27
NUMA-Schiff Gemini,
ungefähr 750 Meilen nordöstlich der letzten
bekannten Position der Orion
In dem abgedunkelten Kommunikationsraum der Gemini blickte Gamay Trout konzentriert auf den Computerbildschirm. Eine ganze Reihe neuer Operationsanweisungen kam von der NUMA-Zentrale herein.
Paul saß neben ihr und las laut vor.
»Orion reagiert auf keine Art von Kontaktaufnahme. Begeben Sie sich schnellstens zur letzten bekannten Position der Orion. Treffen Sie Vorbereitungen für umfangreiche Such-und-Rettungs- oder Such-und-Bergungs-Operationen, falls keine Überlebenden gefunden werden. Bei einem Satelliten-Überflug wurden im Umkreis von fünfzig Meilen um die Position der Orion keinerlei Infrarotsignale aufgezeichnet. Auf Grund einer dichten Wolkendecke ist eine visuelle Überprüfung zurzeit nicht möglich.«
Die Meldung erschien ihr kalt und unbarmherzig. Als wäre das Schiff nicht mit ihren Freunden und Kollegen besetzt.
»Das kann nicht sein«, sagte Gamay. »Kein Notsignal? Kein Hilferuf? Es ist einfach unmöglich, dass eins unserer Schiffe so schnell untergeht.«
Paul fuhr fort: »Weitere Anweisungen betreffen die von Miss Anderson bereitgestellte Suchantenne. Unter keinen Umständen darf die Antenne aktiviert werden. Falls das Gerät bereits einsatzbereit ist, soll es von sämtlichen Systemen der Gemini getrennt werden. Zwischen der Aktivierung der Sensor-Antenne der Orion und einem von den Bodenstationen der NSA aufgezeichneten energiereichen Neutrinoimpuls und der letzten Meldung der Orion wurde ein zeitlicher Zusammenhang hergestellt. Bislang ist unbekannt, ob die Antenne eine Fehlfunktion hatte. Es kann jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden.«
Bis zur geplanten Aktivierung ihrer eigenen Antenne dauerte es nur noch wenige Stunden.
»Könnten sie sich wirklich selbst in die Luft gesprengt haben?«
»Die Ursache der Explosion auf Yagishiri, die Theros Labor vernichtete, wurde niemals gründlich untersucht«, sagte Paul, »aber Yaeger hält es für wahrscheinlicher, dass der Sensor ihre Position verraten hat, sodass Thero zuschlagen konnte.«
Die Gemini war bereits im Begriff, den Kurs zu ändern. Das Vibrieren ihrer Maschinen und Propeller wurde spürbar intensiver. Gamay betrachtete die Landkarte.
»Siebenhundertfünfzig Meilen«, murmelte sie. »Dreißig Stunden. Viel zu lange. Das überleben sie nicht.«
Pauls Miene war ebenfalls düster. »Wenn sie im Wasser treiben, sind sie schon tot«, sagte er. »Ob drei Stunden oder dreißig, das macht keinen Unterschied. Wir können nur hoffen, dass sie es in die Rettungsboote geschafft haben.«
Gamay wusste Pauls Versuch, Zuversicht zu demonstrieren, zwar zu schätzen, aber sie kannte doch die Realität. »Wenn das Schiff zu schnell gesunken ist, um ein Notsignal zu senden, wie groß sind dann die Chancen, dass sich irgendwer auf eine Rettungsinsel flüchten konnte?«
Sie versuchte sich vorzustellen, wie es der Mannschaft der Orion zu diesem Zeitpunkt ergehen mochte. Die Wassertemperatur dürfte sich bei minus ein Grad Celsius bewegen, und die Lufttemperatur müsste nachts noch um einiges tiefer sinken.
