C ortegiani kam zurück. Er hatte sich wohl das Gesicht mit Wasser benetzt, denn er wirkte ein wenig wacher. Jocelyne hatte ihm nachgeschenkt und bestand darauf, dass er das Glas leerte.
Aurel spielte mit noch größerer Hingabe Klavier. Er sang eine seiner eigenen Kompositionen. Die Musik ähnelte einem ungarischen Walzer, der Text war ohne Sinn und Verstand.
Der Zöllner ließ sich aufs Sofa fallen. Jocelyne fragte sich, in was sie hineingeraten war. Doch offenbar war es jetzt an der Zeit, in Aktion zu treten.
»Können Sie Klavier spielen, Cortegiani?«, begann Aurel.
»Äh, was, ich?«
»Ja, Klavier?«
»Nein, nein«, sagte der Zollbeamte und schüttelte abwehrend den Arm, als hätte ihm ein Straßenhändler eine Ware angeboten, die er nicht haben wollte.
»Ich bin mir aber sicher, dass Sie es können. Es ist ganz einfach, sehen Sie her.«
Aurel ließ seine Finger über die Tastatur gleiten und wiederholte einen einfachen Akkord in verschiedenen Oktaven.
»Setzen Sie sich zu mir. Ich werde es Ihnen zeigen.«
»Nein, nein. Das ist schon in Ordnung so, danke.«
»O doch! Monsieur Cortegiani, bitte, na kommen Sie schon«, drängte nun Jocelyne auf Aurels Zeichen hin.
Der Zöllner hatte Mühe, einer Dame etwas abzuschlagen. Als Jocelyne ihn am Arm nahm, hatte er nicht die Kraft, sich zu widersetzen. Um zu zeigen, dass er das alles nicht besonders ernst nahm, stand er kichernd auf und setzte sich auf die breite Klavierbank, allerdings mit einigem Abstand zu Aurel.
»Und nun, was jetzt?«
»Wir werden ›Rock Around The Clock‹ spielen. Kennen Sie den Song? Sie haben dazu sicher in Ihrer Jugend getanzt.«
Aurel spielte die Melodie in rasantem Tempo mit seiner rechten Hand.
»Gut, gut.«
»Sie übernehmen den Bass und geben damit den Rhythmus vor.«
Er spielte mit der linken Hand einen Akkord, dann schlug er ihn gleich noch einmal an, als ob er dazu im Takt mitklatschen würde. Cortegiani zuckte mit den Achseln.
»Wie soll ich denn …«
»Legen Sie Ihre Hände auf die Tastatur, und zwar alle beide. Ja, genau so. Schauen Sie, mit den Fingern greifen Sie nun diese beiden weißen Tasten und diese schwarze.«
Cortegiani ließ ihn gewähren, während Aurel seine Finger auf die entsprechenden Tasten legte.
»Versuchen Sie nun, sie im Rhythmus anzuschlagen.«
Wie durch ein Wunder ertönten aus dem Klavier die Bässe von »Rock Around The Clock«.
»Machen Sie einfach weiter. Auch mit der anderen Hand. Ja! Ja!«
Vor diesem tiefen Hintergrund ließ Aurel die Melodie des Songs erklingen. Das Ganze hörte sich schon recht passabel an. Cortegiani lachte wie ein Kind.
»Sehen Sie? Sehen Sie? Sie sind begabt, mein Lieber. Los, noch einmal.«
Diesmal schien der Zöllner überzeugter. Er richtete sich auf und legte seine Hände flach auf die Tasten. Aurel warf Jocelyne einen Blick zu, der von einer solchen Kälte war, dass sie erstarrte. Dann ging alles blitzschnell.
In dem Moment, als Cortegiani erwartete, dass Aurel wieder zu spielen beginnen würde, sprang dieser mit einem Satz auf. Abrupt schlug er den Klavierdeckel zu, der wie eine hölzerne Guillotine auf die Hände des Zöllners heruntersauste. Dann hüpfte Aurel mit einem Satz und seinem ganzen Gewicht auf die Abdeckung. Cortegiani brüllte wie am Spieß.
»Was zum Teufel …?«, entfuhr es Jocelyne überrascht.
»Lassen Sie mich nur machen. Sie rühren sich nicht vom Fleck.«
Aurels Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Mit einem dämonischen Grinsen und funkelnden Augen beugte er sich zum Zöllner hinunter.
»Hat er dich an seinem letzten Tag angerufen?«
Der Schmerz war so stark, dass Cortegiani, dessen Hände noch immer im Klavier klemmten, ohnmächtig zu werden drohte und in sich zusammensackte. Aurel federte unbarmherzig auf dem Deckel auf und ab, um den Druck des hölzernen Kiefers zu erhöhen und den Mann wieder wachzurütteln.
»Ich habe dir eine Frage gestellt. Hat Mayères dich am Tag seines Todes angerufen?«
»Mayères?«
»Ja, Mayères.«
»Ich … ich … lassen Sie … meine Hände … Ah! Ah! Ich flehe Sie an …«
Als die Benommenheit von ihm abfiel, kam der Schmerz zurück, der unerträglich wurde und ihm entsetzliche Schreie entlockte.
