VII

I m Hotel erwartete sie bereits die Nachricht des Kommissars, dass die Unterredung mit Mame Fatim genehmigt worden sei. Jocelyne könne bis achtzehn Uhr im Polizeikommissariat vorstellig werden. Danach würde die junge Frau dem Richter vorgeführt werden.

»Ich lasse Sie sofort hinfahren«, sagte Aurel.

»Ich möchte Sie bitten, mich zu begleiten.«

»Aber ich denke nicht, dass der Kommissar …«

»Keine Sorge, ich kümmere mich darum. Kommen Sie.«

Dieser erneute Vertrauensbeweis rührte Aurel sehr. Damit war klar, dass sie die Ermittlungen gemeinsam führten. Gerührt kauerte er sich auf die Rückbank des Clio. Der einzige Wermutstropfen war, dass er fast umkam vor Durst. Bei der ganzen Aufregung hätte er gerne ein großes Glas gekühlten Weißwein getrunken. Daran hatte er schon die ganze Zeit auf dem Weg ins Hotel gedacht. Und jetzt, beim Verlassen des Hotels, dachte er noch immer daran.

Das Kommissariat befand sich im Stadtzentrum. In diesem Viertel waren die Bürgersteige mit Verkaufsständen vollgestellt. Dazwischen liefen Straßenhändler umher, die die kuriosesten Waren anboten – vom Haarföhn bis hin zur Spiderman-Ausrüstung, vom Kinderschwimmreifen bis hin zum Werkzeugset.

Aurel bahnte Jocelyne einen Weg zum Eingang. Die beiden Wachposten ließen sie kommentarlos passieren. Im Innern gelangten sie durch ein Labyrinth schmaler Gänge, Treppen und Aufzüge, das sie zwang, mehrmals nach dem Weg zu fragen, schließlich zum Sekretariat von Kommissar Bâ.

Die afrikanische Verwaltungshierarchie hat ihre eigenen Gesetze. Eines von ihnen – vielleicht sogar das wichtigste – ist die Temperatur. Je bedeutender ein Beamter ist, desto kälter ist sein Büro. Auf den Fluren herrschte hingegen eine Hitze, die nicht nur von draußen kam, sondern auch von den Klimaanlagen, die die warme Luft aus den Büros an die Orte beförderten, die den Untergebenen vorbehalten waren. Jocelyne Mayères war schweißgebadet. Auf ihrer Bluse zeichneten sich dunkle Ränder ab. Aurel, der noch immer seinen Gabardinemantel trug, verspürte trotz seiner Unempfindlichkeit ein leichtes Unwohlsein. Das fand allerdings nur in einem winzigen Schweißtropfen auf seiner Schläfe Ausdruck.

Sie betraten schließlich das Sekretariat des Kommissars. Zwei Frauen im gleichen dunkelblauen Boubou tippten auf den Tastaturen alter Computermodelle. Eine kleine Klimaanlage senkte die Temperatur im Vergleich zu den Fluren um einige Grad. Als der Kommissar, von den beiden Frauen informiert, Aurel und Jocelyne Mayères in sein Büro führte, hatten sie den Eindruck, auf einem anderen Kontinent zu landen. Drei große Kühlmaschinen bliesen eisige Luft in den Raum.

Wie viele Angehörige des Fulben-Volks war auch Bâ ein hochgewachsener, schlanker Mann. Er hatte etwas Unkompliziertes an sich, das man auch als Klarheit bezeichnen konnte und sich in der Einrichtung des Büros widerspiegelte. Der Raum war weiß gestrichen, der Schreibtisch aus Mahagoniholz aufgeräumt. An den Wänden hingen mehrere Diplome der besten Polizeischulen in Frankreich, den USA und von Katar. An einer Fahnenstange, die mit zwei Nägeln an der Wand befestigt war, hing die guineische Flagge.

Der Kommissar, der bei seinem Kollegen Dupertuis in der französischen Botschaft ehrfürchtig und schüchtern wirkte, trat hier nun voller Stolz auf. Er bot Jocelyne einen Platz auf dem braunen Ledersofa an. Offenbar wusste er nicht recht, wie er sich Aurel gegenüber verhalten sollte. Er hatte erwartet, dass dieser sich zurückziehen würde, nachdem er die Schwester des Verstorbenen herbegleitet hatte. Doch als er sah, wie Aurel es sich in einem der Sessel am Couchtisch bequem machte, wagte er es nicht, etwas zu sagen.

