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„Ich will da heute Abend nicht hingehen“, sagte Myrtle bockig.
„Ach komm schon, Myrtle. Es wird schon nicht so schlimm werden“, sagte Miles. „Das sind gute Köchinnen, du kennst doch alle. Es wird sicher lustig und ist mal was anderes. Außerdem richtest du das Dessert aus. Du musst hingehen.”
„Das wird anstrengend und nervig. Außerdem mache ich mir nicht so viel aus Essen wie du. Ich könnte einfach hier zuhause auf euch warten, bis ihr kommt. Ich trinke einen Sherry und lese ein gutes Buch, wobei ich über meinen gescheiterten Plan sinniere, diesen erbärmlichen Buchclub in etwas Großartiges zu verwandeln.”
„Bist du denn gar nicht neugierig darauf, wie Jill und Blanche sich auf der Party verhalten? Ich dachte, du würdest gerne dem Grund ihres Streits auf die Schliche kommen.“
Myrtle wurde etwas munterer. „Es ist allerdings ein einseitiger Streit. Normalerweise gibt es ja zwei Personen, die böse aufeinander sind. Aber Jill schien sich wie eine Schneekönigin zu freuen, als ich Blanches Namen ins Spiel brachte.” Sie wickelte das Telefonkabel um ihren Finger. „Na gut, ich werde hingehen. Aber sei nicht überrascht, wenn ich früh gehe und zuhause auf das Dessert warte.“
Myrtle legte auf und seufzte. Sie hatte noch nicht wirklich entschieden, was sie zum Dessert für das wandelnde Dinner vorbereiten würde. Myrtle wollte ein paar frische Ideen, aber alle ihre Kochbücher erschienen ihr altbacken. Sie blickte auf die Uhr. Mist. Sloan, der Redakteur des Bradley Bugle, hatte ein Meeting mit ihr angesetzt und sie war spät dran.
Myrtles Sohn Red hatte vor gut einem Jahr dafür gesorgt, dass sie dort für eine Kolumne angestellt wurde. Er hatte gedacht, dass das eine angemessene Aufgabe für eine pensionierte Lehrerin für Literatur mit zu viel Freizeit wäre. Damals war sie fuchsteufelswild gewesen, weil sich Red in ihre Angelegenheiten eingemischt hatte. Aber mittlerweile gefiel es ihr, die Kolumne zu schreiben, auch wenn die hilfreichen Alltagstipps recht eigenwillig waren. Einige davon kamen von abergläubischen Menschen und alten Damen und wer wusste schon, wofür die Tipps wirklich gut waren.
Myrtle drückte die alte Holztür zur Redaktion auf. Drinnen roch es nach Tinte, Papier und muffigen Büchern. Der Raum war schwach beleuchtet und überall waren Papiere und Fotos wild übereinandergestapelt. Es war, so dachte Myrtle, wirklich ein wunderbarer Ort.
Sloan, ein klobiger Mann mit hoher Stirn und geschäftigem Gesichtsausdruck, hob den Kopf, als sie eintrat. „Myrtle“, sagte er und stand rasch auf.
Myrtle fragte sich, ob Sloan jemals dieses unterwürfige Verhalten ihr gegenüber aufgeben würde. Sie hatte in der Mittelstufe unterrichtet und er erinnerte sich offensichtlich noch an die Standpauken, die sie ihm und Red erteilt hatte, wenn sie Papierkügelchen geschossen, sich Zettelchen geschrieben und irgendwelche Dinge aus dem Fenster geworfen hatten. Red und Sloan waren mittlerweile beide Mitte vierzig und die Zeiten waren längst vorbei, aber offensichtlich hatte er sie noch in lebhafter Erinnerung. Hinzu kam, dass Myrtle sich trotz ihrer weit über achtzig Jahre noch immer erschreckend mächtig aufrichten konnte.
„Danke, dass du gekommen bist“, sagte Sloan und warf dabei wie immer einen Blick auf die Uhr. „Ich versuche die Leserschaft des Blattes ein wenig zu erweitern. Wir haben viele Abonnenten verloren.”
Myrtle runzelte die Stirn. Sie dachte, dass jeder den Bradley Bugle abonniert hätte. Wie sollte man denn sonst auf dem Laufenden bleiben?
„Und deine Kolumne mit den nützlichen Tipps ist sehr beliebt. Ich weiß, dass wir pro Woche mehr Tipps bekommen, als wir überhaupt abdrucken können. Daher dachte ich, du könntest noch ein paar Tipps für den Bradley Bugle Blog schreiben.“
„Wie bitte? Ich wusste nicht einmal, dass der Bugle einen Blog hat.”
„Nun, bis vor ein paar Tagen hatte er das auch nicht. Aber ich habe ein bisschen recherchiert und glaube, dass das ein guter Weg für uns ist. Die nächste Generation wird mit ziemlicher Sicherheit die Nachrichten nur noch online konsumieren. Mit der mobilen Version können die Leute die Zeitung ganz einfach auf dem Handy lesen. Auf dem Blog können wir außerdem ein paar Extras anbieten, für die wir in Papierform keinen Platz oder kein Geld haben.”
Myrtle war sich nicht ganz sicher, was genau ein Blog war. Aber die Idee, eine rüstige Oma-Bloggerin zu werden, hatte schon was. Die Vorstellung, dass sie in ihrem Alter die neuen Technologien beherrschte, verlieh ihr ein behagliches und selbstgefälliges Gefühl.