»Ja oder nein?«
»Ah! Ah! Meine Hände …«
Zur Ermutigung machte Aurel erneut einen kleinen Satz auf dem Klavierdeckel.
»Ja … Ja … Hören Sie auf. Ah!«
»Und du wusstest, warum er dich anrief, oder?«
»Ja, das wusste ich. Ah! Ah! Meine Hände.«
»Und du hast ihn nicht zurückgerufen.«
»Nein. Ah!«
»Jocelyne, durchsuchen Sie seine Taschen. Sehen Sie nach, ob er eine Waffe dabeihat, und nehmen Sie sein Handy an sich.«
Als Jocelyne ihren Namen hörte, kam sie wieder zu sich. Sie beobachtete das Geschehen mit Schrecken, aber auch fasziniert. Alles war so plötzlich, so unerwartet, so brutal, dass es ihr unwirklich erschien.
»Seine Taschen«, stammelte sie, als sie sich gefangen hatte. »Ja, in Ordnung.«
Sie tastete das Hemd des Zöllners an der Brust ab, unter den Achseln und am Rücken bis zur Taille.
»Er ist nicht bewaffnet.«
»Sieh an«, sagte Aurel etwas enttäuscht. »Das hätte ich eigentlich vermutet. Aber stimmt, wir sind ja außerhalb der Dienstzeit … Und das Handy?«
»Er hat keins dabei.«
»Sehen Sie in seiner Jacke nach. Sie hängt in der Diele.«
Jocelyne ging zum Eingang, durchsuchte seine Garderobe und kam mit einem schwarzen Handy zurück, das in einer stark abgenutzten Hülle aus Lederimitat steckte.
»Das Passwort?«
Cortegiani war ganz auf seinen Schmerz konzentriert. Er bewegte sich so wenig wie möglich, um ihn in Schach zu halten. Aurel musste nicht einmal mehr auf dem Klavierdeckel herumhüpfen, die geringste Bewegung seines Gesäßes übte Druck auf die zerquetschten Fingerknöchel seines Gefangenen aus und entlockte ihm Schmerzensschreie.
»Das Passwort?«, wiederholte er.
»Scotch12.«
»Einfach so? Nicht einmal eine Marke?«, amüsierte sich Aurel.
Er hatte das Handy eingeschaltet und gab das Passwort ein. Auf dem Bildschirm erschien die Startseite.
»Perfekt. Du hast daran gedacht, Mayères’ Handy verschwinden zu lassen, aber du hast nicht im Traum daran gedacht, dass jemand sich dein Handy ansehen könnte … Schauen wir uns mal die Anrufliste genauer an. Es ist merkwürdig, aber niemand denkt je daran, diese Seite zu löschen. Manchmal irrt man sich eben … Hier ist es, der Tag, an dem Mayères starb. Oh, là, là, ziemlich viele Anrufe. Jocelyne, haben Sie die Nummer von Jacques? Nein, nicht nötig. Sein Name ist unter den Kontakten.«
Dann, an den Zöllner gewandt:
»Natürlich, ihr kanntet euch wegen der Treffen im Ancien Cercle …«
Cortegiani reagierte nicht mehr. Jocelyne fragte sich, ob die ganze Aufregung womöglich eine Herzattacke bei ihm ausgelöst hatte.
»Aurel, Vorsicht! Es scheint ihm nicht gut zu gehen.«
»Wem? Unserem Zöllner? Ach was!«
Doch er warf einen prüfenden Blick auf sein Gesicht und bemerkte die beunruhigenden Anzeichen.
»Gut, dann wollen wir ihn mal befreien, wenn Sie sich so für ihn einsetzen. Er kommt ohnehin nicht weit in seinem Zustand.«
Aurel hüpfte vom Klavier und klappte den Deckel hoch. Cortegiani nahm seine Hände von der Tastatur. Sie waren deformiert und blau angelaufen. An den unteren Fingergliedern der rechten Hand hatte die Kupferplatte des Schlosses Einschnitte verursacht, die bluteten.
Cortegiani hob seine Hände ans Gesicht. Entsetzt riss er die Augen auf und begann zu schluchzen.
»Jetzt«, sagte Jocelyne, wobei sie Aurel direkt in die Augen sah, »wäre es allmählich an der Zeit, dass Sie mir alles erklären.«
»Wir werden Ihnen alles erklären«, entgegnete Aurel, während er sich ein Glas Wein einschenkte.
Gierig trank er es aus. Während der gesamten Aktion hatte er sich bemüht, nüchtern zu bleiben. Nun fiel die Anspannung ein wenig von ihm ab. Er machte es sich in einem der Sessel bequem und schlug die Beine übereinander. Jocelyne kauerte auf der Sofakante, während Cortegiani auf der Klavierbank in sich zusammengesunken war, und noch immer schluchzend seine Hände betrachtete.
