Erste Spur

TKKG hatten noch lange gerätselt, wie das murmelgroße Glasauge in die Schokolade gekommen war. Die halbe Nacht hatte Klößchen deswegen nicht schlafen können. Irgendwie passte das alles nicht zusammen. Aber eigentlich kam für ihn nur ein Täter infrage: Leo.

»Hast du noch was wegen des Blumenkohls herausgefunden?«, flüsterte Gaby Klößchen zu. Dabei schielte sie immer wieder unauffällig zu Leo. Sie standen im Werkraum vor einem hohen Regal voller durchsichtiger Kästen mit Bastelmaterial. Der Werkraum befand sich im Untergeschoss des Internatsgebäudes und stand den Schülern heute offen.

»Meine Mutter hat sich komplett unauffällig verhalten, also genauso auffällig wie immer.« Klößchen musste über seinen eigenen Spruch lachen. »Ich hab mir zuerst auch nichts anmerken lassen, aber dann habe ich sie einfach gefragt.«

Gaby sah Klößchen gespannt an. »Und?«

»Sie war es nicht.«

»Das dachte ich mir schon.« Tim holte einen der Kästen aus dem Regal. Darin befanden sich Kastanien. Auch er sah immer wieder möglichst unauffällig zu Leo herüber.

»Wie niedlich! Tim macht Kastanienmännchen!«, rief Leo laut.

Karl, der hinter Leo saß, lugte über den Rand seines Laptops. »Sag mal, Leo, ist dir gestern bei der Führung irgendetwas aufgefallen?«

»Ja, dass Klößchen Ähnlichkeit mit einem Waschbären hat.« Leo lachte. »Sehr putzig!«

Klößchen verdrehte genervt die Augen. »Die Schokolade, die während unserer Führung angerührt wurde, war danach komplett versalzen«, erklärte er seinen Mitschülern.

»Uiuiuiui! Die neue Edelrahmschokolade mit Meersalz. Ganz was Feines.« Leo verzog angewidert das Gesicht.

Tim fixierte Leo. »Gib sofort zu, wenn du etwas damit zu tun hast!«

Leo zuckte mit den Schultern. »Wann soll ich denn das Salz reingekippt haben? Ich hatte ja nicht mal eine Tasche dabei.«

Mittlerweile hörte die ganze Klasse gespannt zu.

Karl klappte seinen Laptop zu und stellte sich neben Tim. »Aber vielleicht ein Glasauge?«

»Was?« Leo sah die beiden überrascht an.

»Das wurde nämlich auch in der Schokolade gefunden.« Gaby baute sich neben Tim und Karl auf. »Die Polizei ermittelt schon!« Alle Blicke waren jetzt auf TKKG und Leo gerichtet.

Leo war überrascht. »Vielleicht hat ja in der Schokoladenfabrik jemand ein Glasauge?!«

»So ein Quatsch«, empörte sich Klößchen. »Gib endlich zu, dass du es warst.«

»Du hast dich schon die ganze Zeit so merkwürdig verhalten«, mischte Gaby sich ein.

»Wir sollten nichts überstürzen«, flüsterte Karl Klößchen und Gaby zu.

»Worauf willst du denn warten?«, murmelte Gaby.

»Ihr seid doch echt nicht ganz knusper. Unschuldige verdächtigen. Pfff. Das geht gar nicht!« Leo stellte den Kasten mit den Nägeln ins Regal zurück, nahm seinen Rucksack und verließ den Werkraum.

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»Hat einer von euch bei der Führung irgendwas bemerkt?«, fragte Gaby ihre restlichen Mitschüler.

Alle schüttelten den Kopf.

Klößchen zog die Kiste mit den Nägeln aus dem Regal. Als alle wieder mit ihren Maskottchen beschäftigt waren, ließ er sie schnell in seinem Rucksack verschwinden. Gerade noch rechtzeitig, denn im selben Moment kam Frau Schlemmer herein. »Und? Habt ihr schon ein paar Ideen?«

Einige Schüler nickten. Frau Schlemmer ging durch die Reihen und sah sich die Arbeiten der Schüler interessiert an.

»Wir treffen uns gleich im Adlernest.« Klößchen stand auf, dabei klackerten die Nägel in seiner Tasche.

Frau Schlemmer sah ihn irritiert an. »Was hast du denn in deinem Rucksack?«

»Ach, ähm, das ist meine Zahnspange. Meine Dose ist verschwunden und jetzt liegt sie in meiner Brotbox und knabbert wahrscheinlich an einer Möhre.« Klößchen lächelte verlegen.

»Wir haben jetzt erst mal alles, Frau Schlemmer«, erklärte Gaby und verkniff sich ein Lachen.

»Tim, hast du noch was von deiner Schokolade?«, fragte Klößchen, nachdem er die Tür zum Adlernest hinter ihnen geschlossen hatte. »Ich brauch jetzt ganz dringend welche. Ich habe zwei Straftaten begangen: unsere Lehrerin angelogen und Nägel geklaut.« Klößchen setzte sich mit gekreuzten Beinen auf sein Bett und stützte den Kopf in die Hände.

»Die Kiste mit den Nägeln haben wir ausgeliehen und die Geschichte mit der Zahnspange war einfach nur lustig«, meinte Gaby beruhigend und hockte sich auf den Teppich in der Mitte des Zimmers.

Tim holte die Schokolade aus seinem Schreibtischschrank hervor und setzte sich zu Gaby. Er reichte Klößchen die Tüte, der sich ein Stück in den Mund stopfte und sie dann Karl hinhielt.

