58
A uf die Knie«, sagte er und stellte die Schuhe in den Sand, damit er die Waffe mit beiden Händen halten konnte.
Sheppard gehorchte.
Warum sich wehren?
»Warum hast du mich nicht einfach umgebracht? Warum nicht gleich am Anfang? Warum das alles? Dieses ganze Theater …?«
Carver lachte. Er stand über Sheppard gebeugt und drückte ihm den Lauf an die Stirn. »Weißt du noch, damals in der Schule? Du warst immer so von dir überzeugt. Genau wie später, dein Leben lang. Im Unterschied zu jetzt. Verstehst du, ich musste dir zeigen, wie es sich anfühlt, wenn man scheitert. Du warst immer ein Drecksack. Ich hätte wissen müssen, dass du so was abziehst. So was wie das hier. Dein ganzes Leben war nichts als ein großer Witz. Das musste ich dir klarmachen.«
»Was ist mit dir passiert, Eren?«
»Du bist mir passiert. Und nenn mich nicht so.«
»Dein Vater war schuldig, Eren.«
»Nenn mich nicht so. Und wenn, dann hat sich mein Vater schuldig gemacht, weil er seine Familie geschützt hat.«
Sheppard musste darüber fast lachen. »Seine Familie geschützt? Ach? Hast du dich nie gefragt, warum dein Vater so lange gewartet hat, bis er Jefferies umgebracht hat? Er hat niemanden geschützt. Er war eine wandelnde Zeitbombe, die irgendwann hochging. Er hat das einzig und allein für sich selbst getan.«
»Das spielt keine Rolle«, zischte Carver.
»Nein, Eren, das ist das Einzige, was wichtig ist. Es war kein Mord im Affekt. Er hatte einen ausgeklügelten Plan. Und eines Tages nahm er seinen ganzen Mut zusammen und setzte ihn in die Tat um. Wie erbärmlich. Sieht ganz danach aus, als würdest du nach ihm schlagen.«
»Meine Mutter, diese Hure, wollte sich an dem Tag, an dem sie starb, mit Jefferies treffen. Mein Vater war am Boden zerstört. Also hat er angemessene Maßnahmen ergriffen.«
»Er hat diese Maßnahmen sechs Jahre später ergriffen«, sagte Sheppard.
»Halt's Maul!«, schrie Carver.
Sheppard sah zu ihm auf – und er erkannte, dass von Eren Carver tatsächlich nichts mehr übrig war. Vor ihm stand ein anderer. Der Mensch über ihm war so von sich überzeugt, dass er gar nicht sah, was er selbst hier tat. Und, ja, vielleicht war er, Morgan Sheppard, der Auslöser für alles gewesen, vielleicht hatte er am Anfang gestanden, aber der Weg, dem dieser Mensch hier vor ihm seitdem gefolgt war, der war sein ganz eigener Weg gewesen – es war der Weg von Kace, nicht von Eren.
Vielleicht sah Carver, dass Sheppard verstand. »Du hast das alles getan«, stieß er hervor und fuchtelte mit der Pistole herum, als wäre sie ein Dirigentenstab. »Du hast das alles getan. Und wenn du hier stirbst und dein Blut im Sand versickert, dann erinnerst du dich vielleicht daran, dass du das alles so gewollt hast. Das ist das Ende des Wegs, auf den du uns beide gebracht hast. Das geht auf deine Kappe.«
Sheppard holte Luft. »Nein, Kace, das geht auf unser beider Kappe.«
Carver richtete den Lauf wieder auf Sheppards Stirn. »Morgan, es ist vorbei.«
»Du meinst … du meinst, ich hab dich um die Chance gebracht, selbst der Held zu sein? Du meinst, ich hätte dir dein Leben kaputt gemacht? Aber beides zugleich konnte ich nicht. Du warst doch nie ein Held. Du warst immer ein Ungeheuer. Entweder hättest du deine eigene Familie zerstört, oder du hättest einen Mord billigend in Kauf nehmen müssen. Wofür hättest du dich entschieden? Du bist hier der Schurke.«
»Sag das noch mal, und ich schwöre bei Gott …«
»Du bist der Schurke. Ich mag ein fürchterlicher Mensch sein. Ich habe anderen Menschen das Leben ruiniert. Ich habe einige, nein, viele Dinge getan, derer ich mich zutiefst schäme. Aber ich kann mich ändern. Du, du wirst immer ein Ungeheuer bleiben.«
Der Pistolengriff krachte gegen Sheppards Kopf, seine Nase barst in einer Explosion aus Schmerzen und Blut. Er schrie auf.
