37
S heppard drehte sich um und hob die Stimme, so wie es Alan vor einer halben Ewigkeit getan hatte. »Constance Ahearn. Die Mörderin ist Constance Ahearn.«
Er wartete einen Moment. Nichts geschah. Ryan sah sich erwartungsvoll um, während die beiden Frauen nur weiter vor sich hin starrten. So musste es gewesen sein. Sie musste es gewesen sein. Er wartete auf etwas, vielleicht eine Art Bestätigung. Hoffnung. Einen Grund, weiterzumachen – und sei es nur für ein paar Sekunden.
Constance Ahearn lachte wieder schrill auf. »Nicht ganz, Mr. Sheppard.«
Sheppard fuhr herum und sah zum Timer. Er zählte immer noch runter. Fünf Minuten.
Was lief falsch? Constance war die Mörderin. Sie war die Einzige, die infrage kam. Aber das Spiel ging weiter. Immer noch rückten sie alle mit jeder Sekunde ihrem Tod näher.
»Warum hat es nicht funktioniert? Wie kann es sein, dass es nicht funktioniert hat?«, fragte Ryan.
Es war nicht vorbei. Es konnte nicht vorbei sein. »Vielleicht haben wir was nicht richtig gemacht. Vielleicht muss sie was sagen.« Sheppard ging vor Constance in die Hocke. Die Frau wirkte ganz normal, als wäre überhaupt nichts passiert. Sie lächelte ihn an und legte den Kopf etwas schief, als würde sie ihr Haustier begrüßen.
»Sie wissen etwas«, begann Sheppard. »Ich weiß, dass es so ist.«
»Ich weiß alles und ich weiß nichts«, sagte Ahearn, sang es fast mit ihrer melodischen Stimme. »Es hängt nur davon ab, welches ›alles‹ Sie wissen wollen.«
»Sie haben einen Menschen umgebracht. Sie haben jemanden ermordet, als wäre es nichts. Als würde man durch Butter schneiden. Sie haben das schon mal gemacht. Ich weiß, dass Sie es waren.«
»Wie ich Ihnen schon sagte, Mr. Sheppard, ich habe Dr. Winter nicht getötet. Warum sollte ich? Ich habe keinen Grund.« Constance zwinkerte ihm zu. »Aber ich weiß, wer es war.«
»Ich wusste es«, presste Sheppard heraus. »Warum haben Sie nichts gesagt?«
»Weil ich niemanden entehren will, indem ich es erzähle.«
Sheppard lachte ihr ins Gesicht. »Ihnen ist schon klar, dass wir sterben? Dass wir alle in die Luft fliegen, wenn der Timer auf null steht? Wir werden alle in einem Feuerball ausgelöscht.«
Constance lächelte. »Wie entzückend.«
Wütend erhob sich Sheppard. Ryan war neben ihn getreten, Zorn blitzte in seinen Augen. »Warum willst du es uns nicht sagen, du Miststück?« Constance lächelte ihn ebenfalls nur an. Ryan wandte sich an Sheppard. »Wir könnten sie zum Reden bringen.«
»Was meinen Sie?«, fragte Sheppard, obwohl er es bereits wusste. Er sah es in Ryans Blick. »Nein, das können wir nicht …«
»Sie haben es selbst gesagt. Wenn wir es nicht herausfinden, werden wir alle sterben. Ich muss ihr nur ein bisschen wehtun. Sie knickt schnell ein.«
Sheppard öffnete den Mund und schloss ihn wieder – hatte er Ryan als potenziellen Täter so schnell ausgeschlossen?
Ryan stellte sich hinter Constance. Sie folgte ihm mit den Augen, bis er in ihrem toten Winkel verschwand. Verwirrt sah sie zu Sheppard.
»Wir können das nicht tun«, sagte Sheppard. Wirklich nicht?
»Doch«, sagte Ryan und beugte sich hinter Constance nach unten. »Stellen Sie ihr einfach die Frage.«
»Was macht er dahinten? Dieser Dämon.« Constance sah zu Sheppard, als könnte sie ihn ganz und gar wahrnehmen. Sie sah seine Geheimnisse, seine falschen Entscheidungen, die gescheiterten Beziehungen. Sie sah ihn, sein wahres Selbst, hinter allen Verwerfungen und allem Zorn.