»Sie haben Ihre Meinung also nicht geändert, Madame? Sie möchten noch immer die Frau sehen, die – davon sind wir inzwischen überzeugt – am Mord Ihres Bruders beteiligt war?«

»Mehr denn je, Herr Kommissar.«

»In diesem Fall …«

Bâ erhob sich und ging zu seinem Schreibtisch. Er drückte eine Taste der Telefonanlage und erteilte eine Anordnung. Dann setzte er sich wieder zu ihnen.

»Ich hoffe, sie verhält sich nicht zu unangenehm Ihnen gegenüber. Sie müssen wissen, dass es sich um eine Frau mit schlechtem Lebenswandel handelt, und selbst, wenn Monsieur Mayères …«

Er fand nicht die passenden Worte, um mehr zu sagen, ohne beleidigend zu sein. Alle schwiegen eine Weile und lauschten gezwungenermaßen dem Getöse der Kühlmaschinen. Dann klopfte es an der Tür.

Zwei kleine Polizisten führten eine große junge Frau herein, die ihnen widerwillig folgte. Sie trug einen nachlässig übergeworfenen Boubou, der ihre Schultern und den Brustansatz entblößte. Als Bâ aufsprang, zupfte sie das Kleidungsstück zurecht.

»Setz dich«, befahl er und deutete auf einen freien Ledersessel, der den anderen gegenüberstand.

Mame Fatim hockte sich vorsichtig auf den Rand des Sitzkissens.

»Und versuch, korrekt zu antworten.«

Das Mädchen zuckte mit den Achseln, ihr Blick war ins Leere gerichtet.

»Madame ist die Schwester von Jacques Mayères«, erklärte Bâ und deutete dabei auf Jocelyne.

Bei diesen Worten erhellte sich die Miene des Mädchens. Sie musterte die Französin lange, als suche sie in ihrem Gesicht nach vertrauten Zügen.

Dann kam es zu einem kleinen Zwischenfall. Mame Fatim sprang plötzlich auf und warf sich vor Jocelyne auf die Knie. Sie wollte ihre Hände ergreifen, doch mit den Handschellen war das nicht möglich. Als sie sich dessen bewusst wurde, riss sie die Hände wütend in die Luft. Bâ und die beiden Polizisten stürzten sich auf sie.

»Ich habe ihn nicht getötet, Madame! Ich habe nichts damit zu tun!«

Mame Fatin schrie auf, als sie von den Männern überwältigt wurde.

In ihren Sessel gedrückt, wurde ihre Brust von Schluchzern geschüttelt. Jocelyne erhob sich, ging zu ihr und nahm ihre Hände.

»Ich glaube Ihnen. Erzählen Sie mir alles.«

Bâ bedauerte inzwischen, dieser Gegenüberstellung zugestimmt zu haben. Die Toubabs waren ganz offensichtlich naiv, und dieses dahergelaufene Mädchen würde ihnen sonst was auftischen. Er war auf der Hut.

»Kannten Sie Jacques schon lange?«

»Fast zwei Monate.«

Jocelyne musterte Mame Fatims Gesicht – die runden Wangen, die sinnlichen Lippen, die feine Nase und die dunkle Haut, die so weich schien.

Sie fragte sich, was genau Jacques an ihr geliebt hatte. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er Mame Fatim nur als Stück Fleisch betrachtet hatte, das man sich nimmt und unterwirft. Dazu war er zu feinfühlig gewesen.

»Ich hatte keinen Grund, ihm etwas anzutun«, murmelte Mame Fatim wie ein Echo auf diese Gedanken. »Er war immer gut zu mir.«

Sie begann wieder zu weinen. Jocelyne stützte ein Knie auf das Sitzkissen und streichelte ihr Haar. Bâ wechselte einen gequälten Blick mit seinen Männern.

Aurel wohnte der Szene hoch konzentriert bei. Jocelynes Reaktion rührte ihn. Vor allem aber war er darauf bedacht, in Mame Fatims Mimik geringste Anzeichen von Heuchelei oder Falschheit zu suchen.

Ohne Vorwarnung richtete sich das Mädchen auf, ergriff mit beiden Händen Jocelynes Arm und richtete ihre tränengefüllten Augen auf sie.

»Ich schwöre Ihnen, Madame, ich habe ihn nicht getötet.«

»Ich weiß, dass du in dieser Nacht mit deinem Freund an Land warst. Wann bist du zurückgekommen?«

»Ach, das wissen Sie. Nun ja, ich war in dieser Nacht mit Lamine unterwegs«, gestand Mame Fatim zum großen Erstaunen Bâs und seiner Männer seelenruhig.

