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Myrtle blieb nicht lange am Boden liegen. Ob verletzt oder nicht, sie würde bestimmt nicht hier bleiben und dem Mörder weiter eine Zielscheibe sein. Von der Katze war keine Spur zu sehen und sie fragte sich nun, ob sie sich das nur eingebildet hatte. Sie suchte den Boden nach ihrem Stock ab, ergriff ihn, richtete sich auf und humpelte zu Milesʼ Haus. Sein anfänglicher Ärger darüber, mitten in der Nacht geweckt zu werden, wich der Sorge, als er sah, wie mitgenommen Myrtle war.
„Hast du denn das Auto gesehen?“, fragte Miles, als er Myrtle eine heiße Tasse in die Hand drückte.
„Nein, ich habe es gehört und dann etwas davonrasen gesehen, aber das war es auch schon. Die Lichter waren nicht an.”
„Natürlich nicht. Da wollte jemand nicht erkannt werden.“ Miles legte den Teebeutel auf seine Untertasse.
„Wer würde dich umbringen wollen?“, fragte Miles. Wenn er ehrlich war, fielen ihm da gleich mehrere Leute ein. Sogar er würde es manchmal auf diese Liste schaffen. Und Myrtles Sohn so ziemlich jeden Tag. „Also ich meine, wer von den Verdächtigen?“
Zu seinem Glück war Myrtle heute nicht so einfach zu beleidigen. „Weißt du, das geht alles zurück auf dieses Plappermaul Erma. Sie hat beim Bestattungsinstitut der halben Stadt erzählt, dass ich nur noch ein paar Beweise bräuchte, um den Mörder ausliefern zu können. Ich könnte mir vorstellen, dass die meisten Mörder eine solche Nachricht als eher unangenehm empfinden.”
„Okay, du sagst die halbe Stadt, aber wer war denn wirklich dort? Ich kann mich an nicht viel erinnern, außer, dass Erma sich wie immer zum Affen gemacht hat.“
„Von deinen Lieblingsverdächtigen? Georgia war da“, sagte Myrtle und ignorierte die Röte, die Miles ins Gesicht stieg. „Sherry war dort. Cullen hing irgendwo herum, aber ich weiß nicht, in welchem Zustand er war. Sherry könnte es Cullen erzählt haben. Willow war dort, allerdings schien sie aufgrund Ermas plastischer Beschreibung des Tatortes eher aufgewühlt gewesen zu sein. Simon und Libba haben zu diesem Zeitpunkt immer noch Gäste begrüßt, aber Cullen könnte es ihnen später erzählt haben. Also... eigentlich waren alle da.“
„Und du hast Ermas Geplapper nicht widersprochen?“
„Natürlich nicht. Sie war endlich mal interessant. Ich wollte doch sehen, wohin das alles führt.”
Miles seufzte. „Eigentlich ist es auch egal, wer dort war und wer nicht. Du warst auf der Titelseite des Lokalblattes, erinnerst du dich? Entweder es glaubt jemand, dass du ihm zu nahe auf der Spur bist, oder derjenige fürchtet, dass es bald soweit sein wird. Deine Schnüffelei erscheint jetzt nicht mehr so harmlos. Das letzte Mal, als du herumgeschnüffelt hast, hast du dabei geholfen, einen Mord aufzuklären. Jetzt erscheinst du mehr wie eine Verbrechensbekämpferin als eine alte, neugierige Lady.”
Miles unterdrückte ein Lächeln beim Gedanken an eine kreischende Myrtle in Kampfanzug, die losstürmte, um das Böse zu bekämpfen. „Also eigentlich weißt du gar nichts. Du hast Erma nur gesagt, dass du was weißt, weil du wütend auf sie warst. Und sie hat es gleich der halben Stadt erzählt.”
Myrtle war etwas verstimmt. „Ich weiß ja auch einige Dinge. Während meiner Ermittlungen habe ich einige interessante Informationen erhalten.“
Miles zog die Augenbrauen nach oben.
„Nun, zuerst einmal weiß ich, dass jemand Kenntnis von meinen nächtlichen Spaziergängen hat. Derjenige kennt meine Gewohnheiten gut genug, um auf mich hier draußen zu warten und mich dann niederzufahren.“
Miles nickte. „Wer weiß also davon?“
Myrtle schnaubte. „So gut wie jeder. Erma hat es beim Dinnerclub vor allen rausposaunt. Erinnerst du dich? Sie hat sich darüber lustig gemacht, dass ich Lärm mit meinem Stock verursachen würde.”
„Na klar. Und da standen eine Menge Leute rum, auch wenn ich mich nicht mehr erinnern kann, wer wirklich in Hörweite war.”
„Jeder war in Hörweite. Nimm es mir nicht übel, Miles, aber wir befanden uns auf beengtem Raum.”