Paul legte die Arme um sie. »Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Und das tun wir auch nicht.«
»Das ist es, weshalb ich dich liebe, Paul«, sagte Gamay. »Ganz gleich, wie sehr du mir manchmal auf die Nerven gehst, du weißt immer ganz genau, was ich brauche.«
»Ich weiß außerdem, dass Kurt und Joe unverwüstlich sind«, sagte er. »Und dass alle Männer und Frauen auf dem Schiff bestens ausgebildet wurden. Wir sollten sie noch nicht abschreiben. Stattdessen sollten wir uns bereithalten, ihnen zu helfen, wenn wir dort eintreffen.«
Sie legte einen Arm um Pauls Taille und nickte. »Okay, aber nimm deine Arme noch nicht weg. Ich brauche sie noch einige Sekunden, ehe ich in die grausame Realität zurückkehre.«
Siebenhundertfünfzig Meilen von der Gemini entfernt drängten sich die Überlebenden der Orion auf der kleinen orangegelben Rettungsinsel, die auf der stetigen westlichen Dünung dahinschaukelte.
Fast vier Stunden lang stiegen und sanken sie beständig in einer Kreisbewegung, umgeben von vollkommener Dunkelheit. Weder Mond noch Sterne waren durch die dicke Wolkenschicht zu sehen. Abgesehen vom matten Schimmer seiner Uhr konnte Kurt in keiner Richtung einen Lichtschein ausmachen.
Schlimmer als die Dunkelheit war die Stille. Doch am schlimmsten war die Kälte.
Die eisige Luft schwächte die Männer und Frauen in ihrer nassen Kleidung. Obgleich sie sich unter einer Thermodecke dicht zusammendrängten, sank ihre Körpertemperatur allmählich. Ein Prozess, der sich noch beschleunigte, während ihr Organismus die letzte Mahlzeit verdaute, die sie zu sich genommen hatten.
Kurt verspürte bereits Hunger, obgleich er sich alle Mühe gab, nicht an Essen zu denken, und sich stattdessen vorzustellen versuchte, wie er an einem Mittelmeerstrand in der Sonne lag, mit einem Drink in der Hand. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war dieses Bild nicht von allzu langer Dauer.
Die Schiffbrüchigen versanken nach und nach in einen tranceähnlichen Zustand. Dieser Zustand war wie die erste Phase einer Depression. Kurt sagte sich, dass sie sich um jeden Preis dagegen wehren mussten.
»Besteht die Chance, dass irgendeiner deiner Freunde aus dem All erscheint und uns aufgreift?«, wollte Kurt von Joe wissen. »Diesem Eisfloß hier würde ich ein warmes Raumschiff voll von kleinen grünen Männchen in jedem Fall vorziehen.«
Joe zuckte die Achseln. »Anscheinend haben sie für kaltes Wetter auch nur wenig übrig. Roswell. Ayers Rock. Chichen Itza. Wenn wir in der Nähe eines dieser Orte abgesoffen wären, könnten wir vielleicht Glück haben, von ihnen gerettet zu werden.«
Kurt machte sich nicht die Mühe, darauf hinzuweisen, dass in der Umgebung dieser Orte eher wenig Wasser zu finden sei.
»Die Dorado und die Gemini sind nicht allzu weit entfernt«, sagte Kurt. »Wenn unser Notsender gestartet wurde, dürften sie schon zu uns unterwegs sein.«
»Kann man hier an Bord eine heiße Schokolade kriegen?«, erkundigte sich Joe.
»Das will ich hoffen.«
»Was ist mit einer Sauna?«, wollte jemand anders wissen.
»Irgendwas sagt mir, dass für die NUMA so was nicht unbedingt zur Standardausrüstung von Rettungsinseln gehört.«
»Schade«, sagte Joe.
»Ich wäre schon mit trockener Kleidung und einem Heizlüfter zufrieden«, erwiderte Kurt. »Bis dahin tröste ich mich mit der Vorstellung von einer Sauna mit warmen, glatten Holzwänden und dem Duft von Eukalyptusöl. Aber irgendwie funktioniert es nicht. Offenbar ist diese Geist-stärker-als-Körper-Nummer schwieriger durchzuziehen, als man sich vorstellt.«
»Ich weiß nicht«, sagte Joe. »Ich rede mir grade ein, dass ich ein Schiff kommen höre.«
Kurt legte lauschend den Kopf schief. Er hörte nichts.
