Troy ging weiter, langsam, und versuchte dabei, den Wald vor sich, auf beiden Seiten und über sich im Auge zu behalten. Nach einer Weile war er sich sicher, dass sie verfolgt wurden. Irgendein Ding , oder mehrere Dinger , waren links von ihm, direkt hinter der vordersten Laubreihe, und hielt mit ihnen Schritt.
Troy hatte genügend Natursendungen gesehen, in denen Raubtiere einer Herde folgten, die einzelnen Tiere abschätzten und eines der kleineren oder schwächeren Mitglieder auswählten, bevor sie einen Blitzangriff starteten.
Er wusste, dass eine Finte, ein vorgetäuschter Angriff, der die Gruppe zerschlagen würde, genug wäre. Und wenn die kleinere Anne oder Astrid oder sogar Elle auch nur einen Schritt tiefer in den dunklen Dschungel gingen, würden einer oder mehrere von ihnen verschleppt werden.
Er konzentrierte sich, doch es fiel ihm schwer, mehr als ein paar Schritte weit zu sehen. Aber er wettete, dass es irgendwo weiter vorn einen Platz gab, den die Jäger für ihren Hinterhalt ausgesucht hatten.
Troy war klar, dass er einen Gang höher schalten musste, bevor das passieren würde. Er blieb stehen und sprach über die Schulter hinweg. »Ich muss mal pinkeln.«
»Nein, gehen Sie weiter«, sagte Lars.
»Dringend.« Troy trat näher zum Dschungelrand und öffnete seinen Reißverschluss. Er spähte durchs Laub. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Ja, da waren sie. Große Körper, die fast reglos dastanden. Sie waren um die zwei Meter groß und balancierten auf ihren Hinterbeinen wie Strauße, aber da endete die Ähnlichkeit auch schon. Ihre Hälse waren stark und muskulös. Die Köpfe waren eckig und die Haut war straff über Gesichter gespannt, die hauptsächlich aus vorwärtsgerichteten Augen und großen Mäulern bestanden.
Troy verengte die Augen und konzentrierte sich. Obwohl sie im Dunkeln standen, erkannte er, dass ihre Körper mit Fell bedeckt waren. Oder Federn. Anne hatte recht gehabt.
Ihre Augen waren groß und rund, und sie waren zu Statuen erstarrt, beobachteten ihn, warteten, ob er näherkam, was ihn sofort zur Beute ihrer Wahl machen würde.
»Warum haben wir angehalten?«, fragte Tygo, denn von weiter hinten auf dem Pfad konnte der große Mann die Spitze der Gruppe nicht sehen.
»Bewegung!«, warnte Lars.
Troy ignorierte ihn und blieb stehen, die Hand am Hosenschlitz, aber er würde ihn auf keinen Fall rausholen. Außerdem hatte er irgendwo gelesen, dass der Geruch von Urin oder Fäkalien Raubtiere anlockte, weil sie wussten, dass ein Beutetier während des Moments, in dem es pinkelte oder kackte, wehrlos war.
Lars’ Ungeduld gewann die Oberhand. Er fluchte und stürmte, Björn und Elrik mit dem Ellbogen aus dem Weg stoßend, vor. Die beiden Männer stolperten beiseite, schlossen sich aber umgehend wieder zusammen und bildeten eine Mauer zwischen Troy und Lars und dem Rest der Gruppe. Ein perfekter Schutzschild für das, was Troy vorhatte.
Der Weg war eher ein Tierpfad und zwang sie quasi in eine Linie. Ord blieb vor den Frauen, versuchte aber, über ihre Köpfe hinweg etwas zu sehen, und auch Tygo bewegte sich jetzt vor.
Troy war klar, dass es ein Risiko war, und er blieb mit dem Rücken zu Lars, der auf ihn zugestürmt kam, stehen, als würde er noch pinkeln. Allein am Geräusch der Schritte musste Troy abschätzen, wo der Mann war.
Als er glaubte, Lars sei direkt hinter ihm, und gerade die Waffe an seinen Rippen spürte, drehte er sich, trat ein Stück zur Seite und griff nach dem Lauf.
Lars wollte ihn reflexartig zurückziehen, und Troy nutzte den Schwung des Mannes und seine ganze Kraft, um Lars die Waffe aus der Hand zu reißen und den Mann vorwärts in den Dschungel zu werfen.