Ihnen hatte sie nichts von diesem kleinen »Ausflug« erzählt.

»Hast du das oft gemacht?«

»Ein paarmal in der Woche.«

»Ich nehme an, das hing davon ab, ob Lamine Zeit hatte?«

Der Kommissar stellte mit zunehmender Verwunderung fest, was Jocelyne alles wusste.

»Ja«, antwortete Mame Fatim schniefend.

»Wusste Jacques davon?«

»Es stimmt, am Anfang habe ich es ihm nicht gesagt. Aber er hat es gemerkt.«

»Hat er es akzeptiert?«

»Sehen Sie, Jacques war ein guter Mensch. Er wollte nicht allein leben und war froh, jemanden bei sich auf dem Schiff zu haben. Er wollte mir einen Gefallen tun.«

Sie wischte sich die Tränen ab und richtete sich auf.

»Er hatte Pläne für mich«, sagte sie mit einem rührenden Anflug von Stolz in der Stimme. »Er wollte, dass ich eine Ausbildung mache. Abends gab er mir Englisch- und Matheunterricht. Ich habe nicht immer alles verstanden, aber er war geduldig.«

Sie stieß ein kurzes, nervöses Lachen hervor.

»Ich glaube, er sah in mir so etwas wie seine Tochter.«

»Anscheinend hast du abends ein Schlafmittel in sein Glas gegeben, um ausgehen zu können …«

»Das hat Ihnen bestimmt Seydou gesagt. Ich habe ihm diese Geschichte erzählt, weil er mich mit Lamine wegfahren sah – das musste ich ihm ja irgendwie erklären. Er hätte es nicht verstanden, wenn ich ihm gesagt hätte, dass Jacques Bescheid wusste. Und er hätte ihn verachtet. Sie kennen den Ehrenkodex der Fulben nicht …«

»Du hast ihm also kein Schlafmittel gegeben? Aber in seiner Kabine wurde welches gefunden.«

»Nur ganz selten. Er hatte ein kleines Herzproblem. Abends bereitete ich seine Blutdruckmedikamente vor. Er nahm sie, wünschte mir eine gute Nacht und ging schlafen. Es stimmt, wenn er sehr angespannt war, gab ich ihm manchmal auch ein Schlafmittel. Er wusste zwar, dass ich ausging, aber es war einfacher, wenn er schlief.«

»Und am Abend vor seiner Ermordung, hast du ihm da etwas gegeben?«

»Er war den ganzen Tag über sehr nervös, ich weiß auch nicht, warum. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Er war regelrecht in Panik. Immer wieder versuchte er, jemanden anzurufen, der offenbar nicht antwortete. Er lief immer wieder zwischen der Brücke und der Bugkabine des Schiffs hin und her.«

»Weißt du, was er dort machte?«

»Nein, ich betrat sie nie.«

»Also, bevor du gegangen bist, hast du ihm ein Schlafmittel gegeben.«

»Ich sagte doch, er war sehr angespannt. Schon am Vortag hatte er kein Auge zugetan. Er war die ganze Nacht in seinem Büro. Ehrlich gesagt, machte er mir etwas Angst. Ich fürchtete, er könnte es sich im letzten Moment anders überlegen … verstehen Sie? Also mich daran hindern, zu gehen. Lamine wartete auf mich, und wenn ich nicht gekommen wäre, wäre er imstande gewesen, mich zu holen. Was hätte das gegeben? Ich wollte Jacques schützen. Also habe ich ihm, ohne es ihm zu sagen, etwas Schlafmittel ins Glas gemischt.«

Bâ war immer verblüffter. Mame Fatim hatte alle seine Fragen beantwortet, ohne auszuweichen, doch jetzt wurde ihm klar, dass er nicht die richtigen gestellt hatte.

»Warum hast du dann sein Geld gestohlen, wenn du ihn so sehr geschätzt hast?«, schaltete sich der Kommissar ein.

Denn Mame Fatim stritt zwar jede Beteiligung an dem Mord ab, hatte aber zugegeben, dass Lamine mit ihrer Hilfe den Tresor aufgebrochen hatte. Sie zuckte mit den Achseln und zog es vor, sich an Jocelyne zu wenden.

»Wenn Sie wüssten, Madame … Seit ich Jacques kannte, hat Lamine mich andauernd bedrängt, ihm die Zahlenkombination für den Tresor zu geben. Lamine ist ein Ganove. Und er ist stur. Wenn er etwas will, bleibt er hartnäckig. Wir haben uns viel gestritten. Er hat mich sogar geschlagen. Für ihn war Jacques ein Toubab wie alle anderen, nichts als ein Haufen Gold. Ich habe versucht, ihm zu erklären …«

»Und schließlich hast du nachgegeben, und ihr habt ihn getötet«, schaltete sich der Kommissar ein.