»Was für ein Schiff?«, fragte er. Die Worte klangen seltsam verzerrt. Ihre Lippen waren wie eingefroren.
»Eine schöne große Jacht«, sagte Joe. »Mit ein paar Playboy Bunnies, am liebsten Girls von Hawaii, und einer reichhaltig bestückten Bar. Ich glaube, ich höre sogar eine Jazzband. Sie spielt was von Louis Armstrong.«
»Du drehst allmählich durch«, sagte Kurt. »Aber wenn du schon herumphantasieren musst …«
Er brach mitten im Satz ab. So seltsam es war, er glaubte nun ebenfalls, in der Ferne das Dröhnen von Maschinen zu hören. Hätte auch nur ein leichter Wind geweht, wäre es ihm vielleicht entgangen. Aber es war wirklich nahezu vollkommen windstill.
Sehr zum Ärger seiner Leidensgefährten schlug er einen Zipfel der Thermodecke zurück. »Heh«, rief jemand. »Was tun Sie?«
»Ruhig!«
»Wie bitte?«
»Joe hat ein Schiff gehört, und ich höre es auch.«
Kurt starrte in die Nacht. Wenn dort draußen ein Schiff gewesen wäre, hätte man zumindest seine Positionslampen in der Dunkelheit sehen müssen. Er sah aber nichts.
»Ich höre es«, sagte Hayley. »Jetzt höre ich es auch.«
Vorsorglich zog Kurt die Möglichkeit einer Massenhysterie in Erwägung. Zu einer solchen kam es oft genug bei Überlebenden von Schiffskatastrophen, allerdings erst, nachdem sie einige Tage ungeschützt im Rettungsboot der Witterung ausgesetzt gewesen waren und erste Anzeichen von kritischer Dehydrierung aufwiesen.
»Gib mir eine Leuchtkugel«, bat Kurt.
Joe reichte Kurt die Leuchtpistole. Mittlerweile war das dumpfe Dröhnen der Dieselmotoren deutlich zu identifizieren. Irgendwo da draußen befand sich ein Schiff, das aus irgendeinem Grund sämtliche Lichter gelöscht hatte und im Schutz der Dunkelheit näher kam.
Kurt richtete die Mündung der Pistole senkrecht nach oben und betätigte den Abzug. Die Leuchtkugel schoss in den Himmel und warf ihr weißes Licht auf das Meer ringsum. In einer halben Meile Entfernung sichtete Kurt den Bug eines Frachters. Er bewegte sich ungefähr in ihre Richtung und würde sie in einigem Abstand östlich von ihrer Position passieren.
»Das ist keiner von uns«, sagte Kapitän Winslow.
»Und es ist auch keine Jacht mit einer Jazzband und einer Bar«, fügte Joe hinzu. »Aber ich gebe mich mit diesem Schiff zufrieden.«
Die Leuchtkugel hatte eine Brenndauer von fünfundvierzig Sekunden, und als sie ins Meer stürzte, kehrte die totale Dunkelheit zurück.
Sie warteten.
»Sie können uns unmöglich übersehen haben«, sagte Joe fast beschwörend.
Kurt schob eine frische Leuchtpatrone in die Kammer der Leuchtpistole. »Wir können nur hoffen, dass sie nicht schlafen oder vor dem Fernseher sitzen.«
Gerade wollte er die zweite Leuchtkugel abfeuern, als sich der Klang der Maschinen und der Propeller veränderte.
»Der Kollege nimmt Gas weg«, stellte Winslow erfreut fest.
Kurt wartete mit dem Abschießen der wertvollen Leuchtkugel. Er wartete und hoffte.
Ein Suchscheinwerfer wurde am Heck des großen Schiffes eingeschaltet. Sein Lichtstrahl wanderte über das Wasser, bis er die orangegelbe Rettungsinsel erfasste. Für einen kurzen Moment erlosch er, dann begann er eine Nachricht zu morsen.
»Nimm die Taschenlampe«, riet Kurt.