„Ich habe mir überlegt“, sagte Sloan, der immer begeisterter von dem Thema wurde, „dass wir auch einen Artikel über den Dinnerclub bringen könnten, bei dem du dabei bist.“
„Das Ding mit dem wandelnden Abendessen?“, fragte Myrtle überrascht. „Das sollen Nachrichten sein?“
„Er ist vielleicht nicht aufregend genug für den teuren Print“, erklärte Sloan, „aber für das Internet ist es perfekt. Du kannst darüber schreiben, wer alles da war und was für Essen serviert wurde. Du kannst auch ein paar Fotos schießen und sie hochladen. Und dann gehen die Leute alle online und lesen über sich selbst. Du weißt doch, wie die Leute in Bradley sind. Du kannst den richtigen Blickwinkel finden und den Leuten ein wenig Honig ums Maul schmieren. Auf dem Blog verlinke ich dann direkt zur Aboseite der Zeitung. Ich denke, dass das auch einige Firmen in der Umgebung interessieren könnte, die Werbung schalten wollen.“
Myrtle war noch immer nicht klar, was an diesem bevorstehenden Dinnerclub, den sie ja gar nicht starten wollte, so berichtenswert sein sollte. „Na jaaaaa. Vermutlich. Ich muss erst mal überlegen, was ich zubereite. Das Dessert gibt es bei mir und ich will etwas Neues ausprobieren.“
Sloan strahlte. „Weißt du, was du tun könntest? Du könntest dir ein paar Foodblogs anschauen. Es gibt massenhaft Seiten mit Rezepten und die haben sogar Schritt-für-Schritt-Anleitungen mit Fotos zum Nachkochen. Ich verwende die oft, immerhin lebe ich alleine. Was weiß ich schon vom Kochen?“
Myrtle strahlte. „Cleverer Junge. Na, das ist mal eine großartige Idee.“ Sie schenkte ihm ihren liebenswürdigsten Blick, der normalerweise für ihren Enkel reserviert war.
Sloan sah beunruhigt aus, er fürchtete offensichtlich, unfreiwillig Opfer einer Umarmung zu werden. Er trat ein paar Schritte zurück. „Dann ist ja gut. Und danke für deinen Bericht über das wandelnde Dinner. Ich glaube, das wird eine gute Sache.“
*****
Nachdem sie stundenlang Foodblogs durchforstet hatte, war Myrtle ganz und gar überwältigt. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, dass es so viele davon gab. Der eine verlinkte zum nächsten und wenn man also auf einem Foodblog war, dann entdeckte man gleich 15 oder 20 gute andere. Sie fand, dass Foodblogs tatsächlich eine gute Quelle für Rezepte waren, aber kurzfristig würde das nicht funktionieren. Stattdessen ging Myrtle hinüber zum Supermarkt und griff nach einigen Zitronenkuchen sowie gut zwei Dutzend Cupcakes. Das sollte reichen.
Sie kam jedoch nicht umher, die Beilage für Jills Teil der Party zuzubereiten, nachdem sie sich unvorsichtigerweise dazu breitschlagen hatte lassen auszuhelfen. Zum Glück sollte sie nur einen einfachen Bohnensalat zubereiten, weshalb sie sich voller Zuversicht und guter Absichten auf in die Küche machte.
Dass die Bohnen schlussendlich leicht verkocht waren, lag nur daran, dass sie gleichzeitig diesen verdammten Blogpost für Sloan schrieb und erst einmal herausfinden musste, wie sie sich einloggen konnte. Er hatte ihr eine Anleitung ausgedruckt, aber die war nicht so einfach, wie er es behauptet hatte. Der Käse, den sie in ihrer Kasserolle über die Bohnen gestreut hatte, war immerhin nur leicht angebrannt. Das musste gut genug sein, denn das Dinner würde bald losgehen und sie musste Jill noch ihre Beilage vorbeibringen.
Myrtle umwickelte den noch heißen Topf mit Alufolie und brachte ihn mit ihren Ofenhandschuhen hinüber zu Jills Haus, wo sie ihn ihr erleichtert in die Hand drückte. „Wir sehen uns in ein paar Minuten, Myrtle. Ich mache nur noch was fertig. Das ist wirklich nett von euch allen, dass ihr Beilagen mitbringt. Jeder hat sich solche Mühe gemacht.“
„Kein Problem, Liebes. Und hier riecht es hervorragend. Wir sehen uns gleich.“
*****
Das Problem bei ihrem Dinnerclub war, dass die meisten Häuser in der Straße eher überschaubarer Größe waren. Die Häuser hatten durchaus auch ihre Vorteile, immerhin lagen sie am See und jedes auf Myrtles Straßenseite hatte einen Anlegesteg mit einem Boot. Aber die Häuser selbst stammten aus den 1950er Jahren und waren deshalb schon älter. Die meisten davon waren einfache Bauten mit drei Schlafzimmern und zwei Bädern. Miles hatte sogar nur zwei Zimmer und ein Badezimmer. Was absolut ausreichend war, dachte Myrtle, wann immer sie Miles besuchte. Wie viel Platz brauchte ein Junggeselle denn schon. Außer natürlich, man plante einen Dinnerclub für 30 Leute. Und ganz besonders, wenn man dabei Alkohol servierte, wie Miles es für seine Häppchen geplant hatte.
Ein schallendes Lachen brach nur einige Meter entfernt von ihnen aus. Miles erschrak. „Was war das?“, keuchte er.
„Georgia Simpson“, antwortete Myrtle. Sie runzelte die Stirn. „Ich frage mich, was sie hier macht. Sie liest doch gar nicht. Sie wäre nie einem Buchclub beigetreten. Und es sieht so aus, als hätte sie schon was getrunken. Und zwar so einiges.“
„Tippy hat alle Gastgeber angerufen und gesagt, dass noch eine Person zusätzlich kommt. Offensichtlich war jemand an einem Dinnerclub interessiert, nicht jedoch an einem Buchclub. Das muss dann wohl Georgia gewesen sein.”
„Wir haben ein neues Buchclubtief erreicht“, grummelte Myrtle.
Die Frau warf ihren Kopf in den Nacken und lachte erneut schallend auf.
„Der Inbegriff vornehmer Damenhaftigkeit in Bradley sturzbetrunken in einem fremden Haus“, murmelte Miles.
„Ich würde an deiner Stelle aufpassen. Glaub ja nicht, sie würde einem Kerl mit Brille keine reinhauen.“
Miles war offensichtlich pikiert angesichts dieses Angriffs auf seine Männlichkeit.