»Nein!«

Mame Fatim hatte sich abrupt zu ihm umgedreht und fing an zu schreien. Die beiden Polizisten liefen zu ihr, um sie festzuhalten.

»Lassen Sie sie«, sagte Jocelyne. »Du bist also in der fraglichen Nacht ausgegangen. Und dann?«

»Dann hat mich Lamine gegen fünf Uhr morgens zurückgebracht. Wir haben uns dem Schiff genähert. Es war stockfinster, kein Mond zu sehen. Wir haben die Leiche erst im letzten Moment entdeckt. Ich hätte fast geschrien, aber Lamine hat mir den Mund zugehalten.«

»Habt ihr Jacques sofort erkannt?«

»Nein. Lamine hat ein Ruder in unser Boot gelegt und das andere dazu benutzt, um langsam an die Bordwand heranzukommen. Dann haben wir eine ganze Weile mit angehaltener Luft nach oben gestarrt, bis wir es endlich begriffen.«

»Und es war niemand mehr auf dem Schiff?«

»Das wollten wir auch wissen. Aber man hörte nicht das geringste Geräusch. Und als unsere Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, haben wir erkannt, dass es Jacques war, der dort hing, und dass er tot war.«

»Warum hast du uns das alles nicht gleich erzählt?«, fragte der Kommissar.

Und dann fuhr er an Jocelyne gewandt fort:

»Uns hat sie gesagt, Lamine sei aufgetaucht und habe sie gezwungen, ihm die Zahlenkombination des Tresors zu geben, dann habe er sie gefesselt und sei verschwunden, ohne Mayères aufzuwecken.«

Mame Fatim begehrte auf wie eine Katze, die Gefahr wittert.

»Sie wussten ja nicht, dass ich nachts mit Lamine wegging«, zischte sie. »Und das wollte ich Ihnen auch nicht sagen.«

Es war eindeutig, dass sie unter den Schlägen so wenig wie möglich zugegeben hatte, um ihre Schuld bei der ganzen Geschichte zu mildern. Und die Polizisten hatten sich damit zufriedengegeben. Ihre Meinung stand ohnehin fest. Sie schenkten der Aussage eines solchen Mädchens keinen Glauben.

»Sprich weiter«, sagte Jocelyne sanft.

»Als wir begriffen hatten, dass Jacques tot und sein Mörder nicht mehr da war, hat Lamine gesagt: ›Siehst du, andere waren nicht so dumm wie wir.‹ Er war sich sicher, dass man den Toubab getötet hatte, um ihn auszurauben.«

»Und was hast du gedacht?«

»Ich habe Angst bekommen. Ich habe mir gesagt, dass man mich beschuldigen würde. Ich habe Lamine vorgeschlagen, gemeinsam zu fliehen.

»Das hat er abgelehnt?«

»Er hat gesagt: ›Warte, wir müssen uns zuerst überzeugen.‹ Wir sind an Bord, in die Kabine mit dem Tresor gegangen und haben festgestellt, dass er unbeschädigt war.«

»Und dann habt ihr ihn geöffnet?«, fragte Jocelyne leise.

»Was hätte ich denn tun sollen? Jacques war tot, und Lamine stand vor dem Tresor.«

»Ihr wusstet die Zahlenkombination?«

»Lamine sagte, es sei ein einfaches Modell. Man konnte ihn mit einem Schlüssel öffnen, und ich wusste, wo Jacques den aufbewahrt.«

»Und was habt ihr darin gefunden?«

»Ich weiß es nicht genau. Lamine hat mich auf die Brücke geschickt, um Wache zu halten. Als er rauskam, wirkte er unzufrieden. Er hat gesagt: ›Bist du sicher, dass es keinen zweiten gibt?‹«

»Was hat er denn erwartet?«

»Wir haben oft über Jacques gesprochen, und Lamine hat mir Fragen gestellt. Über den Verkauf seines Unternehmens, ob er Wertpapiere besaß, wie viel Geld er wohl mitgenommen hat … solche Sachen. Und er war zu dem Schluss gekommen, dass Jacques sein ganzes Vermögen auf dem Schiff haben müsste.«

»Und dann?«, fragte der Kommissar.

