Frostige Fahrt

»Willi, wolltest du nicht einkaufen? Der Kundeneingang ist doch auf der anderen Seite.«

Klößchen überlegte fieberhaft. Dann zeigte er auf Karl. »Das ist mein Freund Karl. Er … äh … möchte Lkw-Fahrer werden und, und … wir wollten fragen, ob wir mal in Ihre Fahrerkabine gucken dürfen.«

»Heute leider nicht.« Herr Bartels sah auf seine Uhr. »Ich muss noch jede Menge Bestellungen ausliefern.« Er setzte sich in Bewegung.

»Halt!«, rief Klößchen schnell. In seinem Kopf ratterte es. »Karl ist dann aber total traurig.«

Der Fahrer schob sich an ihnen vorbei zur Lkw-Klappe. »Entschuldige, heute geht es nicht.«

»Oh nein, oh nein, gleich entdeckt er Gaby und Tim!« Klößchen vergrub sein Gesicht in den Händen.

Oskar lief los und sprang bellend vor Bartels auf und ab, als dieser die Lkw-Klappe erreichte.

»Stopp!« Karl rannte hinterher.

»Ist ja gut, Hundi!«, sagte Bartels mit Blick zu Karl. »Ist das eurer?«

»Der gehört einer Freundin«, erklärte Karl. »Komm, Oskar!«

Ohne ins Wageninnere zu schauen, schloss Bartels die Lkw-Klappe. Dann kletterte er in die Fahrerkabine. »Macht es gut, Jungs. Bis die Tage!«

Karl sah zu Klößchen.

Der atmete aus. »Puh. Danke, Oskar.«

»Wird der Laster innen gekühlt?«, fragte Karl alarmiert.

»Oh nein, stimmt! Wir müssen ihn aufhalten!« Klößchen wurde panisch. »Sie sitzen in einem Kühlschrank fest!«

»Zu spät«, bemerkte Karl. »Die beiden sitzen in einem fahrbaren Kühlschrank fest.«

Entsetzt sahen sie, wie der Laster losfuhr.

Tim zog sein Handy aus der Hosentasche und schaltete die Taschenlampenfunktion ein. »Wir sind im Schokoladenhimmel gefangen.« Im Schein der Lampe suchte er an der Ladeklappe nach einem Griff, fand aber keinen.

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Gaby suchte ebenfalls mit der Taschenlampe ihres Handys das Innere des Lkws ab. Um sie herum stapelten sich dutzende Kartons voller Schokolade. »Oder in der Schokoladenhölle.« Gaby wählte Klößchens Nummer.

Klößchens Handy klingelte. »Gaby! Ist es kalt?«

»Es geht.« Gaby setzte sich die Kapuze ihres Pullis auf und hauchte in die kühle Luft. »Man kann den Atem sehen.«

»Wir holen euch da raus! Ich muss auflegen. Komm, Oskar!« Klößchen setzte ihn in den Fahrradkorb und stieg auf Gabys Fahrrad. Auch Karl sprang auf sein Rad. Sie rasten dem Lkw hinterher, der gerade in die Straße einbog.

»Schneller!«, rief Karl Klößchen zu.

»Gabys Fahrradsitz ist so weit oben«, schnaufte Klößchen. »Meine Beine sind zu kurz. Wohin fährt der denn jetzt? Hast du das auch berechnet?«

Karl trat kräftig in die Pedale. »Leider nicht!«

Der Wagen rumpelte. Gaby hielt sich mit der einen Hand an einer Kiste fest und holte mit der anderen eine Küchenwaage aus ihrem Rucksack. »Die hab ich vorhin schnell noch von zu Hause mitgenommen. Wir können die Eichhörnchen wiegen.«

»Guter Plan! Dann sehen wir, ob alle gleich schwer sind.« Tim öffnete einen Karton.

»Korrekt! Und wenn nicht, könnte ein Glasauge drin sein.« Während Gaby begann, die Eichhörn chen abzuwiegen, probierte Tim eines. »Schmeckt echt gut. Und ist ohne Glasauge.«

Gaby sah sich im Lkw um. »Dafür brauchen wir ewig. Bis dahin sind wir Eiszapfen.«

»Wir können nur Stichproben machen.« Tim schnitt eine weitere Kiste auf.

Klößchen und Karl verfolgten den Lastwagen, der sich durch den Verkehr schob. »Der will jetzt aber nicht auf die Stadtautobahn abbiegen, oder?«, rief Klößchen alarmiert.

Oskar bellte (ebenfalls alarmiert).

»Los, Klößchen, leg den Turbo ein!«, keuchte Karl.

Kurz vor der Autobahnauffahrt bog der Lkw ab.

Klößchen und Karl verfolgten ihn auf einen Parkplatz.