Joe kroch zum Randwulst der Insel, knipste die Lampe an und ließ sie im Takt des SOS-Morsecodes aufblinken.
Weitere Lichtzeichen antworteten vom Schiff.
»Sie kommen hierher«, las der Kapitän die Nachricht laut vor, ehe Kurt etwas sagen konnte. »Und holen uns raus.«
Freudenrufe erklangen auf der Insel.
Während der Suchscheinwerfer auf sie gerichtet blieb, konnten die Schiffbrüchigen verfolgen, wie der Frachter beidrehte. Er wurde erheblich langsamer, beschrieb einen engen Bogen und stoppte in einhundert Metern Entfernung westlich des Rettungsboots, wobei er mit seinem Rumpf die Dünung bis zu einem gewissen Grad milderte.
Kurt und Joe paddelten mit frischer Kraft, um die Distanz schnellstens zu überwinden. Ihre Anstrengungen wurden belohnt, als das orangefarbene Schlauchboot gegen den dunkelblau gestrichenen Rumpf stieß.
Zehn Meter über ihnen klappte im Schiffsrumpf eine Ladeluke auf. Mehrere Gesichter erschienen in der Öffnung. Ein Bergungskorb wurde herabgelassen, um die verletzten Mannschaftsangehörigen nach oben zu hieven. Nachdem sie sich in Sicherheit befanden, wurde ein Frachtnetz am Schiffsrumpf abgerollt wie eine Leiter, damit die restlichen Überlebenden an Bord gelangen konnten.
Nacheinander kletterten sie nach oben, bis nur noch Kurt und der Kapitän übrig waren.
»Nach Ihnen«, sagte Kurt.
Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Mein Schiff ist ohne mich gesunken«, erklärte Winslow. »Dann will ich wenigstens als Letzter das Rettungsboot verlassen.«
Kurt nickte, befestigte die Leuchtpistole an seinem Gürtel und stieg aufs Frachtnetz um.
Er hielt inne, um nach unten zu schauen, und sah, wie Winslow sich aufs Netz schwang und die Rettungsinsel unter ihm abtrieb. Sie konnten wirklich von Glück reden. Glück, den Untergang überlebt zu haben. Glück, kein Opfer der Kälte geworden zu sein. Glück, entdeckt und aus dem Ozean geholt worden zu sein.
Sie hatten sogar unglaubliches Glück. Ihre Retter kamen nicht von der NUMA oder irgendeiner Marine oder Küstenwache. Das Schiff war ein Handelsschiff. Knapp fünfzehn Meter über ihm konnte Kurt die kantigen Umrisse von Schiffscontainern erkennen, die in drei Etagen aufeinandergestapelt waren.
Ein Gedanke entstand in seinem Kopf, ein winziger Funken von Erkenntnis, der darum kämpfte, in seinem müden, halb erfrorenen Gehirn nicht zu verlöschen. Sie waren tausende Meilen von der nächsten Handelsroute entfernt, sagte er sich. Was hatte also ein Containerschiff hier zu suchen?
Einen Teil der Antwort erhielt er, als er in die Öffnung der Luke gezogen wurde. Sie bestand aus einer schwarzen Pistole, deren Mündung gegen seine Schläfe gedrückt wurde.
Er sah sich um. Die anderen Überlebenden kauerten auf den Knien. Streng dreinblickende Männer mit AK-47-Maschinenpistolen hielten sie in Schach.
Kapitän Winslow kletterte herein und erfuhr die gleiche Behandlung.
Den Rest der Antwort auf seine stumme Frage erhielt Kurt einen kurzen Moment später, als einer der Bewaffneten das Schiffstelefon aus der Wandhalterung nahm.
»Da«, sagte er, hielt das Telefon ans Ohr und drehte sich zu den Gefangenen um. »Besser konnten wir es gar nicht treffen. Die Frau ist bei ihnen.«
»Russen«, murmelte Kurt.