»Lamine hat alles, was ihn interessierte, in eine Plastiktüte gepackt. Die war nicht sehr groß.«

»Bei Fünfhundert-Euro-Scheinen kann da schon einiges zusammenkommen«, erklärte Bâ mit einem verächtlichen Lächeln.

»Es gab auch eine Pistole und zwei Schachteln Munition. Lamine hat sie in die Taschen seiner Jeans gesteckt.«

»Warum bist du nicht mit ihm geflohen?«, fragte Jocelyne.

»Das wollte ich ja. Ich bin vor Angst fast gestorben. Aber er wollte nur seine eigene Haut retten.«

»Und du warst damit einverstanden?«

»Er hat mir keine Wahl gelassen. Er hat mich in die Kabine gedrängt und geohrfeigt. Ich war völlig benommen. Dann hat er mich ans Bett gefesselt und gesagt, ich solle behaupten, ich sei vergewaltigt worden. Ich habe angefangen zu schreien. Da hat er eine Rolle Klebeband aus der Küche geholt und mir den Mund zugeklebt. Das war’s.«

Mame Fatim hatte ihre Aussage beendet, und im Raum war es still geworden.

Jocelyne ließ das Mädchen nicht aus den Augen. Voller Zuneigung streichelte sie ihr über das Kinn. Solche Leichtgläubigkeit konnte der Kommissar nicht hinnehmen.

»Messen Sie den Geschichten, die dieses Mädchen erzählt, keine allzu große Bedeutung bei, Madame. Sie will ihren Freund decken und ihre Haut retten. Wir haben allen Grund, anzunehmen, dass es in diesem Fall nicht zwei Gruppen von Schuldigen gibt. Das Verbrechen und der Diebstahl gehen auf ein und dasselbe Konto.«

Er legte seine Argumente weiter dar, aber niemand schenkte ihm mehr Gehör. Die beiden Frauen sahen sich schweigend an, und Aurel saß vorgebeugt da und konzentrierte sich ganz auf das Gesicht des Mädchens.

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»Was halten Sie von der Sache?«

Aurel hatte endlich sein Glas Weißwein bekommen. Und er genehmigte sich den Luxus einer Zigarette. Jocelyne hatte bemerkt, dass er unablässig in der Tasche mit der Zigarettenspitze spielte, ohne sich zu trauen, sie hervorzuholen. Sie saßen im Innenhof eines kleinen, von einer Französin geführten Restaurants. Die Besitzerin war offenbar von Marokko fasziniert: Über den Tischen waren dreieckige Sonnensegel gespannt, die Mauern in einem rötlichen Ockerton verputzt und überall Berberspiegel aufgehängt. Das Lokal war ein ruhiger, relativ kühler Rückzugsort mitten im Stadtzentrum. Zu dieser Zeit am frühen Nachmittag gab es kaum Gäste. So konnten Aurel und Jocelyne, die in einer Ecke neben einem kleinen, plätschernden Wandbrunnen saßen, sich ungestört unterhalten, ohne fürchten zu müssen, dass sie jemand belauschte.

»Ich glaube, dass sie die Wahrheit sagt. Während Sie mit ihr gesprochen haben, habe ich sie nicht aus den Augen gelassen. Das Leben hat mich gelehrt, die Aufrichtigkeit von Menschen zu erkennen. In bestimmten Phasen meines Daseins war das überlebenswichtig. Und ich vertraue diesem Mädchen.«

»Ich auch.«

Eine Weile lang schwenkten sie nachdenklich den Weißwein in ihren Gläsern, auf deren Innenseite sich winzige Tröpfchen gebildet hatten.

»Aurel, sagen Sie mir eins …«

»Ja?«

»Was bringt Sie dazu, diese Ermittlungen ganz allein zu führen?«

»Ich bin ja nicht allein, wir sind zusammen.«

Der Satz war ihm vorschnell herausgerutscht. Er errötete aus Sorge, falsch verstanden zu werden. Hinter der Zuneigung, die er für Jocelyne hegte, verbargen sich Bewunderung, Dankbarkeit und Respekt. In seinen Augen war sie die Herzensdame eines Ritters. Und es wäre ihm zutiefst unangenehm gewesen, wenn sie etwas anderes angenommen hätte.

Eilig fuhr er fort:

»Als ich nach Frankreich kam, träumte ich davon, Polizist zu werden. Ihnen mag das albern vorkommen, aber ich muss dazu sagen, dass die einzigen westlichen Filme, die wir im kommunistischen Rumänien zu sehen bekamen, Abenteuerfilme oder Krimis waren. Wir wurden mit Belmondo und Delon gefüttert. Für einen Draufgänger à la Belmondo in Abenteuer in Rio , schienen mir meine Chancen nicht die besten.

