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Ganz am Anfang …
I ch hab mir schon gedacht, dass es einen ganz bestimmten Grund gibt, den Unterricht zu schwänzen«, sagte Eren. Er und Morgan zogen seit zwei Stunden zu Fuß durch die Londoner Innenstadt. Es war Freitag, 14.30 Uhr, und Eren verpasste die Mathe-Stunde mit Mr. Jefferies. Er mochte Mr. Jefferies und hatte schon jetzt ein schlechtes Gewissen wegen der ausgefallenen Stunde.
Sie waren elf Jahre alt und ganz allein in London unterwegs. Morgan hatte ihnen eine Befreiung von der Schule besorgt. Seine Mum, so seine Ausrede, würde mit ihnen eine ganz bestimmte Ausstellung besuchen. Morgans Mum hatte sie noch nie zu irgendwas mitgenommen, und Eren hatte nur eingewilligt, weil er dachte, es würde sowieso nicht klappen. Aber es hatte geklappt, und so waren sie jetzt hier.
Morgan sprang ausgelassen über den Bürgersteig und schlängelte sich durch die Touristenmassen. Sie hatten sich zum Leicester Square durchgeschlagen und noch weiter, und Eren glaubte allmählich, dass es gar kein richtiges Ziel gab.
»Spürst du das, Eren«, sagte Morgan und drehte sich zu ihm um. »So fühlt sich die Freiheit an.«
Eren war in Gedanken immer noch bei der verpassten Mathe-Stunde. »Ich denke mir bloß … na ja, was, wenn wir Hausaufgaben aufbekommen? Wir hinken dann dem Stoff hinterher und so. Vielleicht sollten wir zurück.«
Morgan blieb stehen. »Entspann dich, Eren, okay? Es ist nur eine Mathe-Stunde. Die Schule ist nicht alles.«
»Irgendwie schon«, sagte Eren.
Morgan seufzte und hielt Eren an beiden Armen fest. »Eren, Kumpel, uns wird nichts passieren. Ich hab einen wasserdichten Plan, mit dem haben wir später mal garantiert Erfolg.«
»Was ist es diesmal? Turner bei den Olympischen Spielen? Schriftsteller? Wetteransager?«
»Ich weiß noch nicht, was, aber ich weiß, dass wir beide, du und ich, eines Tages berühmt sein werden.«
»Hmmm.«
»Schau!« Morgan drehte Eren herum. »Schau dir das an.« Sie standen vor einem Hotel. Es machte einen äußerst teuren Eindruck. Männer standen davor, einer von ihnen hielt die großen Glastüren auf, um einen Mann in Anzug eintreten zu lassen. Kurz erhaschte Eren einen Blick auf die Lobby. Wunderschöner Marmorboden und Menschen in geschniegelten Uniformen.
»Siehst du das? Dieses Etepetete-Zeugs? Eines Tages werden wir hier auch absteigen, Eren.«
Eren sah zu seinem Freund. »Okay, aber wie?«
»Weil wir es uns leisten können. Wir haben dann Zimmer in coolen Städten mit einer Minibar, und wir trinken um zehn Uhr morgens Bier und sagen Sätze wie ›Es ist jetzt irgendwo fünf Uhr‹.«
»Du magst kein Bier. Du hast die Flasche getrunken, die du deiner Mum aus dem Kühlschrank geklaut hast, und dann hast du gekotzt.«
»Ja, aber ich werde es so lange trinken, bis ich es mag«, sagte Morgan.
Eren seufzte. »Ich weiß wirklich nicht, was wir hier sollen.«
»Wir leben im Augenblick, Eren«, sagte Morgan. »Du benimmst dich immer so … so alt. Immer machst du dir zu viele Gedanken. Können wir nicht mal so tun, als wären wir einfach super, ohne einen Plan für die ganze Zukunft zu haben? Ich bin einfach nur … im Augenblick … wie hat Miss Rain gesagt?«
»Spontan?«, sagte Eren.
Morgan klatschte in die Hände und strahlte. »Ja, ich bin spontan.«
»Okay.« Jetzt lächelte auch Eren. »Ich schlage dir eine Wette vor. Du nutzt dein Spontansein und ich mein Nachdenken, und dann sehen wir ja, wohin wir damit kommen. Der Gewinner ist der, der am weitesten kommt. Und der Verlierer muss dem Gewinner das Zimmer in diesem doofen Hotel zahlen.« Mit dem Kopf wies er zum Gebäudeeingang.
»Einverstanden, mein Freund.« Morgan lachte. »Jetzt komm schon, irgendwo hier in der Nähe gibt es einen super Asiaten.« Er marschierte wieder los, so schnell, dass Eren laufen musste, um mit ihm Schritt zu halten. »Meine Mum war mit mir da beim Essen, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, als sie mich im Supermarkt vergessen hat.«
»Schwänzen wir deshalb die Schule? Um beim Asiaten zu essen?«
»Nein«, sagte Morgan und stieß Eren an. »Wir sind nur zufällig hier. Siehst du, Eren, das ist Spontaniosität.«
»So heißt das nicht. Aber ist auch egal.« Eren musste um eine Touristengruppe herumgehen, die sich um eine Karte drängte. »Du hast mir noch gar nicht erzählt, wie dein neuer toller Erfolgsplan aussieht.«
Morgan lachte. »Was hältst du davon, in einer Band zu spielen?«
»Ich meine, das ist das Dümmste, was ich jemals gehört habe«, sagte Eren, und beide brachen in schallendes Gelächter aus.
Als sie sich wieder eingekriegt hatten, lief Morgan über die Straße (natürlich ohne auf das grüne Männchen zu warten) und winkte Eren zu. »Es geht hier durch eine schmale Gasse.«
Eren überquerte die Straße, als es sicher war, und als Morgan um die Ecke verschwand, sah er zurück zum Hotel, vor dem sie eben gestanden hatten. Aus der Ferne sah es noch einschüchternder aus – ein schmales Gebäude, das hoch in den Himmel ragte. Auf der Fassade glitzerte mattgolden der Name »The Great Hotel«.
Eren prägte sich den Anblick ein und folgte Morgan zum Asiaten.
Wie würde Morgan das nennen?
Ah ja – er folgte Morgan in die Zukunft.