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H allo, Morgan«, sagte Eren.
Sheppards Knie gaben nach. Nach Luft ringend sackte er zu Boden.
Wie ist das möglich? Und die relevantere Frage: Warum habe ich es nicht gewusst?
Fünfundzwanzig Jahre – fünfundzwanzig Jahre war es her. Und jetzt war er hier. Wie hatte er ihn vergessen können – warum hatte er ihn nicht sofort erkannt? Konnte er wirklich so begriffsstutzig sein? Die Erinnerungen, die er mithilfe von Alkohol und Pillen so tief in sich vergraben hatte, drängten an die Oberfläche. Mr. Jefferies. Erens Dad, der von der Polizei abgeholt wurde. Damit war der kleine Morgan Sheppard berühmt geworden (was er sich immer gewünscht hatte), aber Eren hatte damit ohne Vater dagestanden. Eren war der Einzige, der der Maskierte hatte sein können – und er hatte keinen einzigen Gedanken an ihn verschwendet.
Er hatte ihn Morgan genannt. Das erste Indiz. Niemand nannte ihn noch beim Vornamen. Sein PR-Manager, sein Agent, sogar seine Armada von Freundinnen – alle nannten ihn nur noch Sheppard. Er hatte mit seinem Agenten darüber gesprochen – es war ja nicht so, dass er seinen Vornamen nicht mochte, aber sein Nachname gefiel ihm einfach besser. Sheppard ist ein guter, starker Name, ein Name, dem man vertrauen konnte. Von geradezu biblischer Dimension – wenn man so wollte.
Die Brille. Das Nächste. Sheppard trug in der Öffentlichkeit keine Brille, wahrscheinlich seit seiner Schulzeit nicht mehr. Er hasste sie, also trug er sie kaum und kniff lieber die Augen zusammen. Er war fürchterlich kurzsichtig, hatte aber gelernt, damit zurechtzukommen. Als er älter wurde, war er auf Kontaktlinsen umgestiegen, hatte aber immer eine Brille in der Wohnung herumliegen, wenn ihn keiner sehen konnte. Er erinnerte sich noch an seine erste Brille. Seine Mutter hatte ihn gezwungen, sie jeden Tag aufzusetzen, was er auch brav getan hatte. Aber noch vor der ersten Unterrichtsstunde hatte er sie abgenommen, weil er sie nicht ausstehen konnte. Er hatte sie sich in die Gesäßtasche gesteckt und im Spaß gesagt (es aber ernst gemeint), dass er sich hoffentlich auf sie draufsetzen und sie kaputt machen würde.
Es lag alles so klar auf der Hand, aber selbst jetzt, als er Erens Gesicht auf dem Fernsehbildschirm vor sich hatte, wollte er es nicht glauben. Obwohl die Indizien eindeutig waren, obwohl ihm die Wahrheit ins Gesicht starrte.
»Eren?«, sagte er, das Gesicht unglaublich nah am Bildschirm.