»Ich habe mich in Ihrem Bruder geirrt, glauben Sie mir. Ich dachte, er hätte Angst. Falsch! Erst an seinem letzten Tag hatte er Angst. Und er flehte meinen hier anwesenden Musikschüler um Hilfe an …«
»Seien Sie nicht zynisch, Aurel!«
»Sie haben recht. Entschuldigen Sie bitte.«
Er richtete sich in seinem Sessel auf und beugte sich zu Jocelyne vor.
»Ihr Bruder war ein Held, Madame. Zumindest wollte er einer sein. Das haben Sie mir selbst gesagt. Ich habe Ihnen nicht genau genug zugehört.«
»Unser älterer Bruder war der Held. Nicht Jacques, soweit ich weiß.«
»Weil er es nicht konnte. Weil er das Familienunternehmen übernehmen musste, weil er eine Frau geheiratet hat, die ihn bis zum Umfallen schuften ließ. Aber selbst das war der Beweis seines Opferwillens.«
»Dessen bin ich mir durchaus bewusst.«
»Nur, dass der Märtyrer im Geschäftsleben eben kein Märtyrer ist. Ihrem älteren Bruder hat man eine Kugel in den Helm gejagt. Während Jacques’ einzige Strafe darin bestand, Geld zu verdienen. Viel Geld. Immer mehr Geld. Das kann zwar den Ehrgeiz befriedigen, aber nicht die Sehnsucht nach Heldentum.«
»In diesem Fall hätte er sein Leben schon viel früher ändern müssen. Warum sechsundsechzig Jahre warten?«
»Er hätte es wahrscheinlich auch schon früher getan. Aber da war seine Tochter. Ein weiteres Martyrium. Ein weiteres Opfer. Wie soll man sein Verhalten ihr gegenüber charakterisieren? Ich habe die Briefe gelesen, die er ihr schickte. Er begleitete sie bis zum bitteren Ende. Und ich behaupte, dass er ein Held war.«
»Gewiss.«
Aurel hob den Zeigefinger, als wolle er Einspruch erheben.
»Außer! Außer, dass dieser Kampf nicht sein eigener war, sondern der seiner Tochter. Er war vielleicht ein Held, aber seine Tochter ist dennoch gestorben.«
»Man muss nicht sterben, um ein Held zu sein.«
»Nein. Aber versetzen Sie sich mal in seine Lage. Er hat gekämpft und war nicht imstande, sein Kind zu retten. Er hat einen unglaublichen Hass gegen all diejenigen aufgebaut, die ihm seine Tochter genommen haben: die Freunde, die Drogenabhängigen, die Dealer. Vor allem die Dealer. Dann hat er sich gesagt: ›Es ist an der Zeit, einen echten Kampf zu führen. Wie damals mein Bruder. Schluss mit dem falschen Schein, dem Unternehmen, den Geschäften, Schluss mit allem; keine Stellvertreterkämpfe mehr im Schatten meiner Tochter. Ich gehe einfach hin und engagiere mich.‹«
»Aber wohin?«
»Genau das ist das Problem. In der Welt, in der er bis dahin gelebt hatte, konnte er nicht den Kampf finden, auf den er sich einlassen wollte. Meines Wissens war er noch nie mit Dealern oder Drogenhändlern in Kontakt gekommen. Und die Kleinkriminellen, die seine Tochter versorgten, waren für ihn lächerliche Zielscheiben … wenn er sie überhaupt gekannt hat. Er musste weggehen, weit weg und von oben angreifen. Da kam ihm der Gedanke mit dem Schiff.«
»Sie glauben also nicht, dass er losgefahren ist, um sein Leben zu genießen, wie er es seinen Freunden erzählt hat?«
»Haben Sie ihm diese Geschichte abgekauft? Erinnern Sie sich, als Sie zum Jachthafen gegangen sind, sagten Sie mir: ›Es ist merkwürdig, dass Jacques so lange an einem solchen Ort geblieben ist. Wie hat er diesen Müßiggang nur ausgehalten?‹ Er war nicht der Mann, der von Untätigkeit und Ruhe träumte. Nicht der Typ, der unter Kokospalmen faulenzen wollte.«
»Ihrer Ansicht nach kam er also in einer bestimmten Absicht hierher?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht hat er sich über den Drogenhandel und seine Schifffahrtsrouten informiert. Vielleicht hat er auch erst hier vor Ort zufällig vom Ruf des Jachthafens erfahren. Tatsache ist: Als er begriff, wo er gelandet war, ist er geblieben, um sich für die Sache zu engagieren. Und dabei ist er der hier anwesenden Person begegnet.«
Cortegiani saß noch immer regungslos da. Er hatte seine Hände auf die Knie gelegt und war in sich zusammengesunken, als wollte er sich auf diese Weise von der Welt abschotten, seine Schmerzen vergessen. Aurel wandte sich an ihn:
»Und er wird uns erzählen, wie es weiterging.«
Der Zöllner zuckte zusammen und verzog das Gesicht.