Der Mann hängte den Telefonhörer ein. Gleichzeitig lief ein Zittern durch das Schiff, als die Propeller wieder starteten. Der Mann kam auf Kurt zu. Er war groß und hager. Sein Gesicht war zur Hälfte mit Wundschorf bedeckt. Kurt erkannte ihn dennoch.
»So sehen wir uns also wieder«, sagte Kirov und schmetterte den Lauf seiner Kalaschnikow von hinten gegen Kurts Beine.
Kurt Austin sackte auf die Knie. In diesem Moment war er dankbar, dass seine Beine fast taub vor Kälte waren.
Er widerstand dem Drang, sich zu wehren oder eine bissige Bemerkung zu machen. Und da Kirov keinerlei Anstalten machte, ihn zu erschießen, schien es, als hätte Kurt eine weise Entscheidung getroffen. Zumindest nahm er dies an, bis Kirov in die offene Ladeluke trat, durch die eisige Luft hereindrang, während das Schiff Fahrt aufnahm.
»Sie haben mich gezwungen, aus einem fahrenden Zug abzuspringen«, sagte Kirov und blickte auf die eisigen Fluten hinab. »Es scheint, als wünschte das Schicksal, dass ich mich dafür angemessen revanchiere.«
Kirov gab seinen Männern mit einem Kopfnicken ein Zeichen. »Werft ihn raus.«
Zwei Männer packten Kurt und wollten ihn zur Luke schleifen. Kurt riss sich von einem los und attackierte den anderen, aber ein dritter Mann griff in das Handgemenge ein.
Da alle Augen auf Kurt gerichtet waren, wirbelte Joe herum und schlug das AK-47 beiseite, das auf ihn gerichtet war. Aus seiner knienden Position rammte er von unten die Fäuste in den Unterleib seines Bewachers, und der Mann ging zu Boden, verlor die Waffe aus den Händen und stöhnte qualvoll.
Auch Kapitän Winslow beteiligte sich an der Schlägerei, griff einen der Wächter an und erwischte ihn, ehe er abdrücken konnte.
Diese zweite Aktion lenkte Kirov ab. Kurt schaffte es, sich auch von dem letzten Wächter zu befreien. Er stürzte sich auf Kirov und nahm ihn in den Schwitzkasten, ehe die anderen sich neu formieren konnten.
»Es reicht!«
Kurts Stimme hallte von Stahlwänden des kleinen Raums wider. Jeder blickte in seine Richtung. Mit einem Arm drückte er Kirov die Luft ab. Mit der anderen Hand presste er die Leuchtpistole gegen Kirovs Wange.
Jegliche Aktivität im Raum brach ab. Joe bückte sich nach einem Gewehr, das auf dem Boden lag, doch der Wächter, der ihm am nächsten war, hob drohend seine Waffe.
»Befehlen Sie Ihren Männern, ihre Knarren runterzunehmen«, knurrte Kurt, »oder ich erleuchte Sie auf eine Weise, von der Sie sich nie mehr erholen.«
Kirov schluckte krampfhaft, wobei sein Adamsapfel sich trotz des Drucks von Kurts Arm hektisch auf und ab bewegte.
»Die Waffen runter«, presste Kirov hervor, »aber nicht aus der Hand legen.«
Ein halber Sieg, dachte Kurt. Besser als nichts.
Er überlegte, was er als Nächstes tun sollte, als der Klang der Schottentür, die geöffnet wurde, an seine Ohren drang.
Kurt wandte sich um, während die Tür aufschwang und eine Eiche von einem Mann durch die Öffnung trat. Trotz seiner Größe bewegte er sich geschmeidig. Er trug eine dunkle Khakihose und einen schwarzen Pullover. Er hatte hohe Wangenknochen in einem kantigen Gesicht, die an die windschnittigen Außenspiegel eines Sportwagens erinnerten.
Die russischen Soldaten nahmen bei seinem Erscheinen sofort eine strammere Haltung an. Kurt vermutete, dass er Kirovs Chef war, und das anscheinend in jeder Hinsicht. Er war mit zwei schwarzen Pistolen bewaffnet, die allerdings noch in zwei Schulterhalftern steckten, eins auf jeder Seite seines mächtigen Brustkorbs.