Schnell drehte Troy sich um, um zuzusehen. Er beobachtete, wie der große Mann der Länge nach hinfiel. Er beobachtete auch, wie die drei Statuen plötzlich zum Leben erwachten.
Lars rollte sich herum und fluchte laut, während er ungelenk aufstand. Doch eines der Dinger sprang, die Krallen wie eine Reihe Küchenmesser ausgebreitet. Mit enorm muskulösen Beinen landete es mit einem Zischen von Luft auf seinem Rücken und streckte ihn nieder.
Ein zweites Ding schoss vor, schloss das Maul um seinen Nacken und biss zu. Augenblicklich wurde Lars’ Schrei zu einem erstickten Wimmern.
Ord preschte vor. »Wo ist Lars?« Er richtete seine Waffe von Elrik zu Björn und schließlich Troy, der Lars’ Waffe rasch heimlich in seinen Gürtel steckte.
Troy zeigte auf den Dschungel. »Etwas ist rausgekommen und hat ihn gepackt. Es ist immer noch da drin.«
Ord zögerte nicht. Er stürmte durch Wedel und Ranken in den Wald. Troy beobachtete, wie der Mann sofort entdeckt wurde, und anstatt vor ihrer Beute zu fliehen, hob das Reptilien-Trio den mittlerweile kaum noch wehrhaften Lars auf und rannte, ihn zwischen ihnen ausgestreckt, davon.
Troy sah zu, wie sie verschwanden. Sie machten keinen Mucks. Auch Lars nicht. Troy hoffte, dass er bereits tot war, oder dass sie ihn wenigstens töten würden, bevor sie anfingen, ihn in Stücke zu reißen. Irgendwo hatte er gelesen, dass Eisbären es vorzogen, ihre Beute lebendig zu fressen. Eine furchtbare Art, zu sterben.
»Was ist passiert?«, brüllte Tygo. »Wo ist Lars?«
Die Gruppe rückte dicht zusammen, und Tygo rief nach Lars, befahl ihm, aus dem Dschungel zu kommen.
»Was war das?«, fragte Anne mit großen Augen.
»Drei Viecher«, sagte Troy. »Deine Theropoden, glaube ich. Um die zwei Meter groß und mit Fell oder Federn bedeckt. Sie sind aus dem Wald gekommen und haben Lars geschnappt.«
»Heilige Scheiße.« Annes Mund blieb einen Moment lang offen stehen. »Das ist typisches Rudel-Lauer-Verhalten.« Sie runzelte die Stirn, während sie nachdachte. »Aber sie greifen selten einen der Starken an, sondern warten auf eine Gelegenheit, eines der schwächeren oder kleineren Mitglieder einer Herde zu reißen.«
»Vielleicht finden sie uns alle schwach«, antwortete Astrid.
»Ja, gutes Argument«, sagte Anne.
Tygo erreichte die Spitze der Gruppe, als Ord aus dem Dschungel zurückkam.
»Er ist weg«, sagte Ord. »Aber da ist Blut.«
»Was ist passiert?«, sagte Tygo mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ich hab nicht alles gesehen. Nur Schatten.« Ord nickte auf Troy. »Aber er hat es gesehen.«
Tygo trat vor, packte Troy vorn am Hemd und zog ihn dicht an sein bärtiges Gesicht. »Wo ist mein Mann?«
»Ihr Mann wollte pinkeln. Er ist zu nah an den Dschungel gegangen und wurde von etwas überrascht, das da drin gewartet hat.«
»So etwas würde Lars nie tun. Er war ein kluger Soldat.« Tygo schüttelte Troy.
»Ein einziger Fehler reicht. Und jetzt ist er tot.« Troy packte die Hand des großen Mannes, konnte seinen Griff aber nicht lösen. »Ich schlage vor, dass wir extra wachsam sind. Wir werden beobachtet.«
Troy konnte das Misstrauen in den Augen des großen Mannes erkennen, verließ sich aber darauf, dass er die Geschichte für plausibel genug hielt, und dass sie immer noch einen Zweck für ihn zu erfüllen hatten.
Tygos Blick war wütend, aber berechnend. Er hielt Troy weiter fest.
