er war auch kein Junge, in den sich ein Mädchen Hals über Kopf verlieben würde. Und dann der Makel, im KZ zu sitzen. Zum Abschaum der Menschheit zu gehören. Kein lebenswertes Leben zu haben. Warum also sollte sie kommen – um ihn zu sehen?

Auch wenn es ihm verrückt erschien, ging er am nächsten Tag doch wieder an den Stacheldrahtzaun, an dieselbe Stelle, zweifelnd, aber mit einem Schimmer der Hoffnung im Herzen. – Tatsächlich, sie stand schon am Zaun, lächelnd, mit strahlenden Augen. Und in der Hand hielt sie einen roten Apfel. Sein Herz machte einen Sprung!

So ging es mehrere Tage. Die beiden achteten nicht auf Kälte und Sturm, nicht auf die Gefahr, entdeckt zu werden. Nein, sie trafen sich immer zur gleichen Zeit am Stacheldrahtzaun – und wenn sie auch nur ein paar kurze Worte austauschen konnten, ein paar Blicke. Jedes Mal brachte das Mädchen einen roten Apfel mit – ein Zeichen der Liebe und Freundlichkeit in einer kalten, lieblosen Zeit. Der Junge blühte auf. Sein Leben hatte wieder Sinn und Zukunft!

Doch eines Tages blickte er dem Mädchen traurig in die Augen.

»Was ist?«, wollte es wissen.

Er schluckte. »Bring mir morgen keinen Apfel mehr.« Seine Stimme klang wie ein Reibeisen. »Ich …, ich werde in ein anderes Lager verlegt.« Dann drehte er sich abrupt um und ging mit hängenden Schultern davon. Sie sollte seine Tränen nicht sehen. An der ersten Baracke wandte er sich noch einmal um und winkte ihr zu. Dann verschwand er um die Ecke.

Immer, wenn er in den nächsten Wochen und Monaten Angst, Hunger und Kälte verspürte, wenn man ihn schlug, misshandelte und anschrie, dachte er an das Mädchen mit dem freundlichen Lächeln. Er sah ganz deutlich ihr Gesicht. Und er meinte auch den Duft der roten Äpfel zu riechen, die sie ihm jeden Tag zugeworfen hatte. Die Liebe des Mädchens hielt ihn am Leben und gab ihm Hoffnung.

Im Jahr 1957 trafen sich in den USA eine Frau und ein Mann aufgrund einer Kontaktanzeige. Sie waren beide aus Deutschland ausgewandert und suchten einen Lebenspartner, der ihre Muttersprache beherrschte.

»Was haben Sie eigentlich während des Krieges gemacht?«, fragte die Frau den Fremden, als sie auf einer Parkbank nebeneinandersaßen.

»Ich verbrachte die Jahre in einem Konzentrationslager.« Seine Augen schienen in die Ferne zu schweifen, als suchte er etwas, das er verloren hatte.

Sie nickte. »Eine schlimme Zeit! Ich kann Sie verstehen. – Auch ich habe Grausames erlebt, allerdings sicherlich nicht vergleichbar mit den Schrecken, die Sie erdulden mussten. In der Nähe meines Elternhauses lag ein solches Konzentrationslager. Ich habe damals einem Jungen mehrere Tage lang einen Apfel über den Zaun zugeworfen. Er tat mir so leid. Deshalb wollte ich ihm gegenüber freundlich sein, auch wenn man mich vor »diesem Abschaum« im Lager gewarnt hatte. – Doch dann wurde er verlegt. Ich hätte ihn so gern wiedergesehen. Ein wenig hatte ich mich in ihn verliebt …« Die letzten Worte hatte sie nur geflüstert.

Der Mann war aufgesprungen. Bleich starrte er sie an.

»Was schauen Sie mich so an?«, fragte sie ihn.

»Hat der Junge damals zu ihnen gesagt: ›Bring mir morgen keinen Apfel mehr. Ich werde in ein anderes Lager verlegt.‹?« Seine Stimme war erregt.

»Ja«, antwortete sie, »ja, das hat er tatsächlich gesagt. Aber woher wissen Sie das?«

Er setzte sich wieder und nahm ihre Hand. »Ich war der Junge.«

Dann schwieg er einige Sekunden, ehe er fortfuhr: »All die Jahre habe ich mir gewünscht, dich wiederzusehen. Das freundliche Mädchen, dessen Güte und Liebe meinem Leben wieder Hoffnung gaben. Das mich nicht behandelte wie all die anderen, die die Lügen über uns glaubten. Wenn du nicht gewesen wärst, ich hätte wahrscheinlich aufgegeben. – Willst du mit mir das Leben teilen, für immer?«

Sie lagen sich in den Armen, als sie mit Tränen in den Augen flüsterte: »Ja! Ja, ich will es.«

(Nach einer wahren Begebenheit.)

Viele Menschen leben hinter »Stacheldraht«, ohne Wärme, Liebe und Freundlichkeit, ohne Hoffnung und menschliche Nähe. Wie wichtig ist es doch, dass wir ihnen ein gütiges Wort zuwerfen, ein freundliches Lächeln – wie einen roten Apfel!

Fragen zum Nachdenken

•  Warum erkennen wir manchmal erst dann, wenn es zu spät ist, dass Menschen um uns herum verzweifelt und allein sind?

•  Wie können wir einen Blick für die Nöte unserer Mitmenschen bekommen?

•  Gott hat uns seine Liebe geschenkt. Wie können wir sie an andere ganz praktisch weitergeben?

Siegfried Wittwer, geboren 1950, wohnt in Darmstadt und ist Leiter des Internationalen Bibelstudien-Instituts. Seine Hobbys: Sport, Musik, Zeichnen und Bücherschreiben.