»Ihr Bruder«, fuhr Aurel fort, »hat viele Kontakte geknüpft, um den richtigen Gesprächspartner zu finden. Die Saufkumpane aus dem Jachthafen konnten ihm nicht recht weiterhelfen. Also trat er dem Ancien Cercle bei und nahm an den Treffen der Mitgliedervereinigung des nationalen Verdienstordens teil. Dort versammelte sich eine ganze Schar von Würdenträgern, unter denen sich viele Militärangehörige, Polizisten und Geheimagenten befanden.«
Dann sah er den Zöllner durchdringend an und erkundigte sich:
»Ist er auf dich zugekommen, oder hast du ihn angesprochen?«
Cortegiani brauchte eine Weile, bis er verstand, dass die Frage an ihn gerichtet war.
»Ich war es.«
»Natürlich konntest du dir eine solche Perle nicht entgehen lassen. Wie ist es passiert?«
Der Zollbeamte schnitt eine Grimasse, als ob diese Befragung ihm unangenehm wäre und er sich ausschließlich auf seine malträtierten Finger konzentrieren wollte.
»Wie ist es passiert?«, schrie Aurel.
»Er hatte Marcelly von seiner Tochter erzählt.«
»Lauter!«
»Mayères hatte Marcelly sein Herz ausgeschüttet und ihm vom Tod seiner Tochter erzählt.«
»Und der alte Anwalt hat es dir weiterzählt. Er beschafft dir sozusagen neue Kunden …«
»So in etwa.«
»Du bist also zu Mayères gegangen …«
»Zuerst hat er seinen Vortrag über den Algerienkrieg gehalten.«
»Warst du dort?«
»Ja. Seine Augen leuchteten, als er vom Heldentum in der Armee sprach, und von seinem Bruder, der durch eine Kugel starb, all das …«
»Gut, wir haben verstanden. Ein Kinderspiel: Man kann dir nicht einmal vorwerfen, dass du dir keine Mühe gegeben hast, ihn anzuwerben. Er hat sich von ganz allein in die Höhle des Löwen vorgewagt.«
»Genau«, bestätigte der Zollbeamte. »Und ich weiß wirklich nicht, was man mir vorwerfen könnte …«
Das kurze Aufbegehren hatte ihn erschöpft. Er sackte wieder in sich zusammen, und zwei Tränen liefen über sein Gesicht.
»Wir werfen dir im Moment gar nichts vor. Wir hören dir zu. Und was geschah dann?«
Cortegiani seufzte verzweifelt. Er wollte nur eins: dass man ihn in Ruhe ließ, doch er begriff, dass das nicht Aurels Absicht war.
»Dann«, fuhr er mit schwacher Stimme fort, »brauchten wir jemanden, der die Schiffe im Jachthafen im Auge behielt.«
»Arbeitet Ravigot, der Wirt des Clubhauses und Chef des Jachthafens, nicht schon für dich?«
»Ja, aber von seiner Terrasse aus kann man nicht das gesamte Hafenbecken überblicken. Außerdem ist er nachts betrunken. Und dann schläft er ein.«
»Während Mayères ein braver kleiner Soldat war, nehme ich an. Hast du ihm gesagt, dass er ein Bullauge in seinen Rumpf bohren lassen soll?«
»Ja.«
»Und wozu?«
»Um die Schiffsbewegungen im Jachthafen zu beobachten.«
»Er verfügte über Ferngläser, Kameras, Mikros?«
»Wir besorgten ihm alles, was nötig war.«
»Und konnte er auch in der Nacht den Hafen oberservieren?«
»Er hatte eine Infrarot-Ausrüstung.«
»Seltsam, man hat nichts an Bord gefunden.«
»Ich habe alles entfernt, als ich nach seinem Tod aufs Schiff kam.«
»Sieh mal einer an. Und du hast auch sein Handy an dich genommen?«
»Ich habe es hinter einer Truhe in der Nähe des Masts gefunden, also …«
»Also hast du aufgeräumt. Du magst es offensichtlich nicht, wenn Dinge herumliegen. Ich sehe schon.«
Aurel erhob sich, und Cortegiani zuckte unwillkürlich zurück.
»Sei unbesorgt. Ich werde dich nicht schlagen«, sagte Aurel mit einem höhnischen Lachen.
Er ging zu dem roten Vorhang, den er angebracht hatte, und zog ihn herunter. Die beiden Collagen erschienen: Mayères in seinem familiären Netz und Mayères auf seinem Schiff mitten im Jachthafen.
»Wirklich, Aurel, das haben Sie gut gemacht!«
Jocelyne war ebenfalls aufgestanden, und während sie sich der Wand näherte, las sie die Zettel, die Aurel angeheftet hatte.
»Nur mich haben Sie bei der Familie vergessen.«
Er wurde unsicher und errötete.
»Das war nur ein Scherz. Fahren Sie fort.«
Auf dem Weg zurück zu Cortegiani fand Aurel seine Selbstsicherheit wieder.