»Glück gehabt!« Klößchen nahm Oskar aus dem Korb und ließ das Rad ins Gras fallen.

»Komm.« Klößchen zog Karl hinter ein parkendes Auto.

Von ihrem Versteck aus beobachteten sie, wie der Fahrer aus dem Lkw stieg und in aller Ruhe in ein Brot biss.

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»Oh nein, jetzt isst der auch noch vor unseren Augen«, stöhnte Klößchen.

»Kannst du auch mal an was anderes denken als ans Essen?«, motzte Karl.

»Pffft! Was denkst du denn von mir? Ich denke gar nicht ans Essen, sondern daran, wie wir Tim und Gaby da rausholen können, wenn Bartels jetzt Pause macht!«

Tim hauchte in seine kalten Hände und rieb sie. »Was machen wir, wenn der Fahrer kommt?«

»Verstecken?« Gaby stellte eine Kiste beiseite. »D-d-d-d-d-ie wiegen alle gleich viel.« Ihre Zähne klapperten. »Da-dahinten. Komm!« Gaby versteckte sich am hinteren Ende des Lasters hinter ein paar Kisten.

Tim hockte sich neben sie. »Guck mal, die Kiste sieht a-a-a-nders aus.«

Gaby nahm Tims Taschenmesser. Aber ihre Hände waren so kalt, dass sie sie gar nicht mehr bewegen konnte. »Wann befreien die uns d-d-d-d-enn? Lange halte ich das nicht mehr aus.«

Tim nahm ihr das Messer aus der Hand und schnitt die Kiste auf. Zum Vorschein kamen viele kleine Bohnen. »Guck mal, Gaby!«, rief Tim überrascht.

»Wir müssen sofort was tun!« Karl lief sorgenvoll hin und her. »Die erfrieren doch da drin!«

Klößchen hielt ihn an der Schulter fest. »Wir können da jetzt nicht so einfach hingehen. Wenn Herr Bartels uns sieht, sind wir dran.«

»Na und? Es geht um Tim und Gaby!« Karl schüttelte Klößchens Hand ab.

»Ich will sie ja auch befreien!«, wandte Klößchen ein. »Aber erst mal brauchen wir einen Plan.«

Oskar bellte.

»Psssst, Oskar.« Klößchen kniete sich hin. Doch Oskar sauste schon los, geradewegs auf Bartels zu. Kläffend sprang er an dem Mann hoch. Der erschrak. »Was machst du denn schon wieder hier?«

»Genial! Oskar lenkt ihn ab.« Karl zog Klößchen mit sich. »Komm, wir holen Tim und Gaby jetzt da raus!«

Sie liefen zum hinteren Teil des Lasters. Karl kletterte eine Stufe hinauf und rüttelte an der Klappe. »Tim, Gaby, hört ihr mich?«, flüsterte er.

»Karl, bist du das?« Tim und Gaby versuchten nun, von innen die Ladeklappe zu öffnen. »Das Mistding geht nicht auf!«, rief Tim.

Gaby bibberte. »Und ich kann meine Finger gar nicht mehr fühlen.«

Da machte es KLACK . Die Klappe entriegelte.

»Endlich!« Gaby sprang aus dem Laster.

»Oh nein, ihr seid ja ganz blau!«, rief Klößchen entsetzt. In Windeseile zog er seine Jacke aus und legte sie um Gaby, deren Zähne noch immer aufeinanderklapperten. »Keine Augen in der Sch-sch-schokolade.«

»Aber guck mal, was wir stattdessen gefunden haben!« Tim zeigte auf die Kiste mit den Kakaobohnen.

Klößchen blieb fassungslos der Mund offen stehen. »Hat Herr Bartels etwa die Edelkakaobohnen gemopst?«

Plötzlich kam der Fahrer mit dem kläffenden Oskar um die Lastwagenecke. »Das gibt es doch nicht. Verfolgt ihr mich etwa?«

Gaby drückte Oskar erleichtert an sich.

»Nein, das ist alles ein Missverständnis«, erklärte Tim schlotternd.

»Aha. Und was macht ihr dann halb erfroren in meinem Laster?« Der Mann sah die vier aufgebracht an.

Tim sprang aus dem Laster. »Es ist nicht so, wie es aussi–«

Er wurde von dem laut bellenden Oskar unterbrochen.

»Haben Sie schon mal von der Theorie des Zufalls gehört?«, fragte Karl.

Bartels zog die Stirn kraus.

»Es ist reiner Zufall, dass wir uns hier treffen. Das beruht auf der Theorie von Franz Bruno Rosenthal«, erklärte Karl.

»So ein Quatsch!«, murrte der Fahrer.