»Was haben wir hier?«, fragte er.
»Eine kleine Meinungsverschiedenheit«, antwortete Kurt. »Ihr Schläger hier wollte mich in den Ozean werfen. Ich wollte aber nicht der leidtragende Teil einer Entsorgungsaktion sein.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte der Mann.
»Wer sind Sie?«, fragte Kurt. »Sie waren nicht im Zug.«
»Mein Name ist Gregorowitsch«, sagte der Mann. »Und Sie haben recht, ich bin an dieser traurigen Episode nicht beteiligt gewesen.«
Gregorowitsch sah sich um. »Es scheint, als hätten Sie das Beste aus Ihrer Situation gemacht«, sagte er zu Kurt. »Sie sind jedoch zahlen- und waffenmäßig deutlich unterlegen. Die Frau ist die Einzige von Ihnen, die einigen Wert besitzt. Und Kirov ist für mich kein großer Verlust.«
Er wandte sich an einen der Soldaten. »Erschieß beide.«
Während der Angesprochene seine Maschinenpistole hob und zielte, bereitete Kurt sich innerlich darauf vor, ihm Kirov als menschlichen Schutzschild entgegenzuwerfen und Gregorowitsch die Leuchtkugel ins Gesicht zu schießen.
»Warten Sie!«, schrie eine Stimme.
Es war ausgerechnet Hayley.
»Er ist der Einzige, der es weiß!«, rief sie.
Abermals stoppte jegliche Aktivität kurz vor einem Blutbad.
»Der Einzige, der was weiß?«, fragte Gregorowitsch.
»Ich weiß über die Drohung Bescheid«, sagte Hayley. »Zuerst wird mein Land bestraft, dann Russland, dann die Vereinigten Staaten. Sie sind Russen. Sie müssen aus dem gleichen Grund wie wir hinter Thero her sein. Deshalb sind Sie hier. Deshalb haben Sie versucht, mich aus dem Eisenbahnzug herauszuholen. Sie denken offenbar, dass ich Ihnen helfen kann, ihn zu finden. Aber Sie irren sich. Kurt Austin ist der Einzige, der weiß, wo Thero sich aufhält.«
Kurt spürte einen aufkeimenden Schimmer der Hoffnung. Hayley bewies eine bewundernswerte Geistesgegenwart.
»Erwarten Sie ernsthaft, dass ich das glaube?«, sagte der muskelbepackte Russe. »Sie sind die Wissenschaftlerin. Sie wurden aus einem bestimmten Grund mitgenommen. Aus dem gleichen Grund, weshalb wir Sie entführen wollten. Weil nur Sie verstehen, was Thero im Schilde führt. Daraus ergibt sich logischerweise, dass Sie – und nicht er – Theros Aufenthaltsort herausbekommen haben.«
»Der Computer hat Theros Aufenthaltsort ermittelt«, sagte Hayley verzweifelt. »Er lieferte mir einen Ausdruck. Ich habe ihn zu Mr. Austin gebracht. Darauf waren Zahlen und Linien, aber ich habe keine Ahnung von Azimuten und Entfernungen und Koordinaten. Um Gottes willen, ich wage mich ja noch nicht mal freiwillig aus Sydney heraus. Ich habe Mr. Austin den Ausdruck gezeigt, er hat ihn gesehen. Und gelesen. Er erklärte, wir befänden uns auf einem falschen Kurs. Und dann traf uns die Welle. Sie zerbrach unser Schiff und versenkte uns innerhalb einer halben Minute.«
Die Soldaten sahen einander unsicher an.
