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Sydney, Australien, 19.00 Uhr

Kurt Austin saß in einem komfortablen Sessel der achten Sitzreihe vor der Hauptbühne des Joan Sutherland Theatre, dem kleineren der beiden von einem Segelschiff und einer Seemuschel inspirierten Gebäude des berühmten Sydney Opera House. Die größere Concert Hall befand sich nebenan und wurde zu diesem Zeitpunkt nicht benutzt.

Seit Jahren hatte Kurt die Absicht gehabt, Sydney zu besuchen und einer Vorstellung in diesem Gebäude beizuwohnen. Beethoven und Wagner hätten ihm gut gefallen, und beinahe hätte er den Abstecher dorthin arrangieren können, als U2 anlässlich ihrer Welttournee dort auftraten, aber leider hatte es zeitlich dann doch nicht gepasst. Unglücklicherweise war nun, da er es endlich geschafft hatte, das Einzige, was von der Bühne an seine Ohren drang, ein staubtrockener, akademischer Vortrag, bei dem ihm immer wieder die Augen zufielen.

Er nahm an der Muldoon Conference on Underwater Mining teil, veranstaltet von Archibald und Lisette Muldoon, einem reichen australischen Ehepaar, das im Verlauf von vierzig Jahren mit riskanten Bergbauprojekten ein Vermögen verdient hatte.

Kurt Austin war auf Grund seiner Erfahrung in der Tiefseebergung und seiner Position als Chef der Special-Projects-Abteilung bei der National Underwater and Marine Agency als offizieller Gast eingeladen worden. Doch es schien, als wünschten die Muldoons seine Anwesenheit auch deshalb, weil sie offenbar hofften, ihre Veranstaltung mit dem Fünkchen Ruhm aufwerten zu können, den er sich in der Bergungsindustrie erworben hatte – falls es in diesem schwierigen Geschäft überhaupt so etwas wie Ruhm zu erwerben gab.

Während des letzten Jahrzehnts war er an einer Reihe bedeutender Unternehmungen beteiligt gewesen. Einige dieser Projekte unterlagen strengster Geheimhaltung, und es gab lediglich Gerüchte, dass sie stattgefunden hatten. Andere Vorfälle hatten den Weg in die Öffentlichkeit gefunden und waren weithin bekannt geworden, darunter auch ein kürzlich erfolgter Einsatz, um einen Schwarm selbstreduplizierender Mikromaschinen aus dem Indischen Ozean zu fischen, ehe sie die Wetterverhältnisse über Indien und Asien veränderten, was den Hungertod von Milliarden Menschen zur Folge gehabt hätte.

Neben dem, was er an Bekanntheit errungen hatte, erfreute sich Kurt einer bemerkenswerten äußeren Erscheinung, die sofort ins Auge fiel. Braungebrannt, mit frühzeitig ergrautem Haar und intensiven tiefblauen Augen, war er der Prototyp des sprichwörtlichen Abenteurers. All das hatte zur Folge, dass seine Abwesenheit bei jedem publikumswirksamen Ereignis sofort aufgefallen wäre, was die ständige Aufmerksamkeit von Seiten eines oder beider Muldoons bislang aber hatte verhindern können.

Sie waren in jeder Hinsicht großzügig und durchaus liebenswert, aber nach drei Tagen, die mit Seminaren und Vorträgen vollgestopft waren, hatte Kurt Austin allmählich genug und plante seine Flucht.

Während sich die Beleuchtung im Saal verdunkelte und der Redner mit der Präsentation einer Fotoserie begann, erkannte Kurt die Chance, auf die er sehnsüchtig gewartet hatte. Er angelte sein Mobiltelefon aus der Tasche und drückte auf die Taste, die ein Summen erklingen ließ, als wäre seine Nummer von einem Anrufer gewählt worden.

Ein paar Köpfe drehten sich zu ihm um.

Er zuckte mit einem verlegenen Lächeln entschuldigend die Schultern und hielt das Telefon ans Ohr.