Karl nahm sich erst ein Schokoladenstück und holte dann ein Etui aus seinem Rucksack. Darin befand sich das Grafitpulver, mit dem er nun die Nagelkiste einpinselte. Fingerabdrücke kamen zum Vorschein. »Mist, ich glaube, das sind zu viele. Ich weiß gar nicht, welcher der von Leo ist.«

»Leo war es nicht. Da bin ich mir ziemlich sicher.« Tim gab Klößchen das letzte Stück Schokolade und warf die Tüte in den Papierkorb unter seinem Schreibtisch.

»Glaube ich auch.« Klößchen betrachtete das Schokoladenstück mit den ganzen Macadamianüssen darin. »Jedes Mal, wenn ich jetzt Schokolade in den Mund nehme, habe ich Angst, dass ich gleich wieder auf ein Glasauge beiße.«

Gaby sprang auf. »Oh Mann, das könnte ja auch passieren. Wer sagt denn, dass das Glasauge das einzige war?«

»Stellt euch mal vor: Die Leute kaufen Schokolade und beißen nichts ahnend auf ein Glasauge.« Tim verzog das Gesicht.

»Das wäre ein Skandal! Ich sage meinem Vater doch lieber Bescheid.« Klößchen fischte sein Handy aus der Tasche und tippte darauf herum. »Er geht nicht dran. Wahrscheinlich wieder was total Wichtiges bei der Arbeit.« Klößchen überlegte. »Dann rufe ich Herrn Fröhlich an.« Nachdem er aufgelegt hatte, sah er seine Freunde aufgeregt an. »Fröhlich meint, dass es sich um einen dummen Schülerstreich handelt. Der Lastwagen mit den Maskottchen ist seit heute Vormittag auf Auslieferungstour!« Klößchens Wangen verfärbten sich rot. »Wir müssen was tun.«

»Wo kann der Lastwagen denn sein?«, erkundigte sich Karl.

Klößchen überlegte. »Keine Ahnung. Wir beliefern eigentlich alle Supermärkte in der Stadt.«

Tim schaute seufzend auf den Stadtplan der Millionenstadt über seinem Schreibtisch. »Es wäre cool, wenn wir ihn orten könnten.«

»Der hat doch bestimmt eine feste Tour, die er immer fährt.« Karl tippte mit seinem Finger auf den Stadtplan. »Hier ist die Schokoladenfabrik, da sind die ersten großen Supermärkte.« Mit dem Zeigefinger fuhr Karl über den Plan.

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»Es ist jetzt ein Uhr mittags. Wenn er seit zwei Stunden unterwegs ist, war er wahrscheinlich schon hier und hier und hier. Für das Ausladen benötigt er pro Kunde schätzungsweise fünfzehn bis zwanzig Minuten. Wenn man dann noch den Fahrtweg mitberechnet, ist er wahrscheinlich …« Karl machte eine Pause. Er zog sein Handy aus der Hosentasche und rechnete etwas aus. »Er ist wahrscheinlich jetzt in der Kaiserstraße und fährt gleich los Richtung Großstadtkauf. «

»Mann, Karl, du bist ja schneller als jeder Computer! Wie hast du das denn ausgerechnet?«, wollte Tim verblüfft wissen.

Ehe Karl antworten konnte, mischte Klößchen sich ein. »Die Erklärung dauert bestimmt zu lange und ist viel zu kompliziert.«

»Stimmt, wir müssen jetzt schnell handeln.« Gaby schnappte sich ihren Rucksack.

»Wir haben genau zwanzig Minuten Zeit, um zum Großstadtkauf zu kommen.« Karl steckte sein Handy wieder ein.

»Dann los!« Gaby sauste zur Tür. »Schaffen wir es noch, Oskar abzuholen?«

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»Kein Schokoladenlaster in Sicht!«, keuchte Klößchen, als sie genau neunzehn Minuten und fünfundfünfzig Sekunden später in die Einfahrt des Großstadtkaufs einbogen. Im selben Moment ertönte eine laute Hupe hinter ihnen. Klößchen drehte sich um und sah den riesigen Lkw aus der Firma seines Vaters mit den großen Schokoladenbildern und der Aufschrift Süße Träume .

»Das ist Herr Bartels, unser Lieferant«, rief Klößchen seinen Freunden zu.

Der Fahrer ließ das Fenster runter. »Willi, was machst du denn hier?«

»Einkaufen«, rief Klößchen dem Fahrer zu. »Und Sie?«

»Leckere Schokolade ausliefern!« Hupend fuhr der Fahrer an den vier Detektiven vorbei Richtung Lieferantentor.

»Wisst ihr, was wir machen? Karl und ich lenken ihn ab. Gaby und Tim, ihr geht in den Laster«, schlug Klößchen vor, während er sein Fahrrad auf dem Parkplatz abstellte.

»Guter Plan!« Gaby holte Oskar aus dem Fahrradkorb. »Und übrigens: krasse Berechnung, du Superhirn.«

»War auch ein bisschen Glück dabei«, gab Karl zu (bescheiden wie immer).

Der Fahrer lud eine große Palette mit Kartons aus dem Lkw auf einen Schiebewagen und verschwand damit im Lieferanteneingang.

»›Aktion Glasauge‹ startet genau jetzt«, flüsterte Tim und schlich, gefolgt von Gaby, zur Ladeklappe des Lkws.

»Komm, Oskar!« Klößchen und Karl liefen zum Lieferanteneingang. Aus den Augenwinkeln sahen sie Tim und Gaby im Lkw verschwinden.

Der Lieferant sprach mit einem Mitarbeiter des Supermarktes. »Bleib da, bleib da«, flüsterte Klößchen vor sich hin. Aber der Fahrer verabschiedete sich und lief zum Ausgang, genau auf Klößchen und Karl zu!