»Wir hatten uns schon gewundert, was da geschehen ist«, sagte Gregorowitsch. »Wir sind auf eine Menge Trümmer und Angehörige Ihrer Mannschaft gestoßen. Ich fürchte, sie waren alle tot.«
»Theros Waffe funktioniert und ist einsatzbereit«, fuhr Hayley fort. »Er hat uns gefunden, weil wir einen Suchimpuls gesendet haben. Was bedeutet: Selbst wenn ich es schaffen sollte, einen Detektor für Sie zu bauen, würden Sie in dem Moment, in dem Sie ihn einschalten, Ihr eigenes Todesurteil unterschreiben. Er würde Ihr Schiff genauso vernichten, wie er es mit unserem getan hat.«
Gregorowitsch wandte sich an Kurt Austin. »Sie hat gewichtige Argumente, aber das ändert die Situation nur vorübergehend. Sie werden mir geben, was ich haben will, sonst töte ich Ihre Freunde einen nach dem anderen.«
Kurt war sich ziemlich sicher, dass genau das sowieso geschehen würde. »Nein«, widersprach er, »genauso wird es nicht laufen.«
Die Augenbrauen des Russen ruckten nach oben. »Es wird auf die Art und Weise ablaufen, wie ich es befehle«, beharrte Gregorowitsch.
»Sie kommen mir aber überhaupt nicht vor wie ein Narr«, meinte Kurt, »also behandeln Sie mich nicht, als sei ich einer. Wenn ich Ihnen gebe, was Sie wollen, brauchen Sie uns nicht mehr. Dann sterben wir alle. Ich bin nicht so dumm zu glauben, dass ich auch nur ein einziges Menschenleben rette, indem ich unser einziges Druckmittel aus der Hand gebe.«
»Dann hole ich es mit Folter aus Ihnen heraus«, entschied Gregorowitsch kühl. »Ich bringe Sie schon zum Reden.«
Kurt blickte dem russischen Killer in die Augen. »Nur zu, versuchen Sie es. Vielleicht rede ich. Vielleicht nenne ich Ihnen den Ort. Vielleicht nenne ich Ihnen aber auch ein Dutzend verschiedene Orte, und Sie irren für eine halbe Ewigkeit durch die Antarktis auf der Suche nach Ihrer Jagdbeute. Oder ich führe Sie direkt zu ihm hin, sodass er Sie ins Visier nehmen und dieses Schiff genauso vernichten kann wie unser Schiff. Wollen Sie dieses Risiko eingehen? Dann fangen Sie an, versuchen Sie, die Information aus mir herauszuholen. Sie werden nie wissen, was Sie bekommen.«
Gregorowitsch war von Kurt Austins Taktik beeindruckt. Er begann tatsächlich leise zu lachen. »Ein genialer Schachzug«, sagte er anerkennend. »Und was noch wichtiger ist, ich glaube Ihnen. Nicht weil ich muss, sondern weil ich in Ihrer Position genau das Gleiche tun würde. Ich habe jedoch meine Befehle, und ich werde sie ausführen … und zwar bis aufs i-Tüpfelchen.«
»Dann lassen Sie sich von mir helfen«, sagte Kurt.
Gregorowitsch verengte die Augen zu Schlitzen.
»Wir wollen beide dasselbe«, erklärte Kurt. »Thero aufhalten. Wann das geschieht, mag Ihnen vielleicht egal sein, aber in unserem Fall würden wir es gerne schaffen, ehe er Australien verwüstet.«
»Wir haben die Mittel, um ihn zu stoppen«, erklärte Gregorowitsch. »Verraten Sie mir, wo er sich versteckt, und ich vernichte ihn mitsamt seiner Behausung. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass Sie und Ihre Mannschaft freigelassen werden, wenn wir unser Ziel erreicht haben.«
»Ich habe eine bessere Idee«, sagte Kurt. »Ich führe Sie zu ihm, und wir vernichten ihn gemeinsam.«
Gregorowitsch holte tief Luft. Er ärgerte sich offenbar darüber, verhandeln oder über irgendeine Art von Kompromiss nachdenken zu müssen. Wenn ihm das erste Angebot schon nicht zugesagt hatte, dachte Kurt, würde ihm das Kleingedruckte erst recht nicht gefallen.
»Und«, fügte Kurt hinzu, »Sie geben uns Waffen. Gewehre und Reservemagazine für mich, Joe Zavala, den Kapitän und jeden anderen Angehörigen unserer Mannschaft, der eine Waffe wünscht.«
»Zählen Sie mich dazu«, sagte Hayley.