»Hier ist Austin«, sagte er im Flüsterton zu niemandem. »Richtig«, fügte er mit ernster Stimme hinzu. »In Ordnung. Okay. Das klingt nicht gut. Natürlich. Ich mache mich gleich auf den Weg.«

Er tat so, als würde er die Verbindung unterbrechen, und verstaute das Telefon wieder in der Tasche.

»Gibt es Probleme?«, fragte Mrs. Muldoon, die zwei Plätze weiter neben ihm saß.

»Ein Anruf aus der Zentrale«, sagte er. »Ich soll etwas überprüfen.«

»Müssen Sie uns verlassen?«

Kurt nickte. »Ich fürchte. Wir arbeiten seit mehreren Tagen an einem speziellen Projekt, das offenbar in die entscheidende Phase eingetreten ist. Wenn ich mich nicht sofort persönlich darum kümmere, könnte es zu einer Katastrophe kommen.«

Mrs. Muldoon streckte den Arm aus und ergriff seine Hand. Ihre Miene drückte tiefe Enttäuschung aus. »Aber Sie versäumen den besten Teil des Vortrags.«

Kurt machte ein ernstes Gesicht. »Das ist nun mal der Preis, den ich zahlen muss.«

Nachdem er sich von den Muldoons verabschiedet hatte, erhob sich Kurt aus seinem Sessel und schlenderte durch den Mittelgang zu den Saaltüren. Er schlüpfte hinaus und eilte die Treppe zum Foyer hinauf. Um zu vermeiden, in Gespräche verwickelt zu werden, falls er anderen Konferenzteilnehmern begegnete, wandte er sich nach links und folgte einem gekrümmten Korridor zu einer nicht näher gekennzeichneten Seitentür.

Er stieß sie auf und trat in die schwüle Luft des australischen Abends hinaus. Zu seiner Überraschung war er nicht allein.

Eine junge Frau saß vor ihm auf einer Treppenstufe und hantierte gerade am Absatz einer hochhackigen Sandale herum. Sie trug ein weißes Cocktailkleid und eine ebenfalls weiße Blumenblüte in ihrem rotblonden Haar. Kurt tippte auf eine Orchidee.

Offensichtlich erschrocken über sein plötzliches Auftauchen, blickte sie hoch.

»Ich wollte Ihnen keine Angst machen«, sagte er.

Für eine Sekunde flackerte ihr Blick gehetzt, als habe er sie beim Diebstahl der Kronjuwelen erwischt. Dann schaute sie sich kurz um und konzentrierte sich wieder auf ihren Schuh. Sie zerrte an dem widerspenstigen Absatz, bis sein schlankes spitzes Ende zwischen ihren Fingern abbrach.

»Das dürfte Ihr Problem wahrscheinlich auch nicht lösen«, vermutete Kurt Austin.

»Meine Lieblingsschuhe«, sagte sie mit einem melodischen australischen Akzent. »Die geben den Geist meist am ehesten auf.«

Sichtlich enttäuscht, aber doch einen bewundernswert gesunden Menschenverstand demonstrierend, schlüpfte sie aus dem anderen Schuh, brach dessen Absatz ebenfalls ab und hielt beide Schuhe vergleichend nebeneinander.

»Zumindest passen sie jetzt zusammen«, sagte er und streckte eine Hand aus. »Kurt Austin.«

»Hayley Anderson«, erwiderte sie. »Stolze Besitzerin der teuersten Ballerinas in ganz Australien.«

Kurt musste lachen.

»Ich nehme an, Sie wollen sich den Hauptvortrag ersparen und haben die Flucht ergriffen«, sagte sie.

»Schuldig im Sinne der Anklage«, gab er zu. »Kann man mir das übel nehmen?«

»Überhaupt nicht«, erwiderte sie. »Wenn ich nicht hier sein müsste, läge ich sowieso längst am Strand.«

Sie stand auf und ging zu der Tür, durch die Kurt herausgekommen war. Er hätte es als bedauerlich empfunden, wenn diese Begegnung ein derart schnelles Ende gefunden hätte.