Georgia verkörperte die Vorstellung von jemandem, der hart im Nehmen war, angefangen von ihrem festen Haar, das sich selbst im Wind keinen Millimeter bewegte bis hin zu den Tattoos auf ihren Armen und Beinen. Ihre Wimpern waren so dick mit Mascara zugekleistert, dass ihre Augen permanent auf Halbmast standen und ihr einen finsteren Blick verliehen. Sie hatte ihre Augenbrauen beinahe komplett weggezupft, um sie sich tagtäglich ihrer Tagesverfassung entsprechend nachziehen zu können. Ihr Haar war am Ansatz schwarz und endete in einem Weißblond an den Spitzen. Sie trug gerne T-Shirts mit unangebrachten aufgedruckten Kommentaren. Myrtle versetzte Miles einen leichten Tritt. „Dir fallen noch die Augen aus.“
„Sie sieht aus wie ein Kerl, mit dem ich in Vietnam war“, murmelte Miles verdutzt, als Georgia zu ihnen herüberschritt und eine Begrüßung grunzte.
„Weißt du, was dieser Party fehlt?“, fragte Georgia mit krächzender Stimme.
Miles schaffte es, einen leicht interessierten Blick aufzusetzen.
„Ein Dixieklo. Du hättest ruhig ein paar davon im Garten aufstellen können, weißt du. Schönes Haus, aber nur ein Badezimmer?”
Miles nickte eifrig und Myrtle verdrehte die Augen. „Miles lebt alleine, Georgia. Warum sollte er mehr als ein Bad brauchen?“
Aber Georgia hatte sich bereits in eine andere Richtung aufgemacht. „Ich muss ein Badezimmer finden.“
Myrtle blickte ihr nachdenklich hinterher. „So gut gelaunt habe ich Georgia schon lange nicht mehr erlebt. Sie scheint Partys zu mögen.”
„Du kennst diese Person?“, fragte Miles. Er war offensichtlich erstaunt. „Du als treue Leserin von Charles Dickens und William Butler Yeats kennst diese Georgia?“
Myrtle sah ihn an, als wäre er schwer von Begriff. „Natürlich, Miles. Ich habe sie unterrichtet.“
„Sie unterrichtet?“
„Miles, wenn du so alt bist und so lange unterrichtet hast wie ich, dann war jeder zwischen 35 und 60 schon bei dir im Unterricht.“
Jill stellte sich rasch hinter die beiden und blickte um Myrtle herum Georgia hinterher. Das war ja interessant, Jill versuchte also, jemandem aus dem Weg zu gehen.
Myrtle hoffte, dass Miles nichts in seinem Medizinschränkchen hatte, von dem er nicht wollte, dass jemand davon erfuhr.
„Gute Güte“, seufzte Miles, „die Party wird immer besser.“
Myrtle drehte sich zur Vordertür. Der unpassend getaufte Tiny füllte mit seiner riesigen Gestalt den Türrahmen komplett aus und musterte den Raum.
„Was macht der denn hier?“, fragte sich Myrtle. „Er ist kein Mitglied des Buchclubs. Auch kein Angehöriger eines Mitglieds des Buchclubs. Ich glaube nicht einmal, dass er lesen kann.“
„Vielleicht sucht er einen Freund?“, erwiderte Miles und nahm missmutig einen Schluck von seinem Cocktail. „Jetzt, wo er wieder alleinstehend ist, sucht er wohl nach einer neuen Frau, die er schikanieren kann.“
„War er eigentlich jemals klein?“, fragte Myrtle. „Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern.“
Tiny hatte sich mittlerweile unter die Menge in Milesʼ Wohnzimmer gemischt. Er hatte es doch tatsächlich geschafft, seine gut zwei Meter und 150 Kilo in einen unbequem aussehenden Anzug zu stopfen. Wobei er auf seine Socken vergessen hatte.
„Vielleicht ist der Name eine Anspielung auf die Größe seines Gehirns“, murmelte Miles.
„Du überraschst mich, Miles. Das ist nicht sehr freundlich.“
„Wäre er freundlich, hätte ich nichts gesagt.“
„Er riecht immer ein wenig nach Benzin“, sinnierte Myrtle.
„Vielleicht beträufelt er sich immer ein wenig damit nach getaner Gartenarbeit. Heutzutage ist Benzin ja schon fast genauso teuer wie Parfüm.”
Sie beobachteten, wie sich Tiny einen Weg zu den Cocktails bahnte. Miles blickte ihm finster hinterher. „Wenn wir schon einen ungebetenen Gast haben müssen, warum dann ausgerechnet ihn?“
Als ob er ihm zeigen wollte, wie recht er hatte, brach Tiny sofort einen Streit mit Simon Caulfield und Georgia vom Zaun, die mittlerweile zurückgekehrt war. „Die Jagd ist nichts Falsches, Simon.“
„Waffen sind gefährlich“, sagte Simon mit angespannter Stimme. „Ich würde so ein Ding nicht in meinem Haus haben wollen. Wenn man so wie du Kinder hat, sollte man verantwortungsbewusster sein.“
Bei der Erwähnung seines Nachwuchses blickte Tiny Simon ausdruckslos an. Dann verstand er. „Oh. Na ja, er ist ja schon 18. Kein Kleinkind mehr...“
Miles stöhnte. „Dieser Abend ist ein Desaster. Ich habe Tiny Kirk als ungebetenen Gast, der auch noch herumstänkert, und ich bin nicht einmal groß genug, um ihn rauszuwerfen. Dann ist Georgia Simpson hier, die auf der Suche nach mobilen Toiletten durch das Haus wankt.” Er zeigte auf Georgia, die sich nun an Tinys massigem Oberarm abstützte. Oder ihn anschmachtete. Oder beides. „Und wer weiß, was als nächstes passiert“, hisste er.
Jill wählte eine Nummer auf ihrem Handy und runzelte die Stirn. Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. „Er hebt nicht ab.“
„Wer?“, fragte Myrtle.