»Und eine für mich«, verlangte der Erste Offizier.
Gregorowitsch starrte Kurt entgeistert an. »Sie erwarten, dass ich Ihnen Waffen zur Verfügung stelle? Hier auf diesem Schiff?«
»Das tue ich«, bestätigte Kurt. »Und ich gebe Ihnen nichts, bis Sie meine Forderung erfüllt haben.«
Innerlich kochte Gregorowitsch. Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und knirschte mit den Zähnen. Er steckte in der Klemme, und er wusste es. Aber er lehnte das Angebot nicht rundweg ab. Das bedeutete, dass er zumindest darüber nachdachte.
»Ein Landsmann von mir benutzte einmal den Ausdruck Frieden durch Stärke«, zitierte Kurt Ronald Reagan. »Ihre und unsere Nation bedrohen einander seit einem halben Jahrhundert mit Atombomben. Daraus hat sich eine stabile – wenn auch gelegentlich angespannte – Beziehung ergeben. Aber niemand hat jemals abgedrückt, also hat es offensichtlich funktioniert. Ich denke, wir können es für ein paar Tage unter ähnlichen Bedingungen und mit einem gemeinsamen Ziel ebenfalls schaffen.«
»Das ist der reine Wahnsinn«, sagte Kirov.
Kurt versagte sich einen Kommentar und schaute stattdessen Gregorowitsch abwartend an.
»Sind wir uns einig?«
Gregorowitsch lehnte sich an die Wand. Er massierte nachdenklich sein Kinn. Kurt konnte fast hören, wie es in seinem Kopf arbeitete.
»Ich gebe Ihnen eine Pistole«, sagte der Russe schließlich. »Und einem Ihrer Gefährten, den Sie bestimmen, überlasse ich ein einziges Gewehr. Mehr kriegen Sie nicht von mir – außer vielleicht den Tod.«
»Bis wir unser gemeinsames Ziel erreicht haben«, fügte Kurt hinzu.
Gregorowitsch ließ diese Feststellung unerwidert. Er sah zu Joe hinüber. »Sie zuerst.«
Joe Zavala durfte ein Gewehr aufheben. Er überprüfte es schnell und richtete es auf Gregorowitsch. Zwei seiner Soldaten zielten als Antwort mit ihren Kalaschnikows sofort auf ihn.
»Sehen Sie?«, sagte Kurt. »Nett und friedlich.«
Er ließ Kirov frei. Dann reichte er Kapitän Winslow die Leuchtpistole und angelte sich eine der Makarow-Pistolen vom Deck. Er zog den Schlitten einen Zentimeter zurück, um sich zu vergewissern, dass sich eine Patrone in der Kammer befand, und entspannte dann mit dem Daumen den Hammer.
»Sie haben Ihre Waffen«, sagte Gregorowitsch. »Und jetzt begleiten Sie mich auf die Kommandobrücke und nennen dem Steuermann den Kurs, den er einschlagen soll.«
Kurt schaute zu seinen Gefährten und handelte sich teils zweifelnde, teils zuversichtliche Blicke ein. In allen lag die Hoffnung, dass er wusste, was er tat. Und er nickte siegessicher. »Nach Ihnen.«
Der Russe trat durch die Türöffnung. Kurt folgte mit Kirov und allen anderen hinter ihm.
Sie würden nicht länger als eine Minute brauchen, um zur Kommandobrücke zu gelangen. Das war eine Zeitspanne, die Kurt strecken konnte, indem er ein langsames Gehtempo anschlug. Aber das war auch schon alles, was ihm zur Verfügung stand, um sich einen Plan zurechtzulegen. Einen Plan, der den Frachter in die richtige Richtung führte und die Russen zufriedenstellte, ohne gleichzeitig ihn selbst, Kurt, und die restlichen NUMA-Angehörigen erneut entbehrlich zu machen.
Zwei Minuten höchstens, rechnete Kurt. Und die Uhr tickte unaufhaltsam.