»In flachen Schuhen kann man auch durch Sand laufen«, meinte Kurt. »Fast genauso gut wie barfuß.«

»Tut mir leid«, sagte sie, »ich darf das nicht versäumen, sonst reißt mir jemand den Kopf ab. Aber Sie können mit mir wieder reingehen, und ich verspreche Ihnen, Sie bei guter Laune zu halten.«

»Wirklich verlockend«, sagte Kurt. »Aber meine mühsam zurückgewonnene Freiheit ist mir zu diesem Zeitpunkt zu viel wert. Wenn Sie da drin die Langeweile packt, finden Sie mich am Bondi Beach. Sie können mich gar nicht verfehlen. Ich bin derjenige, der ein wenig overdressed ist.«

Sie lachte verhalten und streckte schnell die Hand nach der Tür aus. Anscheinend hatte sie es eilig. Sie zog die Tür auf, aber dann hielt sie noch einmal inne. Ihr Blick wanderte an Kurt vorbei und über den Hafen von Sydney.

Kurt wandte sich um. Im abnehmenden Tageslicht gewahrte er die bogenförmige Gischtfahne am Heck eines Powerboots. Es schoss gerade quer durch den Hafen und kam dem Bug eines Fährschiffs gefährlich nahe. Ein wütender Warnton drang aus dem Nebelhorn des Fährschiffs, aber das Rennboot wurde kein Deut langsamer.

Einen kurzen Moment später erkannte Kurt, weshalb. Ein dunkelfarbiger Helikopter stieg hinter dem Fährschiff hoch, schwang sich im nächsten Augenblick über das mit Passagieren dicht bevölkerte Deck und ging über dem Wasser wieder in den Tiefflug über, um die Jagd fortzusetzen.

Das rasende Boot schwenkte nach links und rechts, furchte ein schäumendes S ins Hafenwasser und schob sich fast auf Tuchfühlung an einem langsamen Segelboot vorbei. Wer auch immer das Boot auf diesem Irrsinnskurs durch den Hafen lenkte, musste den Verstand verloren haben.

»Offenbar ein Irrer«, sagte Hayley Anderson und beobachtete die Manöver des Rennboots.

Kurt nahm den Helikopter genauer in Augenschein, einen dunkelblauen Eurocopter EC145. Eine kurze kugelförmige Kanzel, die weit vorragte, verlieh der Nase ein seltsam gedrungenes Aussehen und hatte Ähnlichkeit mit dem Maul eines besonders großen weißen Hais. Der Rotor hatte vier Blätter und war als weiße, verschwommene Scheibe über der Passagierzelle zu erkennen, während der kurze, kompakte Heckausläufer in drei kleinen vertikalen Stabilisierungsflossen endete, die Ähnlichkeit mit einem überdimensionalen Dreizack hatten.

Kurt konnte keinerlei Hoheitszeichen oder irgendwelche Navigationsleuchten ausmachen, aber er bemerkte grelle Lichtpunkte, die in der offenen Frachtraumtür aufflackerten: Mündungsblitze.

Er holte sein Mobiltelefon heraus und wählte 911. Nichts geschah.

Hayley machte einen Schritt vorwärts. »Dort wird geschossen. Sie wollen diese Leute töten.«

»Wie lautet hier die Notrufnummer?«

»Null, null, null«, antwortete sie.

Kurt tippte sie ein und drückte auf CALL. Als er weiterverbunden wurde, hatte das Powerboot seinen Kurs in Richtung Opernhaus geändert. Es kam mit Höchstgeschwindigkeit direkt auf sie zu. Sein Ziel war das runde Ende der Promenade, die wie eine breite Pier in den Hafen von Sydney hineinragte.

Der größte Teil der Promenade war eine glatte Mauer aus solidem Beton, aber auf der linken Seite führte eine Treppe zum Wasser hinunter. Das rasende Boot hielt in gerader Linie darauf zu. Der Helikopter folgte ihm und versuchte, in eine günstige Position zu gelangen, um dem Scharfschützen einen tödlichen Schuss zu ermöglichen.

Weitere Mündungsblitze flackerten in der Öffnung des Frachtabteils.

Das Boot wich scharf nach links aus, während der Schusslärm bis zum Ufer drang. Dann ging das Boot wieder auf seinen ursprünglichen Kurs und rammte mit vollem Tempo die Treppe. Es stieg in die Luft wie ein Automobil, das bei einem Filmstunt von einer schräg aufragenden Rampe abhebt. So flog es gut zwanzig Meter weit und drehte sich halb um die Längsachse, ehe es auf die Seite krachte.