„Cullen.“ Jill gab ein mitleiderregendes Seufzen von sich. „Er sollte doch das Fleisch im Schmortopf wenden. Vielleicht ist er eingeschlafen. Er hatte einen schweren Tag. Ich sollte wohl rüber gehen und es selbst machen. Miles, es war wunderbar. Wir sehen uns dann gleich bei mir.“
Noch bevor sie sich auf den Weg machen konnte, kam ihre Schwester Willow in einem wehenden Hippiekleid angeschwebt. Ihr blasses Gesicht sah besorgt aus. Sie streckte eine Hand aus und griff Jill unsanft am Oberarm. „Hast du gerade gesagt, dass du nach Hause gehst?“, fragte sie. Myrtle war sich sicher, dass sie Jill genau verstanden hatte.
Jill schnappte zurück. „Ja, das tue ich. Nein, Cullen hat nicht abgehoben. Und ja, ich muss das Fleisch wenden und sichergehen, dass alles für die Gäste bereit ist. Möchtest du sonst noch etwas wissen?“ Sie reckte ihr Kinn vor.
Für eine angeblich friedfertige Person sah Willow mehr als streitlustig aus. „Wo ist er denn? Wenn er nicht hier ist und nicht dort, was tut er denn dann? Warum ist er nicht zu Hause und hilft dir? Ich frage mich außerdem, wo Sherry hin ist. Hast du bemerkt, dass sie nicht mehr da ist?“
Jills Gesichtsfarbe nahm einen wenig schmeichelnden Rotton an.
„Weißt du, warum heute alle zu dir rübergekommen sind und Beilagen vorbeigebracht haben? Weißt du warum? Weil sie wissen, dass du dir so ein Essen gar nicht leisten kannst. Vielleicht würdest du es dir leisten können, wenn Cullen sich endlich dazu aufraffen könnte, einen Job zu suchen.“
Jill setzte ein mildes Lächeln auf. „Ich bin mir sehr wohl der Freundlichkeit aller bewusst. Sie wollen alle nur nett sein, Willow. Und arbeiten, das ist einfach nicht Cullens Gabe. Und du verstehst doch so viel von Gaben, nicht wahr? Du sprichst doch immer davon, wie der große Erschaffer uns alle, Tier wie Mensch, mit besonderen Gaben ausstattet...“
Auf diese Aussage reagierte Willow mit einem schrillen Geräusch, das Myrtle an einen Rauchmelder oder eine Diebstahlsicherung erinnerte. „Cullens Gabe ist das Trinken, Jill. Etwas anderes kann er doch gar nicht.“
Jills freudiges Gesicht verdüsterte sich. Sie stieß einen zischenden Laut aus und Myrtle beobachtete erschüttert, wie die beiden aufeinander losgingen. Die Gäste in der Schlange vor dem Bad bewegten sich hingegen keinen Millimeter. Schließlich war es Tiny Kirk, der herüberkam und dem Trubel ein Ende setzte. Jill befreite ihren Arm aus Tinys Griff, seufzte tief und lief zur Tür hinaus. Willow sah plötzlich eingefallen aus und wusste offensichtlich nicht, was sie als nächstes tun sollte. Schließlich verschwand sie in Miles‘ Wohnzimmer, setzte sich auf das Sofa und blickte sich ratlos um, so als ob sie überrascht wäre, bei einer Dinnerparty zu Gast zu sein.
*****
„Siehst du“, sagte Myrtle ernst zu Tippy Chambers, die ebenfalls im Wohnzimmer saß, „das Problem an einem Dinnerclub ist, dass die Ehemänner auch dabei sind. Damit sind es nicht mehr ein gutes Dutzend Leute, sondern gleich doppelt so viele.“
„Was genau willst du mir sagen, Myrtle? Sollten wir die Anzahl der Teilnehmer beschränken?“
Myrtle schüttelte eilig den Kopf. „Nein, ich will damit sagen, dass das allgemein nicht funktioniert. Ich glaube, wir sollten wieder zum Buchclub zurückkehren. Zurück zu einer überschaubaren Anzahl an Leuten, die sich wieder untertags trifft. Zurück zu Büchern.“
„Aber den alten Buchclub waren doch alle schon leid, Myrtle. Deshalb machen wir ja was anderes.“
Tippy klang einfach immer abwertend, wenn sie sprach, befand Myrtle. Sie war wohl schon so lange reich, dass sich das Geld in ihren Stimmbändern verankert hatte. Aber musste Tippy denn so laut sprechen? Myrtle war noch lange nicht taub, aber Tippy schien das immer wieder zu vergessen.
„Natürlich weiß ich das, Tippy. Aber ich dachte, wir könnten den Buchclub zu einem richtigen Buchclub abändern. Eine neue und verbesserte Version des alten Clubs, in dem wir Klassiker diskutieren. Mit klassischer Literatur wäre niemand gelangweilt.“
Tippy runzelte die Stirn und Myrtle war sich nicht sicher, ob sie ihr folgen konnte. „Klassiker? Wie Das Tal der Puppen?“
Myrtle erschauderte. Das würde schwieriger werden als erwartet. Sie blickte auf, als Miles an ihr vorbeieilte und auf die Menge zusteuerte. Auf so engem Raum wirkte die Party gleich noch besser besucht. Waren denn noch mehr Leute gekommen? Etwa noch mehr ungebetene Gäste? Es schien so, als hätte sich die Zahl der Leute verdreifacht, genauso wie der Geräuschpegel. Georgia Simpson war besonders laut. Irgendwie hatte sie es geschafft, sich komplett zu betrinken, noch bevor der Dinnerclub überhaupt richtig begonnen hatte. War sie vielleicht schon angetrunken gekommen?
Georgia benahm sich tatsächlich noch lauter und vulgärer als sonst. Sie brüllte Simon Caulfields Frau Libba an, die direkt neben ihr stand und alles andere als taub war. „Auf dem Flohmarkt gab es überhaupt nichts Brauchbares, das kannst du mir glauben. Man würde doch meinen, dass mal irgendwann wer was halbwegs Gescheites aus seinen Schränken zieht, um es dort zu verkaufen. Aber nein! Nichts dabei! Nicht, dass ich Geld hätte. Nicht wie andere Leute.“
Miles schlich sich herüber zu Myrtle und zitierte: „Im Raum ist ein Kommen und Gehen der Frauen; Sie sprechen über Michelangelo.“
Myrtle lächelte. „Okay, Prufrock. Guter Einsatz von Ironie. Sie hat offensichtlich zu tief ins Glas geschaut.“
„Wohl eher zu tief in ein ganzes Weinfass“, erwiderte Miles trocken.