»Warum?«

»Sie sind zu freundlich, Jocelyne. Aber tun Sie nicht so, als hätten Sie es nicht bemerkt.«

»Was bemerkt?«

»Dass ich nicht gerade wie Belmondo aussehe.«

»Fühlten Sie sich Delon ähnlicher?«

Sie lachten, aber im tiefen Inneren kränkte Aurel diese Frage.

»Bei einem Polizisten hingegen zählen andere Dinge, nicht wahr? Logik, Menschenkenntnis, die Fähigkeit, sich in verschiedenen Milieus zu bewegen.«

»Und warum haben Sie sich diesen Wunsch nicht erfüllt?«

Aurel trank sein Glas aus und machte dem Kellner aus der Ferne ein Zeichen, zwei neue zu bringen.

»Als ich nach Frankreich kam, konnte meine Familie, die dafür bezahlt hatte, dass ich Rumänien verlassen konnte, mich nicht mehr finanziell unterstützen. Unverzüglich musste ich selbst für meinen Lebensunterhalt aufkommen. Ich habe es mit Klavierunterricht versucht, aber das brachte nicht viel ein. Ich verfüge nicht über eine umfassende klassische Ausbildung. Also fing ich an, in Bars zu spielen.«

»In Bars?«

Aurel hatte an Jocelynes Gesichtsausdruck bemerkt, dass sie seine kleine Lüge durchschaut hatte.

»Na ja, in Bars, verstehen Sie. Nachtclubs mit Mädchen, Champagner und Gästen, die eigentlich nicht kommen, um Musik zu hören.«

»Ich verstehe.«

»Eines Tages wurde ich in einem Kommissariat vorstellig und erklärte, ich wolle bei der Polizei arbeiten. Es dauerte nicht lange, bis der Beamte, der mich befragte, wusste, mit wem er es zu tun hatte. Mit einem rumänischen Flüchtling, der nachts …«

»… in Bordellen spielte.«

Aurel war aufrichtig betrübt, Jocelyne, die Herzensdame des Ritters, zu einem derart unfeinen Ausdruck verleitet zu haben.

»Wie auch immer, das ist kein adäquates Thema für eine Frau wie Sie.«

Jocelyne lächelte, als sie beobachtete, wie sich dieser kleine Mann nervös auf seinem Stuhl wand und nach einem anderen Gesprächsthema suchte. Sie beschloss, ihn ein wenig zu necken.

»Wenn ich Sie recht verstehe, kann man nicht Polizist werden, wenn man Pianist in einem zwielichtigen Etablissement ist, wohl aber Konsul von Frankreich?«

Aurel war höchst verlegen, was durch sein Grinsen und dadurch, dass er sich unruhig auf seinem Stuhl hin und her bewegte, zum Ausdruck kam.

»Ich will Ihre Zeit nicht mit meiner Lebensgeschichte vergeuden.«

»Ganz im Gegenteil. Sie interessiert mich.«

»Wirklich?«

Aurel sprach sich Mut zu, indem er in kleinen Schlucken den Rest seines Weinglases leerte. Der Kellner, der die Szene aus der Ferne beobachtet hatte, brachte unaufgefordert ein neues.

»Eigentlich ist es ganz unspektakulär. Alles hat an dem Abend begonnen, an dem … wie soll ich sagen?«

»Nur zu.«

»An dem Tag … an dem ich mein Klavier zugeklappt habe.«

Er hatte das mit einer solchen Ernsthaftigkeit von sich gegeben, dass Jocelyne nicht umhinkonnte, laut aufzulachen.

»Sehen Sie, das ist nicht sehr nett«, erklärte Aurel und verzog verärgert das Gesicht.

»Nein, entschuldigen Sie, aber das liegt an der Art, wie Sie es sagen. Sie haben also das Klavier zugeklappt?«

»Ja, in einem Nachtclub. Es war drei Uhr morgens, und ich spielte ein Stück von Duke Ellington. Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen. Um das Klavier herum standen drei Männer, die rauchten und tranken. Und ein Mädchen, das von einem zum anderen ging. Ich sollte nicht aufhören zu spielen und so tun, als würde ich nichts bemerken. Das habe ich auch getan, aber plötzlich wurde einem der Männer schlecht und er übergab sich. Meine Geschichte ist furchtbar, entschuldigen Sie.«

»Erzählen Sie weiter, ich sehe noch nicht den Bezug zur Diplomatie.«

»Sicher«, sagte Aurel und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich fange damit an, weil es in der Folge von Bedeutung ist …«

»Verstehe.«

Am liebsten hätte Aurel mit den Schultern gezuckt. Natürlich verstand sie das nicht. Sie konnte es ja auch gar nicht verstehen. Niemand konnte es verstehen. Er verspürte plötzlich den Wunsch, die Geschichte abzukürzen.