Carver lachte. »Du bist ein Schmarotzer. Du meinst, irgendeiner auf der Welt wird dich vermissen?«
»Nein«, sagte Sheppard und spuckte Blut. »Nicht im Geringsten.«
Er sah seine Eltern vor sich, seine ehemaligen Freundinnen, seine Kollegen. Alle, die er von sich gestoßen hatte. Der einzige wirkliche Freund, den er jemals hatte, stand kurz davor, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen.
Das ist nicht das Ende.
Mit letzter Kraft schnellte er vor und überrumpelte Carver. Er warf sich ihm gegen die Beine, gleichzeitig ging die Pistole los. Die Kugel streifte Sheppards rechtes Ohr, aber Carver sackte zu Boden. Die Pistole glitt ihm aus der Hand und landete ein gutes Stück von ihnen beiden entfernt.
Bevor sich Sheppard nach der Waffe strecken konnte, schlug ihm Carver ins Gesicht. Er sah alles nur noch verschwommen, tastete mit einer Hand nach der Pistole, packte mit der anderen Carvers Kopf und drückte ihn in den Sand.
Carver schrie auf.
Sheppard blinzelte sich den Sand aus den Augen, bekam die Pistole zu fassen und schleuderte sie, ohne darüber nachzudenken, von sich. Mit einem Platschen landete sie im Wasser. Sheppard sah ihr hinterher, was Carver dazu nutzte, ihm einen Kinnhaken zu verpassen.
Sheppard ging zu Boden. Carver richtete sich auf, zerrte ihn am Hemdkragen zum Wasser, beugte sich über ihn und packte seinen Hals. »Ich brauche keine Waffe, um dich umzubringen.«
Zu spät wurde Sheppard klar, was passieren würde. Kurz riss Carver Sheppards Kopf hoch, bevor er ihn ins eiskalte Wasser tauchte. Sheppard hatte noch nicht mal mehr Zeit, Atem zu holen – er bekam keine Luft mehr und strampelte wild um sich. Wie lange würde er durchhalten? Wie viel Zeit blieb ihm noch?
Carver zerrte ihn hinaus ins tiefere Wasser. »Das sind die Konsequenzen, Morgan.«
Blind schlug Sheppard um sich, ohne Carver direkt zu treffen, aber es reichte, damit dieser ihn losließ. Sheppard fiel mit dem Gesicht in den Sand, holte erneut mit den Beinen aus und traf Carver am Knie.
Jetzt. Du musst jetzt weg.
Sheppard warf sich in eine anbrandende Welle und mühte sich, den Kopf über Wasser zu halten. Carver taumelte von ihm weg und sank anschließend auf alle viere. Sheppard watete zu ihm, packte ihn an den Schultern und zog ihn an der Krawatte hoch. Carver knurrte durch zusammengebissene Zähne, seine Lippe war aufgeplatzt.
»Danke, Kace, du hast mir gezeigt, dass sich die Menschen ändern können«, sagte Sheppard. »Vielleicht gibt es für mich ja doch noch Hoffnung.«
Carver starrte ihn nur an. »Es ist noch nicht vorbei, Morgan. Wenn nicht heute, dann irgendwann einmal. Egal, wo du bist, ich werde dich finden. Egal, wie sicher du dich fühlst, ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um dich aufzuspüren. Also bring mich um.« Seine Stimme hatte nichts Menschliches mehr an sich.
Sheppard lächelte. »Nein, ich glaube nicht. Das ist nicht mein Stil.«
Er rammte Carver die Stirn so fest gegen den Kopf, wie er nur konnte.