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E
in Gesicht am Ende des Betts. Blond. Eine junge Frau – in den Zwanzigern. Sie sah aus, wie er sich fühlte – verwirrt und aschfahl. Ihre Augen füllten sich mit Panik. Sie sah sich erst um, ihr Kopf ruckte, dann entdeckte sie ihn, und sie duckte sich gleich wieder vor Überraschung.
»Hallo«, versuchte er zu sagen. Seine Stimme knarrte und ächzte, es klang eher wie eine Drohung, nicht wie eine Begrüßung. Er probierte es noch einmal. »Hallo.«
Die junge Frau tauchte wieder auf – nur ihre Augen. Ihr Blick huschte zu den Handschellen. Jetzt wirkte sie noch verwirrter. Aber, he, er würde ja nicht abhauen können, das half vielleicht, damit sie den Kopf wieder hob.
»Was …? Was ist hier los? Wo bin ich?« Sie klang kleinlaut und ängstlich. »Was haben Sie mit mir gemacht?«
Entsetzt sah er sie an. »Ich bin gerade erst aufgewacht, genau wie Sie.« Zur Bestätigung klapperte er mit den Handschellen. Das funktionierte. In ihrer Miene war jetzt etwas Neues – Verstehen. Kurz sahen sie sich an und teilten ihre Angst.
Noch mehr Bewegung neben ihr auf dem Boden, ihr Blick ging nach unten. Er konnte nichts erkennen. Aber was sie sah, ließ sie aufspringen und zurückweichen. Mit der Hüfte stieß sie gegen den Tisch, die aufgeschlagene Speisekarte stürzte um. Sie schrie kurz auf.
Jetzt konnte er sie deutlicher sehen. Jeans. Hellgelber Sweater. Eine ganz gewöhnliche junge Frau. Er bemerkte, dass sie etwas an der linken Brust hatte. Irgendeinen Sticker. »Es sind noch mehr hier«, japste sie.
»Ich weiß.« Das Reden fiel ihm immer leichter, als wäre er ein Motor, der allmählich warm wurde. »Wie viele?«
»Ich weiß … ich kann nicht …«
»Ich muss wissen, wie viele es sind.« Warum? Warum war ihm das wichtig? Vielleicht, weil jede weitere Person alles noch schlimmer machte.
Als sie seine Stimme hörte – seine volle Stimme –, musste das etwas bei ihr wachrufen. Sie sah ihn an – mit weit aufgerissenen Augen. Dieser Blick begegnete ihm fast täglich.
»Einen Moment«, sagte sie. »Sind Sie nicht …? Kenne ich …?«
Kenne ich Sie nicht?
Das würde alles nur verzögern. Er war schon immer jemand gewesen, der nicht unbedingt auffiel – man erkannte ihn nicht gleich auf den ersten Blick, man musste schon zweimal hinsehen.
»Sie sind …«
»Ja, ja.« Sonst genoss er das. Aber nicht jetzt. »Wie viele?«
»O Gott … vier. Ein Mädchen. Zwei Männer. Und eine Frau. Ich weiß nicht, ob sie …«
»Atmen sie?«
»Ich glaube schon. Sie bewegen sich … jedenfalls die Frau und das Mädchen. Ich will es nicht nachprüfen.«
»Nein, nein, Sie müssen zur Tür gehen, okay?« Er verlor wieder ihre Aufmerksamkeit – sie schüttelte hektisch den Kopf. Hysterie – der Feind jeden Fortschritts. Er atmete tief ein. »Gehen Sie raus. Gehen Sie und holen Sie Hilfe. Sie müssen Hilfe holen, okay?«
»Was ist das?«, fragte sie. Ihr Blick streifte unruhig über den Boden. Er war froh, dass er es nicht sehen konnte.
»Ich weiß es nicht – aber, bitte, zur Tür.« Beinahe flehte er sie an.
Ich bin schon sehr gespannt, was Sie als Nächstes tun.
Die junge Frau hob den Kopf und sah nicht mehr auf den Boden. Sie verließ sein Blickfeld in Richtung Vorraum. Sie musste die Tür gesehen haben. In dieser Hinsicht hatte er sich also nicht getäuscht. Natürlich nicht. Zweimal wich die junge Frau mit übertriebenen Bewegungen einem Hindernis aus. Sie ging um die anderen herum. Er hatte sie nicht sehen und damit auch nicht wissen können, wo sie lagen.
Er zerrte an den Handschellen, rückte diesmal vor und verrenkte den Hals, konnte sie aber nicht mehr sehen. Dann hörte er sie die Türklinke betätigen. Sie rüttelte. Aber er hörte nicht, dass die Tür aufging. Warum ging die Tür nicht auf?
»Es ist abgesperrt«, sagte sie. »Sie ist … das Licht an der Schlüsselkarte leuchtet rot. Ich kann nicht …«
Ein anderes Geräusch. Ein anderes Scharren. Die junge Frau machte sich am Schloss zu schaffen – dem richtigen.
»Sie … sie geht nicht auf. Es ist abgesperrt.«
Wie konnte abgesperrt sein?
»Sehen Sie vielleicht irgendwo die Schlüsselkarte? Eine Halterung an der Wand, mit der man die Lichter aktivieren kann?«
»Nein, nichts. Es gibt …«
»Schauen Sie durch den Spion«, sagte er. »Vielleicht kommt jemand vorbei. Vielleicht kommt …« Jemand. Irgendjemand.
Ein Schlag. Und dann: »Ich sehe bloß den Gang.« Weitere Schläge. Sie trommelte gegen die Tür. Bamm. Bamm. Bamm. Immer wieder, lauter und lauter, bis es klang, als wollte sie die Tür einschlagen. »He, wir sind eingesperrt! Ist da jemand? Wir können nicht raus!«
Und über den Schlägen hörte und spürte er noch etwas. Die Anwesenheit eines weiteren Menschen. Ein Murmeln. Als würde ihm jemand ins rechte Ohr flüstern. Er drehte sich um und sah einer alten Frau mit langen, schwarzen Haaren direkt in die Augen. Sie starrten sich an, und dann, als sie anfing zu schreien, wünschte er sich, er könnte sich die Ohren zuhalten.