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S heppard schob sich weiter voran, schon jetzt taten ihm die Knie weh. Er kam sich wie eine Maus in einem Labyrinth vor, die zum Vergnügen der Pferdemaske, des Mr. TV, des bösen Menschen, herumgejagt wurde. Aber vielleicht führte dieses Labyrinth in die Freiheit. Und vielleicht unterlief dem Bösen ein Fehler, vielleicht hatte er das hier nicht auf der Rechnung. Er setzte sich wieder in Bewegung. Sein Rücken prallte gegen die Schachtoberseite, er zuckte vor Schmerz zusammen.
Weiter. Die Handylampe in seiner Brusttasche schwankte mit jeder Bewegung auf und ab, relativ bald wurde das Licht von der ersten Gabelung zurückgeworfen. Der Schacht teilte sich – links oder rechts. Zwei enge Gänge. Beide sahen aus, als könnten sie Sheppards Gewicht tragen. Als er die Gabelung erreichte, schloss er die Augen und dachte nach. Wenn das Fenster nach Norden hinausging (nahm er zu Orientierungszwecken an), dann lag die Wand mit dem Bett an der Ostwand. Er konnte hier also jetzt nach Norden oder Süden abzweigen. So oder so, er würde das Zimmer umgehen.
Er entschied sich aus keinem bestimmten Grund für Norden. Langsam streckte er die Arme in den neuen Gang, schob den Oberkörper um die Ecke, als er aber die Beine nachziehen wollte, schnitt sich die scharfe Kante in die Schienbeine. Kurz geriet er in Panik, schlug mit den Armen gegen die Seitenwände und versuchte sich um die Kante zu winden. Als er es endlich geschafft hatte, atmete er tief durch. Er hatte nie unter Platzangst gelitten, hatte sich allerdings auch noch nie in einer solchen Lage befunden. Es fühlte sich an, als würden sich die Wände um ihn schließen, als würde er langsam in einer Presse zerquetscht werden.
Das andere, an was er nicht gedacht hatte, war der Geruch. Nicht der Geruch des Lüftungsschachts, der leicht an verbrannte, heiße Luft erinnerte. Sondern sein eigener – eine kranke Mischung aus strengem Körpergeruch und frischem Erbrochenem.
Ermittler stinken nicht.
Er passte sich der neuen Richtung an. Kam in einen Rhythmus, bewegte sich wie ein verkrüppelter Hund, robbte auf den Ellbogen und schob mit den Füßen nach. Vorn, hinten, vorn, hinten.
Das Handylicht war einigermaßen hell, reichte aber nicht sehr weit – er konnte lediglich etwa einen Meter weit sehen. Die Atmosphäre war unheimlich – im Aluminium (oder war es Stahl?) des Schachts hallten die Gespräche wider, die scheinbar überall im Gebäude geführt wurden. Geisterstimmen erklangen, aber wenn er sich auf sie konzentrieren wollte, verschwanden sie plötzlich.
Vielleicht wirst du nur allmählich verrückt.
Er konnte definitiv Stimmen hören. Alan und Mandy und noch eine, sie schien die von Ryan zu sein. Sie klangen wie unter Wasser, einzelne Wörter waren nicht zu verstehen.
Der Schacht neigte sich nach unten, Sheppard bemerkte, wie er unwillkürlich schneller wurde. Eine weitere Abbiegung tat sich vor ihm auf – diesmal aber nur in eine Richtung, nach links. Er bog um die Ecke und stellte fest, dass der Gang sichtlich schmaler wurde. Wahrscheinlich führte er unter einem Fenster vorbei. Er machte sich dünn, zog den Bauch ein, zappelte wie ein Fisch, um durch die Öffnung zu passen. Dahinter wurde der Schacht wieder etwas breiter. Er konnte wieder die Arme abwinkeln, sich festhalten und vorwärts ziehen.
Das Handylicht war keine Hilfe mehr, weil es nach unten zeigte. Vor ihm tat sich nur noch Dunkelheit auf. Und dann war er felsenfest davon überzeugt, dass etwas in dieser Dunkelheit war, gerade außerhalb seiner Sichtweite, was ihn verhöhnte. Er hörte etwas, ein Schlurfen, jedenfalls etwas, was nicht von ihm kam – so eindeutig, dass sich der Gedanke verbot, er würde es sich nur einbilden. Was er aber natürlich tat.
Möglicherweise … oder?
Nach einer Weile die nächste Entscheidung: geradeaus oder nach links? Links würde er bloß den Zimmerwänden folgen, also entschied er sich für geradeaus. Das hieß, er würde sich dem nächsten Zimmer und damit der Rettung nähern.
Er verdrehte den Oberkörper, fischte das Handy aus der Brusttasche und richtete den Lichtstrahl nach vorn. Der Schacht schien unendlich weiterzuführen. Zumindest so weit er sehen konnte.
»Morgan.« Ein Flüstern in seinem Ohr.
Er fuhr zusammen und knallte mit dem Kopf gegen die Schachtoberseite. Schmerzen schossen ihm in den Schädel. Eine Stimme. Er hatte sie gehört. Er hatte sie gehört, oder? Ihm stellten sich die Härchen im Nacken auf. Jemand war direkt hinter ihm. Jemand musste direkt hinter ihm sein.
Das Handy, fiel ihm ein, hatte eine Kamera. Er öffnete die entsprechende App und schaltete auf die Frontkamera um. Wieder sein Gesicht. Er entkam ihm nie. Er sah aus, als läge er im Sterben. Seine Haut war unglaublich blass und glich eher den Schuppen einer Schlange. Die Haare wirkten ausgedünnt. Die Augen im warmen Handylicht sahen fast gelb aus – der Fluch des Alkoholikers.
Sieh zu, dass du hier rauskommst. Geh zu einem Arzt. Schränk das Trinken ein.
Aber hinter ihm war nichts. Er versuchte über seine Schulter zu sehen, wollte sich vergewissern, schaffte es aber nicht. Je mehr er an die Stimme dachte, desto unwirklicher kam sie ihm vor. Vielleicht war sie lediglich durch den Schacht getragen worden. Vielleicht hatte jemand im Zimmer etwas gesagt.
Keiner nennt dich Morgan. Schon lange nicht mehr.
Keiner außer ihm. Er hatte es getan. Der Maskierte.
Er setzte sich wieder in Bewegung und ließ zur Beruhigung die Kamera an. Aber hinter ihm war nichts, hinter ihm war nie etwas gewesen. Er nahm die Kamera gerade noch nach unten, bevor er mit dem Kopf voraus gegen die Schachtwand stieß. Wieder eine Abbiegung? Nein, keine Kurve, keine Kreuzung. Um ihn herum überall Schachtwände. Aber da war etwas an der Wand, etwas Weißes.
Er richtete das Licht nach vorn. Vor ihm eine Metallplatte. Und daran, mit einem Klebstreifen befestigt, ein Blatt Papier. Sheppard betrachtete die darauf geschriebenen Worte und glaubte, er müsste sich übergeben. Es ging nicht weiter. Luft. Es war nicht mehr genügend Luft da. Er konnte an nichts anderes mehr denken als die Wörter auf dem Blatt.
Hier war mal eine Öffnung
Die ist jetzt nicht mehr da
– ☺ C