Myrtle erschauderte, als Erma Sherman auf sie zukam und schrie: „Das ist wirklich wunderbar. Wisst ihr, ich komme ja abends nicht oft raus. Nicht so wie Myrtle.” Sie gab ein wieherndes Lachen von sich und klang noch mehr wie ein Esel als für gewöhnlich.
Myrtle erstarrte beim Ertönen ihres Namens und blickte Erma eisig an.
„Myrtle bricht jede Nacht um 2 Uhr zu einem Spaziergang auf.“ Erma grinste süßsäuerlich. „Ich frage mich ja manchmal, ob sie nicht einen Verehrer besucht.“
„Ich gehe nicht jede Nacht raus“, entgegnete Myrtle frostig. „Und gewiss treffe ich keine Verehrer. Ich schlafe nur nicht so gut, das ist alles.“
„Nicht so gut?“, murmelte Miles. Myrtle war chronisch schlaflos. Es war überhaupt ein Wunder, dass sie funktionierte, bei dem wenigen Schlaf, den sie für gewöhnlich bekam.
„Außerdem“, fragte Myrtle, „warum bist du überhaupt um zwei Uhr morgens wach?“
„Ich bin nicht immer wach. Nur wach genug, um zu hören, wie alte Damen ihren Gehstock auf die Straße hämmern.“
Darauf hatte Myrtle nichts mehr zu erwidern und so nahm sie wutschäumend einen Schluck von ihrem Sherry. Zum Glück wechselte das Gespräch zu Schlafproblemen im Allgemeinen, während immer mehr Leute zu ihnen stießen und sich schließlich alle Wein nachschenken gingen.
„Ich hasse es, neben ihr zu wohnen“, flüsterte Myrtle Miles zu. „Ich bin doch nicht wirklich so laut, wenn ich spazieren gehe, oder?“
„Nicht, dass ich es bemerkt hätte. Allerdings bin ich um zwei Uhr meistens auch wach.“
„Das nächste Mal, wenn ich bei dir vorbeigehe und deine Lichter an sind, klopfe ich. Das wird Erma einen Schrecken einjagen.“
Georgia griff nach einer Serviette und legte ein paar Käsestangen hinein, wobei sie Unmengen an Brösel um sich herum verteilte. Sie schien die Unordnung, die sie verursachte, nicht zu bemerken und winkte mit der Hand. „Blanche“, rief sie. „Was machst du hier? Ich dachte ja nicht, dass du kommst, nachdem du Jill so hasst.”
Myrtle rückte näher heran. Miles verdrehte angesichts ihrer Neugierde nur die Augen und ging in die Küche, um noch mehr Wein zu holen.
Blanche blickte sich unbehaglich um.
„Du suchst sie also auch. Sag mir, wenn du sie gefunden hast. Denn wenn ich sie sehe, verpasse ich ihr direkt eines aufs Auge. Bam!“ Georgia torkelte nach vorne und Blanche wich zurück, offensichtlich fasziniert und angeekelt zugleich. „Jill hat mit dir auch eine Nummer abgezogen, nicht wahr? Ich weiß aaaaalles darüber, Blanche. Aaaaaaalles.“
Angesichts dieser merkwürdigen Anspielung eilte Blanche mit feuerrotem Kopf aus dem Zimmer.
Georgia schien nicht wirklich bemerkt zu haben, dass Blanche verschwunden war, und stopfte sich die restlichen Käsestangen sowie einen Teil der Serviette in den Mund. Myrtle fragte sich, ob es die Mühe wert wäre, Georgia in ihrem Zustand auch nur irgendwas zu fragen. Sie würde vielleicht mehr aus ihr herausbekommen, wenn sie nicht auf der Hut war, aber der Nachteil wäre, dass Georgias Informationen vielleicht nicht viel Sinn ergeben würden. Aber sie hatte so eine Vermutung, dass Georgia ihr auf die Sprünge helfen konnte, was Blanches Feindseligkeit gegenüber Jill anging.
Myrtle hatte sich gerade dazu entschieden, Georgias geistigen Fähigkeiten eine Chance zu geben, als plötzlich ein schriller Schrei ertönte. Erma Sherman fuchtelte mit ihren Armen wild durch die Luft und verscheuchte die Leute wie ein Bulldozer. „Mein Diamantohrring“, kreischte sie. „Er ist verschwunden. Macht euch alle auf die Suche!“
Es war wirklich erstaunlich, wie schnell alle Ermas Befehl folgten. Zum Glück konnte Myrtle ihr Alter vorschieben, um sich nicht an der Suche beteiligen zu müssen. Sie sah so schwach wie nur möglich drein, während sie sich zu Milesʼ Sofa kämpfte. Mittlerweile waren alle auf ihren Knien und suchten mit den Händen den Teppichboden ab. „Wir müssen ihn finden“, heulte Erma. „Er ist ein Vermögen wert. Echte Diamanten. Ein Familienerbstück...“
In diesem Moment kam Miles mit einem Tablett voller Rotwein durch die Küchentür und stürzte über die vornüber gebeugte Tippy Chambers. „Aaaaaaaah!“ Das Tablett flog durch die Luft und die Getränke ergossen sich über die Rücken der Gäste. Überall waren Glasscherben und Alkohol verteilt. Miles lag ausgestreckt auf dem Boden, während einige Gäste fluchten, dass ihre Garderobe in die Reinigung müsste. Es herrschte ein heilloses Durcheinander. Myrtle genoss das Spektakel aus der Ferne.
„Mein Diamantohrring! Sucht weiter!“, befahl Erma.
„Ich glaube nicht, dass jemand riskieren möchte, in eine Glasscherbe zu fassen“, sagte Miles trocken, als er sich vorsichtig aufrichtete und seine Brille zurechtrückte. „Vielleicht finde ich ihn beim Saubermachen.“
Die Party hatte zweifelsohne eine negative Wendung genommen. Und es schien leider so, als wäre Ermas verlorener Ohrring schließlich das aufregendste, das es zu berichten geben würde. Sloan würde sicherlich enttäuscht sein.