»Mayères fing also mit seiner kleinen Ausrüstung an, für dich zu arbeiten. Und ich nehme an, dass er tadellose Berichte abgeliefert hat.«
»Ja, er arbeitete gut.«
»Und du, du hast ihn ermutigt. Da du seine Akte kanntest, wusstest du, wie du ihn umgarnen konntest. Du sprachst über seine Tochter, von diesen Schweinen, die ganz Europa mit Kokain überschwemmen, du bestelltest Bücher über den Algerienkrieg im Internet für ihn. So machen die das«, meinte Aurel an Jocelyne gewandt. »So bezahlen sie die armen Schweine, die an vorderster Front für sie kämpfen. Gute Worte, aber keine Kohle.«
»Geld brauchte er ja keins«, protestierte Cortegiani schwach. »Davon hatte er genug in seinem Tresor.«
»Ob er es hatte oder nicht, ist hier nicht das Problem. Für euch sind diese V-Männer nur Marionetten, Vieh. Man muss nur wissen, was sie mögen, und das liefert man ihnen. Und am Ende werden sie ohnehin geopfert.«
Als Aurel in den Westen kam, wurde er kurzzeitig vom französischen Geheimdienst angeheuert. Er sollte die rumänische Diaspora ausspionieren. Auf diese Weise hatte er ausführlich Gelegenheit, ihre Methoden aus nächster Nähe zu beobachten. Anfangs war der Druck gemäßigt, doch er war rasch auf Distanz gegangen, und ab diesem Zeitpunkt änderte sich die Beziehung, das Verhältnis wurde angespannt. Er wurde bedroht, mit amtlichen Schreiben erpresst, überwacht. Der Geheimdienst ließ nicht locker. Und das blieb bis zu seiner Eheschließung und seinem Eintritt in den diplomatischen Dienst so.
»Und auf diese Weise«, fuhr er fort, »habt ihr die Cork entdeckt?«
»Ja.«
»Gib mir ein paar Details, das interessiert mich.«
Mit dem Rückfluss des Blutes in die Gefäße begannen Cortegianis Hände anzuschwellen. Durch das Ödem verfärbte sich die Haut violett, sie war prall und glänzend. Es sah aus, als hätte er zwei Boxhandschuhe an. Cortegiani starrte auf seine Hände, als würden sie nicht mehr zu ihm gehören.
»Details?«
Man spürte, dass ihm das Sprechen schwerfiel.
»Ja.«
»Nun, wir bekamen einen Tipp vom amerikanischen Geheimdienst. Ein Segelschiff, die Sea-Breeze, die von den Azoren kam. In Cartagena hatten die Kolumbianer das Schiff mit fünfhundert Kilo Kokain beladen. Wir verfolgten es zurück. Wenn die Dealer nach Afrika kommen, laden sie ihre Ware häufig auf ein anderes Schiff, um ihre Spuren zu verwischen.«
Cortegiani sprach langsam. Man musste ihm die Worte förmlich entlocken. Aber jedes Mal, wenn er ins Stocken geriet, richtete Aurel seinen unbarmherzigen Blick auf ihn, und Cortegiani bekam es mit der Angst zu tun.
»So etwas wird selten auf hoher See gemacht, weil es leicht zu beobachten ist, und man das Schiff anhalten und überprüfen kann. Sie operieren lieber bei Nacht in einem Hafen. Diesmal wählten sie dafür den Jachthafen von Conakry aus, der ziemlich unauffällig ist.«
»Also verluden sie dort den Stoff von der Sea-Breeze auf die Cork.«
»Ja.«
»Und Mayères hat alles gesehen. Alles fotografiert.«
»Ja.«
»Und dann?«
»Sie wissen schon, was dann geschah.«
»Ich möchte gerne, dass du es uns erzählst.«
»Wir haben einen Sender unter der Cork angebracht, und als sie in internationale Gewässer kam, haben wir sie abgefangen und ihre Ladung beschlagnahmt.«
Der Zöllner beendete seinen Satz mit einem Seufzer, als wären die letzten Worte über seine Kräfte gegangen. Jocelyne bekam Mitleid mit ihm, aber Aurel schien nicht die Absicht zu haben, es dabei zu belassen.
»Nur, dass die Cork nicht allein unterwegs war«, fauchte er.
Aurel drehte sich zu Jocelyne um, denn für sie waren ja die ganzen Erklärungen bestimmt.
»Dealer sind misstrauisch, wissen Sie. Sie gehen nicht das Risiko ein, ihre Ware einfach so jemandem anzuvertrauen. Die Schlepper könnten ja auf die Idee kommen, damit zu verschwinden. Sie setzen also immer ein oder mehrere Verfolgerboote ein. Auf den ersten Blick haben diese ›Aufpasser‹ nichts mit dem Schiff zu tun, das sie überwachen. Sie reisen getrennt, und ihre Besatzungen stehen nicht miteinander in Kontakt. Das überwachte Schiff weiß oft gar nichts von seinem ›Schutzengel‹.«
»Das war mir nicht bekannt.«
»Ihnen nicht, aber ihm schon. Na, Cortegiani, das wusstest du sehr wohl, oder?«
»Ja.«
»Ihr Bruder Jacques wusste es vermutlich auch nicht. Aber da er ein reflektierter Mann war, hat er es ganz allein herausgefunden, nicht wahr?«
»Ja.«
»Erzähl doch mal.«
Der Zöllner stöhnte.