Danach rutschte das Boot noch ein Stück über die Betonfläche, prallte gegen einen Lampenmast und zerbarst. Fiberglassplitter flogen in alle Richtungen, während sich der Lampenmast verbog und seine Leuchtelemente mit lautem Knall explodierten.

»Notrufzentrale«, meldete sich eine Stimme im Telefon.

Kurt war von dem Unfall derart gefesselt, dass er vergaß zu antworten.

»Hallo? Hier ist die Notrufzentrale.«

Während das zertrümmerte Powerboot zur Ruhe kam, donnerte der Eurocopter über die Szene hinweg und verfehlte nur knapp die oberste Spitze des Opernhausdachs.

Kurt reichte Hayley das Telefon. »Holen Sie Hilfe!«, rief er und rannte bereits die Treppe hinunter. »Polizei, Krankenwagen, Nationalgarde. Alles, was zur Verfügung steht.«

Kurt hatte keine Ahnung, was hier los war, aber sogar von seinem erhöhten Standort auf der Plattform konnte er erkennen, dass zwei Personen in den Bootstrümmern eingeklemmt waren, und er konnte auslaufendes Benzin riechen.

Er erreichte das Ende der Treppe, rannte ein kurzes Stück und flankte dann über eine Mauer auf die Promenade. Während er sich dem gestrandeten Boot näherte, berührten die immer noch rotierenden Propeller den Beton. Ein dichter Funkenschauer wirbelte in die Luft. Die Funken kamen mit den Benzindämpfen in Berührung, und ein Feuerball blähte sich auf.

Im Gefolge dieser kleinen Explosion loderte von der sich ausbreitenden Benzinpfütze eine Flammenwand hoch.

Trotz der glühenden Hitze stürzte sich Kurt in das Inferno.

In einhundertdreißig Metern Höhe und eine Meile entfernt flog der Eurocopter eine scharfe Kehre über den Randbezirken von Sydney.

Obwohl er angeschnallt war, streckte der Scharfschütze eine Hand aus, um sich am Türrahmen festzuhalten.

»Immer mit der Ruhe!«, rief er.

Er mühte sich bereits damit ab, ein Trommelmagazin mit fünfzig Schuss Inhalt an seinem langläufigen Heckler & Koch-Präzisionsgewehr einzurasten. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war, aus dem Frachtabteil hinausgeschleudert zu werden.

»Ich mache einen zweiten Überflug«, rief der Pilot zurück. »Wir müssen sichergehen, dass sie tot sind.«

Der Scharfschütze bezweifelte, dass jemand diese Kollision überlebt haben könnte, aber das zu entscheiden war nicht seine Aufgabe. Während der Helikopter in die Waagerechte zurückkehrte, gab der Schütze seine Versuche auf, das Gewehr mit dem Trommelmagazin zu versehen. Stattdessen rammte er ein standardmäßiges Zehn-Schuss-Magazin in den Magazinschacht.

»Halt den Vogel diesmal so ruhig wie möglich in der Luft«, verlangte er. »Zum Schießen brauche ich eine stabile Basis.«

»Wird gemacht«, erwiderte der Pilot.

Der Scharfschütze rutschte zur offenen Tür, winkelte ein Bein an und setzte sich auf den Unterschenkel, während er das andere Bein ausstreckte und sich mit dem Fuß auf der letzten Leiterstufe über den Landekufen des Helikopters abstützte.

Sie hatten die Kehre vollendet und näherten sich nun deutlich langsamer den Segeln des Operndachs. Der Schütze lud durch und machte sich schussbereit.

Als Kurt das zertrümmerte Boot erreichte, stand bereits das gesamte Heck in Flammen. Eine Gestalt kauerte auf dem Passagiersitz und versuchte sich zu befreien. Kurt hievte den Mann hoch und zog ihn über den Bootsrand, wobei er seine Schmerzensschreie ignorierte.