Myrtle sah sich um und schwitzte. Es waren einfach viel zu viele Menschen auf zu engem Raum. Miles riss die Fenster auf, um mehr Luft hereinzulassen. Simon Caulfield und seine Frau Libba gingen an Myrtle vorbei. Simon stapfte mit wütendem Gesichtsausdruck und triefnassem Anzug weiter in Richtung Tür.
Libba lehnte sich über das Sofa zu Myrtle. „Kannst du Miles unseren Dank ausrichten? Simon hat einiges vom Wein abbekommen, daher gehen wir nach Hause. Habt noch viel Spaß.” Sie verschwand hinter ihrem Mann durch die Tür.
Miles kam einige Minuten später bei Myrtle vorbei, um ein Stück Glas aufzuheben, das irgendwie am anderen Ende des Raumes gelandet war. „Es gibt erste Opfer. Simon und Libba haben das Feld verlassen.”
Tippy kam herüber. „Willow ebenso“, fügte sie mit einem Seufzer hinzu. „Der Wein war auf ihrem Kleid gelandet und sie wollte sich umziehen gehen. Na ja, sie wird wohl fertig sein, bis wir alle bei ihr sind. Ihr Haus steht als nächstes auf der Liste.“
„Nun, ich denke“, sagte Miles und hob vorsichtig eine Glasscherbe in die Höhe, „wer immer das Feld räumen möchte, dem steht es frei, dies zu tun.“ Er sah sich um. „Hast du Sherry Angevine irgendwo gesehen? Ich wollte sie etwas zu ihrem Blumenbeet fragen.“
„Nein, ehrlich gesagt habe ich sie nur zu Beginn der Party gesehen. Ich habe sie eigentlich nur bemerkt, weil sie so viel Augen-Make-up trug. Sie sieht aus wie einer der Zombies aus Die Nacht der lebenden Toten“, sagte Myrtle.
Tippy unterbrach ihre Suche nach dem Ohrring und verkündete: „Okay, Damit wir im Zeitplan bleiben, sollten wir uns nun auf den Weg zum nächsten Haus machen. Ich bin sicher, dass Ermas Ohrring hier noch irgendwo ist, wir überlassen die Suche also Miles. Bitte denkt daran, dass wir nun zu Willow Pearce für Suppe und Salat gehen, dann zu Jill und schließlich zu Myrtle für das Dessert. Wir sind ein bisschen spät dran”, dabei warf sie einen scheltenden Blick auf die nichtsahnende Erma, die sich nicht bewusst zu sein schien, dass sie gerade gerügt wurde, „wir werden also wohl nicht länger als 30 Minuten bei Willow bleiben.“
So machten sich alle zu Willow auf und sahen dabei aus wie eine herausgeputzte Touristengruppe, die von Tippy angeführt wurde. Willow wohnte die Straße runter in einem kleinen Ziegelhaus, auf der Seite, die abseits des Sees an der Straße lag. Die Straße war von alten Bürgersteigen geziert und wurde an beiden Seiten durch massive, alte Bäume vor Sonne geschützt. Die Grundstücke der Häuser auf Myrtles Straßenseite grenzten alle an den See, die auf der gegenüberliegenden Seite, so wie das von Red, zeigten gen Wald. Die Straße folgte dem Verlauf des Sees und machte daher eine Kurve, weshalb Myrtle die Häuser dahinter, so wie jene von Willow, Sherry oder auch Jill, nicht sehen konnte.
Willow hatte ihr Licht vor der Haustür nicht an, weshalb Tippy die Gruppe stoppte. „Ich gehe voraus und bitte sie, das Licht im Vorgarten anzumachen. Nicht, dass unsere älteren Damen noch stürzen.”
Myrtle war etwas eingeschnappt, dass sie als „ältere Dame“ bezeichnet wurde, und das von Tippy, die selbst nicht mehr die jüngste war, sich aber halt gut gehalten hatte. Tippy lief die Einfahrt hinauf, wobei ihr Seidenkleid in alle Richtungen flatterte. Eine Katze sprang fauchend aus dem Schatten, woraufhin Tippy einen kurzen Schrei von sich gab, bevor sie sich wieder sammelte. Sie klopfte an der Tür und öffnete sie dann vorsichtig. Sie griff mit einer Hand hinein und schaltete die Außenbeleuchtung an, die den Blick auf einen gepflegten Garten sowie ein Kräuterbeet freigab. „Willow?“, rief Tippy. Sie zuckte mit den Schultern und bedeutete den anderen einzutreten. „Immerhin erwartet sie uns ja“, sagte sie.
Beim Eintreten wurde klar, dass Willow sie tatsächlich erwartet hatte. Die auf den Tischen bereitgestellten Schüsseln mit verschiedenen Nudelsalaten ließen daran keinen Zweifel aufkommen. „Wo ist sie denn?“, fragte Myrtle Miles verärgert. „Also wirklich, das geht doch zu weit. Ich weiß, Willow ist New Age und so, aber nicht auf ihrer eigenen Party zu erscheinen, ist doch zu viel des Guten. Sie könnte uns zumindest fragen, ob wir Salatbesteck brauchen. Denn ja, wir werden Salatbesteck für den Salat brauchen.”
Miles wollte gerade antworten, als Willow endlich in den Raum schwebte und dabei eine weitere Katze auf dem Arm trug. Sie hatte ihr mit Weinflecken übersätes Kleid gegen ein weiteres wehendes Gewand eingetauscht. Myrtle war sich sicher, dass sie in Willows Schlafzimmer einen ganzen Schrank solcher wehenden Hippie-Dinger finden würde. Dieses hier war zumindest nicht ganz so farbenfroh wie das, das sie bei Miles getragen hatte.
Willow deutete mit der Hand auf die Schüsseln. „Bedient euch.“
Das Telefon läutete und Willow griff zu einem Schnurlostelefon. „Hallo, Paul. Jetzt? Wo ist der Minivan? Wie viele Katzen sind es? Nein, ist schon gut, ich bin in ein paar Minuten da.” Sie legte auf und blickte sich nach ihrem Autoschlüssel um, den sie schließlich auf einem der Tische fand. Willow setzte die Katze auf dem Tisch ab und wehte mit ihrem Schlüssel in der Hand in Richtung Tür.