Mandy kam näher und erkannte, was Ryan vorhatte. »Nein, das können Sie nicht tun.«
»Wir müssen. Ob wir wollen oder nicht. Andernfalls werden wir alle sterben«, sagte Ryan. Er hatte sich bereits eine Rechtfertigung zurechtgelegt. Erstaunlich, mit welcher Überzeugung er nickte.
»Sheppard«, flehte Mandy, »sorgen Sie bitte dafür, dass das aufhört.«
»Wann werden Sie es einsehen, Mandy«, sagte Ryan, »Sheppard kommt nicht weiter. Er weiß nicht, wer es war, deshalb liegt es jetzt an uns, die Antwort herauszufinden.«
»Genau das will er doch«, rief Mandy. »Genau das will die Pferdemaske. Lassen Sie nicht zu, dass er Sie zu dem hier macht.«
»Ich komme da nicht ganz mit«, sagte Ryan. »Sagen Sie das, weil es Ihnen um das Wohlergehen von Ms. Ahearn geht oder weil Sie Angst vor dem haben, was sie sagen könnte?«
Stille. Ryans Blick wanderte von Mandy zu Sheppard und zurück.
»Ryan«, sagte Sheppard, als Mandy verzweifelt seufzte. »Kommen Sie, das ist doch verrückt.«
»Stellen Sie die Frage.«
»Ryan.«
»Sheppard, stellen Sie die Frage.«
»Ich …« Sheppard wusste nicht, wie er den Satz beginnen, geschweige denn vollenden sollte. Mit einem Blick zu Mandy ließ er sich wieder vor Constance nieder.
»Sheppard, nein«, sagte Mandy.
Sheppard sah zu ihr und lächelte ihr traurig zu. Sie erwiderte das Lächeln. »Ms. Ahearn, ich muss Sie fragen: Wer hat Simon Winter ermordet?«
Constance sah zu ihm, dann zu Mandy und dem Mädchen, versuchte, zu Ryan zu sehen, obwohl ihr das nicht gelang. »Ich werde es Ihnen nicht sagen. Aber Gott im Himmel wird uns verzeihen.« Sie stieß einen überraschten Schrei aus und wand sich. »Was machen Sie dahinten? Wagen Sie nicht, mir wehzutun.«
»Ryan«, sagte Sheppard.
Ryan verschwand hinter dem Stuhl. Sheppard konnte nur aufgrund von Constances Miene erahnen, was dort vor sich ging. Sie machte den Eindruck, als wäre ihr unbehaglich zumute – er nahm an, dass sich Ryan an ihren Fingern zu schaffen machte. Aber ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Aus dem Augenblick wurde eine ganze Minute, dann ertönte ein Aufschrei hinter dem Stuhl. Aber nicht von Constance.
Ryan erhob sich, er hatte Tränen in den Augen. »Ich kann es nicht«, sagte er, als wäre er ein Kind, das gerade beim Klauen von Süßigkeiten ertappt worden war. »Ich kann es nicht. Es ist vorbei. Wir werden alle sterben.«
Mandy atmete zitternd aus, was klang, als würde sie Tränen unterdrücken. Sie setzte sich mit dem Rücken zu ihnen aufs Bett. Ryan wischte sich die Nase und sah zu Sheppard.
»Tut mir leid«, sagte er, bevor er sich ebenfalls setzte.
Sheppard erhob sich und sah erneut und lange zu Constance. Ihre letzte Hoffnung. Die sie vergessen konnten. Es war wirklich vorbei. Am Ende läuft einem immer die Zeit davon.
Er ging zur Wand neben dem Fernseher und glitt an ihr nach unten. Als er auf dem Boden saß, fiel ihm eine letzte Möglichkeit ein. Und je länger er über sie nachdachte, desto plausibler erschien sie ihm. Sein Herz schlug schneller, er hatte die Lösung gefunden. Es war alles so einfach.
»Die Pferdemaske«, schrie er und klang dabei fast fröhlich. »Der Mörder ist die Pferdemaske.«
Er wartete einige Sekunden.
Nichts geschah.
Der Timer zeigte noch zwei Minuten an.