Fünfzehn Meter vom Boot entfernt legte Kurt den Verletzten auf den Boden. Dabei fiel ihm die seltsam gekrümmte Haltung seiner Arme und Finger auf. Der Anblick war so seltsam, dass er Kurt auch nicht aus dem Kopf ging, als er im Laufschritt zum Boot zurückkehrte, um dem Fahrer zu helfen.

Sich durch die dichten Schwaden beißenden Rauchs kämpfend, kletterte Kurt auf das Bootsdeck. Mittlerweile leckten die ersten Flammen über den Rücken des Fahrers.

Kurt versuchte, den Mann hochzuziehen, doch er wurde von dem zertrümmerten Abschnitt des Armaturenbretts festgehalten.

»Kümmern Sie sich nicht um mich!«, rief der Mann. »Helfen Sie Panos!«

»Wenn Sie damit Ihren Passagier meinen, der befindet sich in Sicherheit«, rief Kurt. »Und jetzt helfen Sie mir, Sie frei zu bekommen.«

Der Mann stemmte sich hoch, und Kurt zog an seinen Schultern, aber das aus seiner Verankerung gerissene Armaturenbrett hielt ihn fest. Kurt wusste, dass er einen Hebel brauchte. Er schnappte sich einen Bootshaken, den er zwischen den Trümmern des Bugabschnitts gefunden hatte, und zwängte ihn zwischen den eingeklemmten Fahrer und das Armaturenbrett.

Indem er sich mit aller Kraft darauf stützte, schuf Kurt ein wenig Raum zwischen dem Fahrer und dem Armaturenbrett. »Jetzt!«, rief er.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht«, sagte er. »Ich habe kein Gefühl in den …«

Plötzlich schlug der Kopf des Fahrers ruckartig nach hinten, und Blut spritzte auf das Armaturenbrett. Qualmwolken hüllten das Boot ein, und die Flammen schlugen in alle Richtungen, als der Abwind des Hubschraubers sie erfasste.

Kurt erkannte, dass dem Fahrer nicht mehr zu helfen war und er selbst wahrscheinlich als Nächster an die Reihe kommen sollte. Reflexartig rollte er sich über den Bootsrand und suchte sich einen Weg über die Promenade.

Rechts und links von ihm trafen Gewehrkugeln den Beton, während er verzweifelt nach einer Deckung Ausschau hielt.

Von Qualmwolken verhüllt und so gut wie unsichtbar, blickte Kurt zum Himmel. Der Eurocopter befand sich gut zwanzig Meter über ihm im Schwebeflug. Er konnte verfolgen, wie der Scharfschütze auf der Suche nach einem Ziel den langen Gewehrlauf hin und her schwenkte. Dann zog der Helikopter nach links und drehte ab.

Der Schütze musste gesehen haben, wie der verletzte Passagier über die Promenade humpelte. Er nahm ihn sofort heftig unter Beschuss.

Querschläger umschwirrten den Mann wie ein wütender Hornissenschwarm, bis eine Kugel ihr Ziel fand und den Unglückseligen auf die Knie sinken ließ. Doch bevor der Schütze ihn endgültig ausschalten konnte, tauchte ein unerwarteter Helfer auf. Es war Hayley Anderson. Sie zerrte die schlaffe Gestalt hinter ein großes Pflanzgefäß aus Beton und duckte sich.

Der Scharfschütze eröffnete sofort wieder das Feuer. Die Kugeln sprengten Splitter aus der Betonschale und schleuderten Erdbrocken hoch. Aber das Pflanzgefäß erwies sich als sicherer Schutz. Es war zu massiv, als dass die Gewehrkugeln es durchschlagen konnten.

Der Helikopter trieb seitlich ab. Kurt hatte nur wenige Sekunden Zeit, bevor der Schütze wieder ein freies Schussfeld fand.

Er ergriff erneut den Bootshaken, von dessen stählerner Spitze, die mit auslaufendem Benzin benetzt worden war, Flammen hochzüngelten. Dann packte er den hölzernen Schaft etwa in der Mitte, rannte ein paar Schritte und schleuderte ihn wie einen Speer.

Der Helikopter wandte ihm seine Breitseite zu, und die brennende Lanze flog der offenen Frachtabteiltür entgegen wie ein wärmesuchendes Geschoss.