»Das war natürlich nicht wichtig. Aber dennoch war es der Anfang von allem. Ich habe aufgehört zu spielen und mich nicht vom Fleck gerührt. Die Blicke sämtlicher Gäste waren auf mich gerichtet. Ich saß reglos da … und weinte.«

»Warum haben Sie geweint?«

»Ich weiß nicht, was in meinem Kopf vorgegangen ist. Ich war völlig entmutigt. Bis dahin hatte ich alles ertragen, ohne je die Hoffnung zu verlieren, Kommunismus, Gefängnis, Exil, Armut, Gelegenheitsjobs. Ich hatte meine Familie aus den Augen verloren und meine Heimat, so schrecklich sie auch war, verlassen – und wozu das alles? Um dort zu landen. In dieser Kloake. Verstehen Sie das, Jocelyne?«

Die Müdigkeit, seine Aufregung und der Weißwein hatten ihn dazu verleitet, Jocelyne beim Vornamen zu nennen. Wäre nicht in diesem Moment der Kellner mit dem Essen gekommen, hätte er vielleicht sogar ihre Hand ergriffen, um sein Gesicht darin zu verbergen und zu schluchzen.

»Kurzum«, fuhr er fort, und nahm sich wieder zusammen, »ich fasste den Entschluss, mein Leben zu ändern. Ich habe den Klavierdeckel zugeklappt, bin aufgestanden und gegangen. Und nie wieder zurückgekehrt, weder in diese Bar noch in eine andere. Ich habe erneut zu Hause Klavierunterricht gegeben. Für mich stand fest: Eher würde ich verhungern, als meine Ehre zu verlieren.«

»Wie alt waren Sie damals?«

»Siebenundzwanzig Jahre.«

»Und … die Diplomatie?«

»Ich hatte einfach nur Glück, dass ich auf eine Anzeige gestoßen bin. So bin ich in eine wunderbare Familie gekommen. Ich gab einem jungen Mädchen Unterricht. Ehrlich gesagt, war sie nicht mehr ganz das, was man als junges Mädchen bezeichnet. Sie war älter als ich, fast vierzig Jahre, aber sie war rein, intelligent und sensibel.«

»Auch hübsch?«

»Für mich schon. Andere hätten sie vielleicht als etwas zu füllig beschrieben, und es stimmte auch, dass sie nicht sehr auf ihre Kleidung achtete. Sie hatte Warzen am Kinn und an der Nase, die sie hätte entfernen lassen sollen. Aber solche Dinge waren ihr nicht wichtig. Und mir auch nicht.«

»Haben Sie um ihre Hand angehalten?«

»Ich? Das hätte ich nie gewagt. In meinen Augen war sie so erhaben, so unerreichbar …«

»Und dann?«

»Eines Tages hat mich ihr Vater nach dem Unterricht beiseitegenommen. Er hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte …, seine Tochter zu heiraten. Ich war völlig verwirrt.«

»Hatten Sie damals keine Freundin?«

»Nie!«, rief Aurel aus.

»Und in Rumänien?«

»Oh, dort habe ich ein paar schlechte Erfahrungen gemacht. Wissen Sie, für mich sind Frauen übernatürliche und unendlich kostbare Wesen. Meine Mutter und meine Großmutter waren meine Leitbilder. Sie waren stets die treibenden Kräfte der Familie. Die ganze Last ruhte auf ihren Schultern, und ich glaubte, es wäre überall auf der Welt so, dass sich alles um diese Atome voller Anmut und Güte dreht, die die Frauen nun einmal sind.«

»Glauben Sie das noch immer?«

»Leider musste ich begreifen, dass die Welt so nicht ist. Ich weiß, dass außergewöhnliche Frauen selten sind. Aber ich suche weiter nach ihnen, und es finden sich auch welche.«

Da er erneut Gefahr lief, dass Jocelyne seine Worte als zu eindeutige Anspielung auffassen könnte, wurde er unsicher und fuhr schnell mit rauer Stimme fort.