„Willow?”, fragte Tippy, die offensichtlich nur schwer ihre höfliche Stimmlage halten konnte. „Du lässt uns Gäste doch nicht alleine, oder?“
Willow hauchte als Antwort lediglich: „Oh, doch. Ich muss gehen. Ein Freund von mir hat eine ganze Kolonie wildlebender Katzen entdeckt und wollte sie gerade in eine Tierklinik bringen, als sein Van liegen blieb. Ich muss ihm helfen. Myrtle weiß Bescheid“, sagte sie. Das tut Myrtle nicht, dachte Myrtle. Und Myrtle wollte das auch gar nicht.
Tippy war perplex. „Ausgerechnet jetzt? Diese Katzen müssen genau jetzt in die Tierklinik gebracht werden?” Myrtle hatte noch nie zuvor einen solch schrillen Unterton in Tippys Stimme wahrgenommen.
Willow legte ihren Kopf zur Seite. „Die Katzen werden verängstigt sein, Tippy. Sie müssen zur Sterilisation in die Klinik gebracht werden. Außerdem wartet man dort auf sie und mein Freund muss ebenfalls abgeholt werden.“
Tippy öffnete den Mund, aber Willow war bereits zur Tür hinaus verschwunden.
„Na also bitte“, sagte Myrtle beleidigt. Dieser Dinnerclub war wirklich eine saublöde Idee. Wenn sie einfach ein schönes Glas Chardonnay getrunken und dabei über Dickens diskutiert hätten, dann wäre das alles nicht passiert.
Tippy schnalzte mit der Zunge. „Ich bin mir nicht sicher, ob deine Idee mit dem Dinnerclub eine so gute war, Myrtle.“ Mehrere der Anwesenden sahen Myrtle scheltend an.
„Meine...“
„Gut, es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als die Rolle der Gastgeberin zu übernehmen.“ Tippy verschwand umgehend in die Küche und kam mit Salatbesteck zurück. Sie stellte sich hinter den Tisch und begann, auf die Teller zu schöpfen. Myrtle sprühte vor Zorn. Sie wollte ja eigentlich überhaupt nicht hier sein, Jetzt hatte sie auch noch ein schlechtes Gewissen wegen einer Party, die gar nicht ihre Idee gewesen war. Sie seufzte. Zu allem Überdruss musste sie das Ganze auch noch für Sloans Blog dokumentieren. Verzweifelt zog sie ihr Handy heraus und machte unmotiviert ein paar Schnappschüsse.
Vielleicht war es an der Zeit für einen kleinen Drink. Bei Miles hatte sie nicht wirklich viel getrunken, denn der Andrang auf die Toiletten war zu groß gewesen. Sie blickte sich um. Keine Getränke in Sicht. Nicht nur keine alkoholischen Drinks, nein, auch kein Wasser, kein Eistee, keine Limonade. Sie würde die Hoffnung auf ein Glas Wein wohl aufgeben müssen. Bestimmt erstreckte sich Willows Gesundheitsbewusstsein auch auf die Abstinenz von Alkohol. Verdammt.
„Unverzeihlich!“, murmelte Myrtle vor sich hin.
„Es gibt keinen Eistee“, murmelte Tippy Myrtle zu. Offensichtlich hatte der Mangel an Höflichkeit sie in einen Schockzustand versetzt.
„Ich sehe mal nach, ob im Kühlschrank irgendetwas zu finden ist, das wir servieren können. Willow hat sicherlich etwas vorbereitet“, sagte Myrtle.
„Ich kann nachsehen“, sagte Tippy rasch.
„Komm schon, Tippy, ich werde schon nicht hinfallen und mir in Willows Küche den Hals brechen, ich verspreche es dir.“ Tippys übertriebener Beschützerinstinkt begann Myrtle langsam auf die Nerven zu gehen. Sie lehnte sich auf ihren Stock und stapfte in Richtung der Küche.
Diese ähnelte in keinster Weise Myrtles eigener, sonnigen, kitschigen Küche. Wo Myrtle rot karierte Vorhänge angebracht hatte, hingen bei Willow dunkle Leinenstoffe. Wo Myrtle auf natürliches Licht setzte, hatte Willow Lavalampen aufgestellt. Und wo Myrtle Kerzen für seltene Abendessen im Kerzenschein aufgestellt hatte, hatte Willow Räucherstäbchen angebracht. Zumindest, dachte Myrtle, schien Willow ihre Affinität für Hähne in der Küche zu teilen. Zumindest auf den Ofenhandschuhen. Auch wenn Hähne nicht wirklich zu der ansonsten bizarren Dekoration passten, dachte Myrtle, als sie sich durch Willows Kühlschrank wühlte, der mit lauter Biozeugs gefüllt war. Schließlich fand Myrtle hinter dem Tofu, einem Plastikbeutel mit geschnittenem Gemüse sowie Brokkoli- und Kohlköpfen einen Krug Eistee.
Mittlerweile hielten alle einen Teller in der Hand. Zumindest sah das Essen lecker aus, auch wenn Willow sie sitzen gelassen hatte. Eigentlich, dachte Myrtle, spielte sich vor ihnen ein einziges Drama ab. Blanche sah aus, als wäre sie von einem LKW überfahren worden, vermutlich weil ihr davor graute, in Jills Nähe zu sein. Auch wenn sie Jill schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte. Genau genommen nicht mehr seit sie Milesʼ Haus verlassen hatte, um nach dem Fleisch zu sehen. Aber Blanche war wohl immer noch besorgt, dass sie sich über den Weg laufen könnten. Myrtle konnte sich nicht vorstellen, dass Jill während eines Dinnerclubs einen Streit mit Blanche anfangen würde, auch wenn sie sich an diesem Abend schon mit ihrer eigenen Schwester gestritten hatte.