Sie traf mitten ins Ziel, verfehlte den Schützen nur um wenige Zentimeter, verkeilte sich jedoch in der Kabine und entfachte dabei einen Feuersturm. Augenblicklich quoll eine dichte Qualmwolke aus der Seitentür des Helikopters. Kurt sah, wie der Körper des Scharfschützen von den Flammen erfasst wurde, und er konnte nur vermuten, dass sein Wurfgeschoss eine Benzin- oder Sauerstoffleitung perforiert hatte.

Der orangefarbene Feuerschein breitete sich in der Kabine aus, während der Hubschrauber eine Drehung ausführte. Für einen kurzen Moment schien es, als würde der Pilot seine Maschine wieder unter Kontrolle bekommen, die Flucht ergreifen und den Hafen hinter sich lassen. Aber die Kurve, die der Helikopter beschrieb, wurde stetig enger und führte ihn in Richtung Konzerthalle. Mittlerweile tobte in der Kabine ein Flammeninferno, und aus sämtlichen Öffnungen drang schwarzer Qualm.

Brennend, absackend und gleichzeitig beschleunigend, rauschte der Eurocopter mitten in die berühmte Glaswand der Konzerthalle und zerschmetterte die fünfzehn Meter hohen Fensterscheiben. Durch die Kollision wurden Scherben wie Schrapnellgeschosse ins Innere des Gebäudes geschleudert, während andere Abschnitte der Glasfassade großflächig aus den Rahmen brachen und sich explosionsartig in Tausende winziger Splitter auflösten, die auf dem Erdboden aufschlugen.

Der Helikopter stürzte mitsamt seinen Insassen ab wie ein Stein, die Rotorflügel abgerissen und die Nabe rotierend wie ein Rasentrimmer, der seine Schnur verbraucht hatte. Schließlich schlug er knirschend auf der Promenade auf und war schon nach Sekunden nicht mehr als ein kaum noch identifizierbarer Trümmerhaufen inmitten eines kleinen Infernos.

Mittlerweile trafen auch die ersten Rettungsteams ein. Ein Trupp Polizisten näherte sich im Laufschritt. Feuerwehrfahrzeuge hielten mit quietschenden Bremsen. Bühnenarbeiter tauchten mit Feuerlöschern bewaffnet aus den verschiedenen Gebäuden des Sydney Opera House auf. Eine andere Gruppe rollte einen Wasserschlauch aus und schloss ihn an einen Feuerhydranten an.

Kurt war sich ziemlich sicher, dass für die Insassen des Helikopters, von denen sich niemand hatte aus der Kabine befreien können, jegliche Hilfe zu spät käme.

Er ging zu Hayley Anderson und dem Bootspassagier hinüber, der offenbar noch am Leben war. Der Mann lag in Hayleys Armen. Sein Blut tränkte ihr weißes Kleid. Sie versuchte verzweifelt, den Blutstrom zu stoppen, der sich aus zwei Schusswunden ergoss.

Es war ein aussichtsloser Kampf. Die Kugeln hatten seinen Körper glatt durchschlagen. Sie waren am Rücken eingedrungen und in Höhe des Brustbeins ausgetreten.

Kurt kniete sich neben die Frau und half ihr, ausreichend Druck auf die Wunden auszuüben, um den Blutverlust so gut wie möglich einzudämmen. »Sind Sie Panos?«, fragte er.

Die Augen des Mannes flackerten und blickten für einen kurzen Moment ins Leere.

»Sind Sie Panos?«

Mühsam nickte der Mann.

»Wer waren diese Leute, die auf Sie geschossen haben?«

Diesmal erhielt er keine Antwort. Die einzige Reaktion war ein leerer Blick.

Kurt hob den Kopf. »Wir brauchen hier drüben Hilfe!«, rief er und hielt nach einem Rettungssanitäter Ausschau.

Zwei Männer rannten auf sie zu, aber das waren keine Erste-Hilfe-Spezialisten. Kurt kamen sie wie Polizisten in Zivil vor. Sie blieben abrupt stehen, als er in ihre Richtung blickte.