»Das war nichts Besonderes. Er sagte lediglich, er habe ein paar Hinweise entdeckt, die ihn eine Verbindung vermuten ließen.«
»Eine Verbindung zwischen der Cork und einem südafrikanischen Segelschiff mit dem Namen …? Na, wird’s bald?«
»Good Hope.«
»Gerade noch rechtzeitig«, sagte Aurel und klopfte dem Zöllner auf die Schulter.
Diese kleine Geste entlockte ihm ein gequältes Grinsen, denn der Schmerz setzte sich bis in seine Arme fort.
»Ich fasse den Rest mal rasch zusammen, meine liebe Jocelyne, damit Sie verstehen, worauf ich hinauswill. Die Schmuggler haben durch die Beschlagnahmung der Cork viel Geld verloren. Sie haben vermutlich ihre eigenen Nachforschungen angestellt, um herauszufinden, warum ihre Operation aufgeflogen ist. Ich weiß nicht, wie sie vorgegangen sind, aber sie fanden schnell heraus, wer dafür verantwortlich war: die Tlemcen und ihr Skipper.«
»Und sie beschlossen, ihn zu eliminieren …«
»Sie wollten ihn nicht nur eliminieren, sondern auch jeden eventuellen Nachahmer abschrecken. Die Idee dahinter war, ihn auf derart spektakuläre Weise zu beseitigen, dass all jene gewarnt waren, die es ihm gleichtun wollten.«
»Daher die Idee mit dem Mast.«
»Genau.«
Jocelyne und Aurel sahen hinüber zur Wand und betrachteten gemeinsam Mayères’ Foto.
»Armer Jacques«, sagte seine Schwester.
Ihr schien plötzlich bewusst zu werden, dass es ihr Bruder war, den man auf so grausame und entwürdigende Art behandelt hatte.
»Vor allem, als er begriff, was ihm bevorstand.«
»Sie meinen, er wusste, dass man ihn umbringen würde?«
Aurel deutete eine Verbeugung vor dem Zöllner an.
»Da zeigte unser Freund hier die ganze Größe seiner Seele. Nicht wahr, Cortegiani?«
Und zu Jocelyne gewandt:
»Ja, Jacques Mayères war klar, was passieren würde, als er die Good Hope in den Jachthafen einlaufen sah. In dem Augenblick konnte er sich genau vorstellen, was ihm bevorstand.«
»Dieses Schiff hätte doch zufällig dort vorbeikommen können, ohne etwas im Schilde zu führen«, wandte Jocelyne ein.
»Hätte. Da haben Sie recht. Aber schon bei der Ankunft des Schiffes erkannte Mayères, dass dem nicht so war. Zunächst einmal kam die Good Hope allein, nicht als Begleitschiff. Alle anderen, die im Jachthafen vor Anker lagen, waren schon seit Langem in Conakry. Es gab auch keinen technischen Grund für den Aufenthalt. Die Good Hope kam aus Dakar, das ganz in der Nähe liegt, und brauchte weder Lebensmittel noch Wasser oder Treibstoff. Und schauen Sie sich den Plan des Jachthafens an …«
Er trat näher an die Wand heran.
»Hier haben Sie die Schiffe, die alle, dicht beieinander, vor Anker liegen, und dort das von Mayères. Die Good Hope ist nicht neben den anderen vertäut. Sie ankerte direkt vor der Tlemcen. Schon diese Position hatte etwas Bedrohliches.«
Aurel trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten. Mit seinem Weinglas in der Hand betrachtete er es, leicht nach hinten geneigt, wie ein Kunstliebhaber auf einer Vernissage.
»Aber vor allem kannte er die Crew. Er hatte sie bei ihrem ersten Stopp in Conakry lange beobachtet. Ausspioniert, fotografiert, vielleicht sogar belauscht, wenn ihm unser Freund hier ein spezielles Mikro dafür überlassen hat. Er wusste, dass sie aus zwei Personen bestand, einem südafrikanischen Pärchen. Die beiden wurden bei ihrem ersten Aufenthalt im Hafenregister erfasst.«
»Und es waren nicht mehr dieselben Leute?«
»Doch, doch. Aber dieses Mal waren sie zu dritt. Und diese dritte Person beunruhigte ihn sehr.«
»Warum?«
»Weil dieser Mann nicht zum üblichen Erscheinungsbild auf der Good Hope passte. Bei den Leuten, die in Schmugglergeschäfte involviert sind, gibt es zwei Arten, und unsere Freunde vom Zoll wissen das. Zum einen gibt es die Mafia, die kolumbianischen Banden und die Unterwelt der Narcos. Diese halten sich im Hintergrund und ziehen die Strippen. Man bekommt sie niemals zu Gesicht. Und zum anderen gibt es diejenigen, die dazu benutzt werden, die Ware zu transportieren. Ihnen muss man blind vertrauen können. Und das traf auf die Crew der Good Hope zu: ein adrettes Pärchen, das auf seiner Hochzeitsreise die afrikanische Küste entlangsegelte.«
»Und der dritte Mann?«
»Genau, er gehörte der anderen, der gewalttätigen Welt an, die sich normalerweise im Hintergrund hält. Doch in diesem Fall ging es nicht ums Dealen, sondern um etwas anderes.«
Aurel nahm einen großen Schluck Weißwein.