Tim musste grinsen, wurde aber gleich wieder ernst. »Kann es sein, dass Ihr Vorderreifen platt ist?«

»Echt? Glaube ich nicht.« Bartels verschwand mit Tim aus Klößchens Sichtweite.

Klößchen hielt den Daumen nach oben.

»Lass uns die Kiste rausholen.« Karl war in den Lkw geklettert und versuchte, die Kiste anzuheben.

»Mach schnell!« Gaby sah sich nervös um.

Karl stöhnte. »Hier, nehmt mal.« Mit aller Kraft wuchtete er den Karton ein Stück nach vorn.

Klößchen stöhnte. »Uff, der ist ja schwer. Kann man die Ladefläche nicht elektrisch runterfahren?«

»Zu auffällig, oder?« Gaby und Klößchen nahmen die schwere Kiste und bugsierten sie vom Laster herunter.

»Ich gucke nach Tim und Bartels.« Karl verschwand Richtung Vorderreifen.

»Wir müssen die Kiste ganz schnell zur Fabrik bringen«, flüsterte Klößchen Gaby zu. »Und Herr Bartels darf davon nichts mitbekommen.«

»Herr Bartels! Können Sie mir mal helfen?«, hörte Klößchen Karl hinter dem Lastwagen rufen.

»Super, Karl lenkt Bartels weiter ab.« Klößchen überlegte angestrengt. »Wir stellen die Kiste in Oskars Korb. Du fährst. Ich setze mich hinten drauf.«

Gaby sah Klößchen prüfend an. »Ob das geht?«

»Dann wird dir auch gleich warm.« Klößchen sah Gaby flehend an. »Komm, das geht schon!«

»Na gut.« Gaby half Klößchen dabei, die Kiste zu den Rädern zu schleppen. »Passt gerade so in den Korb.«

Bartels kam, gefolgt von Tim und Karl, hinter dem Laster hervor. »Was ist denn das für eine Kiste?«

Klößchen wurde heiß. »Die hat sich anscheinend in Ihren Lkw verirrt. Wir bringen sie schnell zurück zur Fabrik!«

»Ja, und wir müssen auch noch so viele Hausaufgaben machen«, stöhnte Gaby. Klößchen schnappte sich Oskar und stieg auf Gabys Gepäckträger.

Hektisch winkte Klößchen Tim und Karl zu, die angerannt kamen. Karl stieg auf sein Rad und fuhr los. Tim rannte hinterher und sprang auf seinen Gepäckträger.

»Hey, hey, wartet doch mal! Was …?«, rief Herr Bartels ihnen verwundert hinterher.

Klößchen hielt mit der einen Hand Oskar fest. Mit der anderen klammerte er sich an Gabys Hüfte. »Schnell weg hier.« Er drehte sich noch mal um und sah den erstaunten Herrn Bartels kleiner werden. »Puh, das war knapp.«

»Immerhin wissen wir jetzt, dass keine Augen in der Schokolade sind. Das ist doch schon mal ein Fortschritt.« Karl trat in die Pedale und drehte sich zu Klößchen. »Übrigens. Wundere dich nicht, wenn Herr Bartels dich demnächst mal auf Auslieferungstour mitnimmt.«

Klößchen musste aufpassen, dass er nicht vom Gepäckträger rutschte. »Warum?«

»Ich hab ihm erzählt, dass DU unbedingt Lkw-Fahrer werden möchtest und dich vorhin nur nicht getraut hast, das zu sagen.« Karl grinste verschmitzt.

»Und das hat er dir einfach so geglaubt?«, schnaufte Gaby.

»Tja, ich kann sehr überzeugend sein.«

»Jetzt ist mir wieder warm.« Gaby hielt auf dem Supermarktparkplatz neben Klößchens Fahrrad an.

Klößchen kletterte vom Gepäckträger. Im selben Moment klingelte sein Handy.

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»Mein Vater.« Klößchen sprudelte drauflos. »Papa, wir haben im Laster die Kakaobohnen gefunden … Ja, wir bringen sie gerade zurück in die Fabrik.« Klößchen setzte Oskar ab.

»Soll ich Herrn Fröhlich dann das Rezept verraten, damit er weiter Maskottchen herstellen kann? … Was? Du hast die hundert Hasen in den Park gebracht? Woher willst du wissen, dass das mit dem Brief bloß ein dummer Schülerstreich war? … Was? Hallo?« Klößchen starrte auf sein Handy. »Die Ver bindung ist abgebrochen. Oder er hat aufgelegt.« Klößchen steckte sein Handy weg und sprang auf sein Rad. »Wir müssen zum Park und nachsehen, ob der Erpresser die Schokoeichhörnchen schon abgeholt hat.«

Tim band die Kiste mit den Bohnen auf Karls Gepäckträger fest. »Und danach in die Fabrik.«