»Jetzt müssen also zwei von uns versuchen, mit fünf von euch fertig zu werden. Darunter drei Männer. Glauben Sie, die Chancen stehen jetzt gut für Sie?« Tygo lächelte Troy grausam ins Gesicht.
Troy starrte einfach nur zurück. Genau so sah er die Sache.
Blitzschnell zog Tygo ein langes Jagdmesser, wirbelte herum und stieß es Björn seitlich in den Hals. Der junge Mann reagierte mit einem schockierten Blick und einem feuchten Glucksen, während er zu Boden glitt.
Astrid warf sich schreiend über den gefallenen Mann. Ihre Hände wanderten zu seinem Hals, aus dem dickes Blut pulsierte. Anne schrie, und Elrik brüllte und griff an.
Ord fing ihn ab und schlug ihm mit dem Gewehrschaft an die Schläfe, sodass er zu Boden ging. Tygo stieß Troy zurück und packte Elle an den Haaren. Sie schlug nach ihm, aber er schüttelte die Frau so heftig, dass ihre Beine marionettengleich unter ihr tanzten.
Er wollte sie schlagen, während sie sich wehrte, aber sie sah ihn an, und seltsamerweise ließ er die Hand sinken. Stattdessen hielt er ihr das blutige Messer an die Kehle, wo es einen feuchten, roten Streifen hinterließ. Troys Hände ballten sich zu Fäusten, während er abwartete, was der Mann tun würde. Sollte es aussehen, als würde er sie abstechen, würde Troy es riskieren, die Waffe zu benutzen. Er warf einen Blick auf Ord, der sein Gewehr auf sie gerichtet hielt, und schätzte, es wäre Selbstmord, wenn er es durchziehen müsste.
Elrik stand auf. Seine Augen waren feucht. »Ich bringe euch um. Jeden Einzelnen von euch.«
»Das haben Sie schon mal gesagt«, erwiderte Tygo ruhig. »Ihr Bruder ist tot. Wollen Sie, dass Ihre Schwester auch stirbt?«
Elrik starrte ihn an, mit gefletschten Zähnen, und brachte einen angestrengten Laut hervor. In seinen Augen glänzte pure, frustrierte Wut.
»Björn, bleib bei uns«, heulte Astrid. »Nicht, bitte nicht …«, flehte sie.
Tygo schnaubte leise. »Solange sich die Gruppe benimmt, wird keiner mehr getötet. Aber wenn Sie irgendwas versuchen, oder wenn es einen weiteren Unfall gibt, dann wird noch einer von Ihnen sterben. Vielleicht die Schwester, vielleicht die Museumslady oder die Tierärztin. Oder vielleicht der Geschäftsmann. Oder vielleicht auch Sie. Es ist mir egal, wer. Ich brauche nur ein paar von Ihnen.«
»Wozu?«, wollte Troy wissen, aber er wurde ignoriert.
Elrik ging neben seinem Bruder in die Hocke und legte ihm eine Hand über die Augen. Er weinte.
Tygo nickte. »Ich weiß, Verlust ist schmerzhaft. Aber jetzt habe ich einen Mann verloren und Sie haben einen Mann verloren. Wir sind quitt.« Er schob Elle gegen Anne.
»Wir müssen ihn begraben«, sagte Elle mit Mordlust in den Augen.
»Besser nicht. Es tut mir leid, aber dafür ist keine Zeit.« Anne verzog das Gesicht. »Der Geruch von frischem Blut wird durch den ganzen Dschungel ziehen, ob er nun begraben ist oder nicht. Wir müssen schleunigst von hier weg. Astrid?«, fragte sie.
Die Tierärztin blickte mit feuchten Augen auf und nickte nach einem Moment.
»Wir haben die kluge Frau gehört. Lassen wir ihn liegen.« Tygo nickte Ord zu. »Mr. Strom übernimmt wieder die Führung. Wenn er Mätzchen machen will, tötest du ihn.«
Troy seufzte und wandte sich wieder dem Dschungel zu. Es war ihm gelungen, einen ihrer Entführer loszuwerden und Björn töten zu lassen. Die Kacke war am Dampfen, und sie liefen immer weiter hinein.
Troy blickte in die Tiefen des Dschungels vor ihm. Er seufzte. Wenigstens hatte er jetzt eine Waffe.
Er setzte sich in Bewegung.