»Hallo, alter Freund«, antwortete Eren lächelnd. »Aber ich heiße nicht mehr Eren. Eren war mir ein wenig zu schlicht und ein wenig zu sehr mit schlechten Erinnerungen verbunden. Ich heiße jetzt Kace. Kace Carver. Gefällt dir der Name?«
»Kace? Was soll das sein?«
»Das ist mein Name.«
»Nein. Du heißt Eren.«
Eren runzelte die Stirn. »Wir mögen ja eine gemeinsame Vergangenheit haben, du und ich. Aber ich warne dich, Morgan, versuche nicht so zu tun, als würdest du mich kennen. Du hast mich damals vor langer Zeit im Stich gelassen, und ich habe mich seitdem verändert. Das hast du auch getan, in deinem Fall aber eher zum Schlechteren – falls das überhaupt möglich ist. Wer hätte gedacht, dass es dazu kommen würde?«
»Einen Moment …« Ryan. Wenigstens glaubte Sheppard, dass er es war. Die Worte hörte er noch, aber er konnte nicht mehr unterscheiden, von wem sie kamen. »Wovon redet er? Wer ist das überhaupt?«
Wie es erklären …
»Sheppard.«
»Wir sind an dem Punkt angelangt, auf den ich mich am meisten gefreut habe«, sagte Carver. »Es ist an der Zeit, dass sich unser Held hier, unser Protagonist, erklärt.«
»Eren«, sagte Sheppard und streckte die Hand zum Bildschirm aus. »Hör auf, lass uns raus. Bitte.«
»Nein. Das tue ich nicht. Weil du im Lauf dieser Farce anscheinend nichts gelernt hast. Du hast noch nicht mal gewusst, wer ich bin.«
»Aber jetzt weiß ich es, Eren. Ich kenne dich. Ich erinnere mich an dich. Ich erinnere mich an alles, was wir gemacht haben. Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Wir waren Freunde. Ich erinnere mich an alles. Nur lass uns bitte gehen.« Eine Träne lief Sheppard über die Wange. Er weinte – er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal geweint hatte. »Bitte, Eren.«
»Nenn mich nicht Eren«, sagte Eren. »Der bin ich nicht mehr.«
»Lass bitte die anderen gehen. Bitte, das geht nur dich und mich was an. Diese Leute haben damit nichts zu tun«, sagte Sheppard und wies mit einer ausholenden Geste auf die anderen.
Eren schien zu grübeln und kniff die Augen zusammen. »Das ist uncharakteristisch selbstlos von dir. Alles in Ordnung mit dir? Hast du Verdauungsprobleme? Ich kann nur mutmaßen, dass du es tust, um irgendwie das Gesicht zu wahren. Du glaubst immer noch, du kommst hier raus, was?«
Er glaubte es nicht mehr. Er wusste nichts mehr.
»Nein, nein, ich werde keinen von euch gehen lassen. Anfangs dachte ich, ich setze euch alle da rein. Setze euch da rein wie Fliegen in ein Glas und sehe zu, wie ihr herumsummt und nicht wisst, was ihr tun sollt. Aber jetzt bin ich neugierig geworden. Jetzt will ich wissen, ob du es schaffst. Mehr als das, ich möchte sehen, wie du stirbst. Ich finde es also ganz gut, wenn ich dich da drinnen versauern lasse. Aber wenn du es schaffst, wenn du es hinkriegst, dann lasse ich die anderen frei.«
Die anderen …
»Wenn ich den Mord aufkläre, lässt du die anderen gehen?«
Eren schien frustriert. »Ist dein Gehirn schon so ermattet? Das habe ich doch gerade eben gesagt, oder?«
»Kann mir jemand verraten, was hier vor sich geht?« Mandy diesmal. Aber er konnte an nichts anderes mehr denken. Nicht jetzt.
»Und was passiert mit mir?«, fragte Sheppard.
»Ich finde, wir sollten mal nett miteinander plaudern.« Wieder lächelte Eren.
Sheppard nickte nur. »Okay.«
»Klär den Mord auf, Morgan, oder stirb mit deinen Zimmergenossen. Es ist deine Entscheidung. Aber kannst du bitte noch was für mich tun?«
»Ja … natürlich.« Was für ein wehleidiger Waschlappen er doch geworden war. Er wusste, dass Eren sein einziger Ausweg war. Kapierte Eren das nicht? Kapierte Eren nicht, dass er alles tun würde?
»Sag die Wahrheit, Morgan«, kam es von Eren. »Sag wenigstens ein einziges Mal in deinem Leben die Wahrheit.«
Sheppard brach auf dem Boden zusammen und ließ seinen Tränen endlich freien Lauf. Eren Carver. Der Junge, der sein bester – sein einziger – Freund gewesen war.
Aber etwas war anders. Etwas war mit ihm geschehen. Etwas war ihm zugestoßen.
Und während ihm die Tränen in den Augen brannten, wurde ihm klar: Morgan Sheppard – der war Eren zugestoßen.