»Etwas ganz anderes, ja«, fügte er hinzu und verzog dabei das Gesicht, weil das Getränk in seiner Hand warm geworden war. »Eine Exekution.«
»Kommen Sie, werden Sie etwas deutlicher. Wer war dieser dritte Mann?«
»Ich weiß es nicht genau. Alles deutet darauf hin, dass es ein Auftragskiller der kolumbianischen Narcos war. Er sah aus wie ein Indianer, war athletisch gebaut – nicht gerade der Typ, der dafür prädestiniert ist, die Rolle des Ritters für ein frischvermähltes Pärchen zu spielen.«
»Woher wissen Sie das alles?«
»Weil unsere drei Akteure einen jungen Guineer, den ich ein wenig kenne, darum gebeten haben, den Besucher vor der Abfahrt der Good Hope an Land zu bringen. Und höchstwahrscheinlich ist es derselbe Mann, der bei Einbruch der Dunkelheit zurückkam und sich die Jolle nahm, die ihn an Land gebracht hatte. Er hat gewartet, bis Mame Fatim von ihrem Freund abgeholt wurde, und hat sich dann an seine schmutzige Arbeit gemacht.«
»Aber Jacques hatte sie doch schon entdeckt, er hätte auf der Hut sein müssen.«
»Das hätte er sein sollen, aber die Kleine hatte ihm ja ein Schlafmittel in sein Getränk gemischt.«
Wieder betrachteten beide Mayères’ Foto, als ob die Tatsache, dass sie verstanden hatten, was mit ihm passiert war, ihn noch retten könnte.
»Der arme Kerl muss ganz erschöpft gewesen sein. Die Good Hope ankerte dort schon seit zwei Tagen, und seitdem hatte er keine ruhige Minute mehr. Er beobachtete sie Tag und Nacht. Und er bat um Hilfe. Auf Cortegianis Handy habe ich wenigstens dreißig Anrufe gezählt.«
»Aber was genau wollte er?«
»Geben Sie mir bitte das Handy. Wie war das Passwort noch mal? Ach ja. Scotch12. Lassen Sie mal sehen. Vielleicht hat er die Nachrichten nicht gelöscht. Ich frage mich, ob der hier anwesende Monsieur es möglicherweise sogar richtig genossen hat, solche Anrufe zu bekommen. Vielleicht behält er sie deshalb, damit er sie sich immer wieder anhören kann. Was, Cortegiani?«
Doch der Zöllner, der auf der Klavierbank kauerte, sagte nichts.
»Bitte sehr. Was habe ich Ihnen gesagt? Die Anrufe auf der Mailbox sind noch da. Na, dann wollen wir doch mal sehen.«
Aurel schaltete den Lautsprecher ein und betätigte die Wiedergabetaste. Das Besetztzeichen ertönte.
»Schade. Ohne Text. Der arme Mayères hat wohl nicht jedes Mal eine Sprachnachricht hinterlassen. Versuchen wir es mit einer anderen.«
Es folgten drei weitere Anrufe ohne Text. Schließlich, bei der fünften Nachricht, ertönte die Stimme von Jacques Mayères und füllte den Raum. Alle sahen unwillkürlich zum Foto hinüber.
»Max, ich bin’s. Schon wieder. Ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen. Unbedingt, hören Sie. Sie führen etwas Schlimmes im Schilde. Ich behalte sie im Auge, aber ich kann nicht vierundzwanzig Stunden am Tag auf der Lauer liegen. Sie haben mich enttarnt. Da bin ich mir sicher. Es sind die Gleichen wie damals auf der Cork.«
»Ziemlich unmissverständlich, oder?«, meinte Aurel, als die Nachricht endete. »Hören wir eine andere.«
Er suchte und drückte aufs Geratewohl.
»Der Indianer beobachtet mich mit einem Fernglas. Er hat sich in einer der Kabinen versteckt, aber ein Bullauge geöffnet, und ich kann ihn sehen. Ich weiß nicht, was ich mit der Kleinen machen soll. Solange sie an Bord ist, denke ich, werden sie nichts versuchen. Aber heute Nacht? Ich will ihr dieses Risiko nicht zumuten. Rufen Sie mich zurück, Max, bitte.«
»Heißt du so, Max? Ihr seid ja sehr originell beim Zoll. Noch eine weitere Nachricht?«
Aurel schaltete die Mailbox wieder ein. Es musste eine der letzten Nachrichten sein. Mayères’ Stimme klang gedämpft – vor Erschöpfung, oder weil er fürchtete, dass man ihn in der Stille der Nacht hörte?