Plötzlich war Sherry wieder aufgetaucht, wo immer sie sich herumgetrieben hatte. Sie schien nun noch mehr Make-up aufgelegt zu haben und sah aus wie eine Katze, die einen Kanarienvogel verspeist hatte. Sie war zerzaust, überdreht und lachte lauthals über alles, was Blanche sagte. Und Myrtle war sich ziemlich sicher, dass Blanche gerade überhaupt nicht zum Scherzen zumute war.
Erma Sherman war ungewöhnlich schweigsam und fuhr sich ständig über das Ohrläppchen, an dem sich früher ihr verschwundener Ohrring befunden hatte. Myrtle war lediglich froh, dass ihr mal eine Pause von Ermas Eskapaden gegönnt war.
Der Boden war übersät mit Salat, was wohl auf die Betrunkenheit einiger Gäste zurückzuführen war. Miles ging zu Myrtle und sagte: „Ich verschwinde noch einmal für ein paar Minuten nach Hause. Falls jemand nach mir sucht.”
„Dein Perfektionismus meldet sich wohl zu Wort. Regst du dich immer noch über die Rotweinflecken auf deinem Teppich auf?“
Miles zuckte mit den Schultern. „Nur ein bisschen. Das meiste ist auf dem Parkett gelandet, aber die Teppiche waren teuer. Ich laufe hinüber und lege noch ein paar Papierservietten auf. Ich bin zurück, bevor wir weiter zu Jill gehen.”
Einige der Damen hatten Milesʼ Verschwinden bemerkt. Der ältere, weibliche Teil der Bevölkerung Bradleys schenkte alleinstehenden Herren besondere Aufmerksamkeit. Sie warteten dann mit ihren schmackhaftesten Eintöpfen auf und betonten unermüdlich, wie schwer es doch war, für nur eine Person zu kochen und bestanden darauf, den Neuankömmling zu verköstigen. Für die Buchclubtreffen holten sie ihre schönsten Kleider hervor und legten das Make-up sorgfältig auf. Und Miles wurde noch immer als frisch zugezogen angesehen. So wie Bradley funktionierte, galt er wohl auch in zehn Jahren immer noch als Neuankömmling. In seiner Todesanzeige würde vermutlich stehen: „Miles Standish, kürzlich nach Bradley gezogen, verstarb...“
Erma packte Myrtle fest am Arm. „Wo ist Miles, Myrtle? Wo ist er hingegangen?”
Myrtle befreite sich zornig aus ihrem Griff. „Er ist nach Hause gegangen, um das Chaos zu beseitigen, Erma. Er will verhindern, dass die Flecken eintrocknen und hatte kaum Zeit zum Saubermachen.“
„Ich muss kurz bei ihm vorbeischauen“, sagte Erma atemlos. „Was, wenn er auf meinen Ohrring vergisst? Er landet vielleicht versehentlich im Müll.” Sie stürzte aus dem Haus.
*****
Willows Teil des wandelnden Dinners war nicht halb so lebhaft, wie der von Miles. Die Zeit schien sich endlos hinzuziehen. Ein allgemeiner Seufzer der Erleichterung war zu vernehmen, als Tippy ankündigte, dass es nun Zeit wäre, zu Jill weiterzuziehen.
Auf dem Weg dorthin war die Gruppe deutlich schweigsamer. Myrtle fühlte sich erschöpft und allen anderen schien es gleich zu ergehen. Im Gegensatz zu Willows Haus, war das von Jill sowohl innen als auch außen hell erleuchtet. Tippy atmete erleichtert durch. „Ich bin froh, dass wir jetzt zu Jill gehen“, sagte sie. „Ich spiele nicht gern Gastgeberin in einem fremden Haus. Und Jill hat immer alles bestens durchgeplant.”
„Jill ist organisierter als ihre Schwester“, stimmte Myrtle ihr zu.
Aber Jill war nicht organisiert genug, um die Gesellschaft an der Tür in Empfang zu nehmen, was allgemein für Verwunderung sorgte. Tippy öffnete vorsichtig die Vordertür und schielte hinein. „Jill?“, rief sie. Sie zögerte. „Vielleicht ist sie hinten im Garten. Sie erwartet uns schließlich!” Tippy stieß ein gezwungenes Lachen aus, nachdem sich das Szenario von Willow wiederholte.
Die Gruppe ging schweigend zur Haustür hinein. Miles hatte die Gruppe gerade eingeholt und warf Myrtle einen fragenden Blick zu. „Jill hat sich abgesetzt“, flüsterte diese.
„Jill“, rief Tippy erneut. Sie zögerte kurz, dann rief sie: „Cullen?“ Sherry, die nebenan wohnte, schien zu denken, dass Cullen schon etwas lauter gerufen werden musste. „Cullen!“, dröhnte ihre Stimme durch das Haus.
Cullen kam in den Eingangsbereich geschlurft und sah verkatert aus. Oder immer noch betrunken, da war sich Myrtle nicht sicher. Nun schien er die große Menschengruppe an seiner Tür zu bemerken. „Oh, der Dinnerclub“, sagte er. „Wo ist Jill?“
„Das solltest wohl besser du uns sagen“, schimpfte Myrtle. Was lief nur falsch in dieser Familie? Hatten die noch nie eine Party gegeben?
„Vielleicht ist sie in der Küche. Wenn sie Kopfhörer trägt, hört sie uns womöglich nicht.“
„Aber doch nicht, wenn sie uns erwartet“, sagte Tippy zweifelnd. Sogar Tippys makellose Manieren schwanden langsam angesichts der Unhöflichkeiten dieses Abends.
„Das“, bemerkte Myrtle beiläufig gegenüber Tippy, „ist genau der Grund, warum wir den Dinnerclub aufgeben und wieder zu einem Buchclub zurückkehren sollten. Das alles wäre nie passiert, wenn wir alle einfach Gurkensandwiches essen, Eistee trinken und Stolz und Vorurteil lesen würden.”
Die Küchentür wurde geöffnet und alle blieben wie angewurzelt stehen. Sie hatten Jill gefunden. Auf dem Küchenboden, den Kopf in einer Blutlache und daneben eine Bratpfanne aus Gusseisen.