»Ich habe mitgebracht … was ich versprochen habe«, sagte der verletzte Mann. Für Kurt klang es, als habe er einen griechischen Akzent.

»Was meinen Sie?«, fragte er.

Der Mann murmelte etwas und streckte dann eine zitternde Hand aus, mit der er mehrere mit Blutflecken übersäte Bogen Papier umklammerte.

»Tartarus«, sagte er mit matter, schwankender Stimme. »Das Herz … des Tartarus.«

Kurt nahm die Papiere entgegen. Sie waren mit seltsamen Symbolen, verschlungenen Linien und Zahlen bedeckt, die ihm wie komplizierte Berechnungen vorkamen.

»Was ist das?«, fragte Kurt.

Der Mann öffnete den Mund, um zu antworten, aber kein Laut drang über seine Lippen.

»Nicht wegtreten!«, rief Hayley.

Er reagierte nicht, und sie begann mit den Maßnahmen, die für die Herz-Lungen-Wiederbelebung notwendig waren. »Wir können ihn nicht sterben lassen.«

Kurt tastete nach seinem Puls. Er spürte nichts. »Es ist zu spät.«

»Nein, das kann nicht sein«, sagte sie und übte mit den Händen rhythmisch Druck auf die Brust des Mannes aus, als könnte sie auf diese Weise das Leben in seinen Körper zurückholen.

Kurt Austin hielt sie davon ab. »Es hat keinen Sinn. Er hat zu viel Blut verloren.«

Sie sah zu ihm hoch, das Gesicht tränennass und mit Ruß beschmiert, das weiße Kleid blutbesudelt.

»Es tut mir leid«, sagte Kurt. »Sie haben wirklich alles versucht.«

Sie setzte sich auf den Erdboden, sichtlich erschöpft. Ihr Haar fiel herab und verhüllte das ganze Gesicht wie ein Vorhang, als sie zu Boden starrte. Sie schluchzte so heftig, dass ihr Körper bebte.

Kurt legte eine Hand auf ihre Schulter und betrachtete das Bild der Zerstörung, das sich seinen Augen ringsum darbot.

Das Wrack des Powerboots auf der Promenade brannte noch, und die lodernden Überreste des Eurocopters befanden sich dort, wo die Trümmer der gläsernen Konzerthallenfassade hätten liegen sollen. Freiwillige zielten mit einem Löschschlauch darauf und bemühten sich verzweifelt zu verhindern, dass die Flammen auf das Gebäude übergriffen. Währenddessen strömten Teilnehmer der Konferenz über Tiefseebergung aus dem Joan Sutherland Theatre. Die Hälfte von ihnen konnte sich an dem Zerstörungswerk gar nicht sattsehen, während sich die restlichen Konferenzgäste eilig in die andere Richtung entfernten.

Es war so schnell geschehen. Ohne Vorwarnung war das vollkommene Chaos ausgebrochen. Und der Einzige, der vielleicht den Grund für dieses tödliche Schauspiel gekannt hatte, lag tot zu ihren Füßen.

»Was hat er gesagt?«, fragte Hayley Anderson und wischte ihre Tränen ab. »Was hat er Ihnen mitgeteilt?«

»Tartarus«, antwortete Kurt.

Sie starrte ihn verständnislos an. »Was heißt das?«

Kurt war nicht überzeugt, dass er den Mann richtig verstanden hatte. Und selbst wenn, dann ergab das Gesagte doch wenig Sinn.

»Das ist ein Begriff aus der griechischen Mythologie«, erklärte er. »Er bezeichnet den tiefsten Kerker der Unterwelt. Der Ilias zufolge befindet er sich genauso tief unter dem Hades wie der Himmel über der Erde.«

»Was meinen Sie, was er uns damit mitteilen wollte?«

»Keine Ahnung«, sagte Kurt Austin, zuckte die Achseln und reichte ihr den Stapel Papiere. »Vielleicht glaubte er, dass er dorthin unterwegs war. Oder«, fügte er hinzu, während er an den Schmutz, den Staub und den Gestank dachte, die den armen Mann einhüllten, »es ist möglicherweise auch der Ort gewesen, an dem er sich aufgehalten hat.«