»Mein zukünftiger Schwiegervater war Diplomat. Er war zwar gerade in den Ruhestand gegangen, hatte aber noch viele Beziehungen zum Außenministerium. Er sagte mir, sobald ich seine Tochter geheiratet hätte, würde er sich darum kümmern, dass ich schnell die französische Staatsangehörigkeit bekäme. Danach müsste ich an einem kleinen Auswahlverfahren teilnehmen, das aber reine Formsache sei. Nicht einmal drei Jahre später bekam ich meine erste Stelle in einem Konsulat.«

»Und … Ihre Frau?«

»Sie ist in Frankreich«, erwiderte er mürrisch.

»Kommt sie nicht mit, wenn Sie versetzt werden?«

Aurel führte die Gabel zum Mund, kaute würdevoll und tupfte sich danach die Lippen mit der Serviette ab.

»Es würde zu lange dauern, das zu erklären. Wenn man so will, haben wir nie wirklich zusammengelebt. Wir sind zwei sehr verschiedene Persönlichkeiten. Für sie kam die Eheschließung spät. Es war der Wunsch ihrer Eltern, aber sie wollte lieber ihre einsiedlerischen Gewohnheiten beibehalten. Und die Dienststellen, an die ich versetzt wurde, waren für sie nicht besonders attraktiv. Die erste war in der nigerianischen Sahara, in Zinder, genauer gesagt. Ich weiß nicht, ob Ihnen das etwas sagt.«

»Nein.«

»Nun, dann möchte ich mir erlauben, Ihnen zu raten, niemals einen Fuß dorthin zu setzen. Sonne und Staub, erdrückende Hitze, und jetzt auch noch Terroristen …«

»Sind Sie geschieden?«

»Ja.«

Aurel seufzte. Eine ganze Weile aßen sie schweigend ihren Zackenbarsch und hingen ihren Gedanken nach. Jocelyne hielt es für unmenschlich, das Gespräch fortzuführen, und wechselte das Thema.

»Was sagen uns die neuesten Informationen über den Tod meines Bruders? Wenn das Mädchen die Wahrheit sagt, dann war vor ihr jemand anderes dort. Wer könnte das gewesen sein?«

»Ihr Bruder hatte Angst, das habe ich Ihnen ja gesagt. Er befürchtete eine Gefahr von außen. Das wirft die Frage auf, warum er an diesem Ort blieb. Außer, er wäre überall in Gefahr gewesen – das würde die Überwachungsvorrichtung erklären, die er im Rumpf hatte anbringen lassen.«

»Was vermuten Sie?«

»Wir müssen überlegen. Wir haben noch nicht genügend Anhaltspunkte. Aber gehen wir mal davon aus, dass seine Frau das Vermögen, um das sie sich betrogen fühlte, an sich bringen wollte und ihn deshalb verfolgen ließ. Das würde ich als permanente Gefahr bezeichnen.«

»So, wie ich sie kenne, wäre das durchaus möglich«, meinte Jocelyne nachdenklich.

»Aber warum haben sich die Täter in diesem Fall nicht um den Tresor gekümmert, wenn es ihr Ziel war, an das Geld zu kommen?«

»Das ist eine berechtigte Frage. Vielleicht hatten sie nicht genügend Zeit? Vielleicht hat das Auftauchen von Mame Fatim und ihrem Freund sie gestört?«

»Aber sie hatten noch genügend Zeit, ihn am Mast aufzuhängen?«

»Das ist das unverständlichste Detail an der ganzen Geschichte.«

Sie überlegten schweigend.

»Dieser Jachthafen«, fuhr Aurel fort, »ist auch ein Umschlagplatz für Drogen. Nehmen wir einmal etwas anderes an: Ihr Bruder hätte einiges beobachtet, was nicht für seine Augen bestimmt war. Vielleicht fürchtete er Vergeltung. In diesem Milieu eliminiert man Störfaktoren schnell und skrupellos. Das würde ich als örtliche Gefahr bezeichnen.«

»Aber in diesem Fall hätte er fliehen können.«

»Die Mittelsmänner dieser Mafia sind an der ganzen Küste vertreten. Vielleicht war er in diesem Jachthafen, den er kannte, sicherer als auf dem offenen Meer oder in einem ihm unbekannten Hafen.«

»Was haben Sie jetzt vor?«

»Weitersuchen«, erklärte Aurel.

Er sah auf die Uhr.

»Im Übrigen muss ich jetzt zurück zur Botschaft. Mein Assistent hat vermutlich neue Erkenntnisse gesammelt. Anschließend muss ich zum Diner der Ehrenlegion.«

»Sie lassen mich also im Stich?«

Aurel errötete bis über beide Ohren. Jocelyne amüsierte sich innerlich. Es war so einfach, ihn aus der Fassung zu bringen.