»Sie rufen mich nicht zurück, Max. Ich weiß nicht, was los ist, aber ich glaube, ich verstehe. Es stimmt, ich habe diese Mission aus freien Stücken angenommen, und ich werde sie bis zum Ende durchziehen. Wenn sie angreifen, bin ich bereit. Meine Pistole ist geladen. Ehe sie mich kriegen, werde ich noch die Zeit haben, ihnen ein bisschen wehzutun … Adieu, Max. Ich danke Ihnen. Sie haben mir die Gelegenheit gegeben, viele Rechnungen zu begleichen.«
Die Nachricht war gegen Ende fast nicht mehr zu verstehen. Jocelyne weinte. Es war, als hätte sich Jacques Mayères für einen Moment mitten unter ihnen befunden, lebendig, würdevoll, zum Tode verurteilt, aber vielleicht glücklich.
»Er wartete auf seinen Mörder … Der Arme konnte nicht wissen, dass Mame Fatim glaubte, das Richtige zu tun, als sie ihm ein Schlafmittel gab. Letztendlich kam es nicht zum Kampf.«
Jocelyne trocknete ihre Tränen und richtete sich auf.
»Er hat gesagt: ›Ich glaube, ich verstehe.‹ Was hat er verstanden? Was gibt es da zu verstehen?«
»Er hat verstanden, warum ›Max‹ nie zurückgerufen hat. Aber das wird er Ihnen selbst sagen.«
Cortegiani bekam es mit der Angst zu tun, als Aurel auf ihn zukam. Reflexartig zog er die Hände weg.
»Er wird es uns sagen, weil er nichts mehr vor uns zu verbergen hat. Daher können wir uns auch gleich seine Erklärungen anhören, wenn nicht sogar seine Entschuldigungen. Was, Zöllner?«
»Ich konnte nicht anders.«
»Aber wieso das?«
»Für die Guineer war nie etwas vorgefallen. Wenn ich ihnen gestanden hätte, dass ich dort einen Spion sitzen hatte, hätten sie offiziell protestiert. Unsere Akkreditierungen laufen aus. Haben Sie die Debatte in der Presse verfolgt? Sie sind empfindlich, was ihre nationale Souveränität angeht. Sie hätten sehr gut meine Legitimierung nicht verlängern können, ebenso wie die meiner Kollegen. Und unsere ganzen Maßnahmen wären umsonst gewesen.«
»Sie hätten jemanden schicken können, der Jacques auf seinem Schiff unterstützt. Oder ihn für ein paar Tage in Sicherheit bringen können.«
»Mayères war aufgeflogen. Jeder, der gekommen wäre, um ihm zu helfen, wäre ins Fadenkreuz der Narcos geraten. Wenn sie jemanden aufgespürt haben, lassen sie nicht locker.«
»Du wolltest also keinen anderen Agenten opfern, um den Agenten zu retten, der schon geliefert war.«
»Und die Polizei?«, fragte Jocelyne.
»Das ist eine andere Behörde«, warf Cortegiani mit einem Anflug von Würde ein.
»Komm mir jetzt bloß nicht mit den Kompetenzstreitereien der Dienststellen, ich bitte dich. Wie sagtest du neulich so schön im Ancien Cercle? Die Zöllner picken sich in der Schachtel die Zigarette heraus, die sie brauchen … Wenn du die Polizei hättest einschalten wollen, hättest du es tun können.«
»Und warum hat er es nicht getan?«, fragte Jocelyne, die anfing, den Zöllner nun mit ganz anderen Augen zu sehen.
Ihr Mitgefühl wurde nach und nach von Verachtung und Groll verdrängt.
»Er wird es Ihnen nicht sagen, aber es ist sehr einfach. Entsetzlich einfach: Er brauchte Ihren Bruder nicht mehr. Wenn ein Agent enttarnt wird, ist er nutzlos, ja sogar gefährlich. Es ist besser, wenn er verschwindet.«
»Und?«, fauchte plötzlich Cortegiani. »Ja, so ist es, das sind nun mal die Spielregeln. Glauben Sie, wir haben es in diesem Metier mit Chorknaben zu tun? Wir kämpfen gegen Kriminelle, die jederzeit zu töten bereit sind. Wir machen die Drecksarbeit. Aber sie ist notwendig. Mayères hatte das verstanden. Er hatte die Vereinbarung in voller Kenntnis der Sachlage getroffen. Sie haben es selbst gesagt: Er war jemand, der bereit war, sich aufzuopfern.«
»Also hast du ihm das Opfer frei Haus geliefert? Was bist du doch für eine gute Seele!«
Aurel zuckte mit den Achseln.
»Wir werden nicht weiter diskutieren. Du machst das mit deinem Gewissen aus, und wenn es ruhig bleibt, umso besser für dich.«
»Was werden Sie tun?«
»Kommissar Dupertuis anrufen. Und du wirst ihm das alles schön erklären.«
Cortegiani machte ein betretenes Gesicht. Als sich seine offenen Wunden mit stechendem Schmerz meldeten, verzog er es zu einer Grimasse.
»Und meine Hände?«, fragte er.
»Ich werde Doktor Poubeau kommen lassen. Er ist ein alter Freund des Hauses. Wenn ich ihn darum bitte, wird er die Angelegenheit diskret behandeln. Und ich denke, du möchtest nicht, dass wir die ganze Sache publik machen. Oder irre ich mich da?«