Myrtle rührte ihren Tee um, während sie nachdachte. „Also ich weiß, dass Blanche Clark Angst vor Jill hatte, aber ich weiß nicht wirklich, warum.“ Sie hielt inne. „Aber ich denke, es hat was mit Jills Schnüffelei zu tun. Vielleicht hat Jill Blanche erpresst oder vielleicht war Blanche auch einfach nur in Sorge, dass Jill sie erpressen könnte. Oder Blanche hatte Angst, dass die Leute tratschen würden.”
„Ich verstehe das nicht wirklich“, sagte Miles, „warum sollte es Blanche denn kümmern, ob Jill Informationen über sie hatte. Du hast gesagt, dass Jill in deinem Medizinschränkchen herumgeschnüffelt hat, deshalb nehme ich mal an, sie hat das auch bei Blanche getan. Angenommen, sie leidet tatsächlich an irgendeinem gesundheitlichen Problem oder einer Sucht, würden die Leute dann nicht verstehen, dass sie Hilfe braucht?”
„Die Leute... du meinst Leute von dort, wo du hergezogen bist? Städter. Leute aus der Großstadt. Leute aus Atlanta.“ Myrtle schnaubte undamenhaft. „Ja, diese Leute würden Blanche einen Auflauf vorbeibringen, ihr vom Tablettenproblem ihres Onkels Edwin erzählen und ihr die Nummer der nächsten Entzugsklinik geben. Sie würden den Vorfall auch bald wieder vergessen und wieder in das Chaos ihres eigenen Lebens zurückkehren.”
„Aber nicht die Leute hier in Bradley?“
„Die Leute in Bradley wissen, dass es keine anderen Neuigkeiten gibt, über die getratscht werden kann. Sie würden Blanches Tablettensucht komplett ausreizen und ständig darüber sprechen. Sie würden ihr zuerst Mitleid entgegenbringen und dann über nichts anderes mehr reden. Sogar auf ihrem Totenbett wäre sie noch die arme Blanche, die tablettenabhängig war. Erinnerst du dich an Katy Johnson? Nein? Kannst du auch nicht, weil sie aus Bradley geflohen ist, bevor du hierhergekommen bist. Aber frag ruhig mal irgendjemanden nach Katy. Werden sie dir verraten, dass sie zuckersüß wie ein selbstgebackener Kuchen war? Werden sie erwähnen, dass sie sich für benachteiligte Kinder eingesetzt hat? Nein, sie wird für immer die Katy sein, die beim Wasserskifahren ihren Badeanzug verloren hat.”
„Und du hast gesagt, dass Georgia sauer auf Jill war.“ Miles nahm seine Brille ab und reinigte die Gläser.
„Sauer trifft es nicht wirklich. Ich glaube, fuchsteufelswild ist eher das Wort. Georgia glaubt, dass Jill sie um ihren Anteil an einem Lottogewinn betrogen hat.“
„Wie ist dein Besuch bei Georgia gelaufen?“, fragte Miles beiläufig.
„Ich hätte dich ja mitgenommen“, erwiderte Myrtle vorsichtig, „wenn ich nicht befürchtet hätte, dass du meine Befragung in einen Höflichkeitsbesuch verwandeln würdest.“
Dann fügte sie eilig hinzu: „Also ja, Georgia ist natürlich eine Verdächtige. Genauso wie Jills Nachbarin Sherry. Sie kennt Erma Sherman und ist trotzdem davon überzeugt, dass Jill eine schlimmere Nachbarin als Erma abgab. Damit wissen wir also, dass Sherry eine Dramaqueen ist, denn niemand ist eine schlimmere Nachbarin als Erma.”
„Warum denkt Sherry, dass Jill so schrecklich war?“
Myrtle schnaubte. „Aus irgend so einem lächerlichen Grund, von wegen Jill sei zu perfekt oder so. Ich könnte nur von einer Nachbarin träumen, die sich so sehr um ihren Garten kümmert, dass es schon nervig ist. Ach, und Jills Weihnachtsbeleuchtung nervt sie. Ich glaube, sie hatte sogar eine Affäre mit Cullen, nur um es Jill heimzuzahlen.“
„Warte! Moment mal. Die Geschichte mit der bösen Nachbarin ist keine große Sache, aber du hast mir nicht gesagt, dass Sherry und Cullen eine Affäre haben.“
„Das stimmt. Das läuft offenbar schon eine Weile. Zumindest hat Simon das angedeutet. Er hat Cullen beschuldigt, Jill umgebracht zu haben, um Sherry heiraten zu können. Und wo wir gerade von Simon sprechen, der war auch kein großer Freund von Jill. Er dachte wohl, Jill sei nicht gut genug für seinen Bruder.”
Miles schnaubte. „Der ist gut. Als ob Cullen gut genug für jemanden wäre.“
„Ja, aber ich habe die Jungs unterrichtet. Die Familie war zu der Zeit hoch angesehen. Der Vater hatte viel Geld und sie waren eine der reichsten Familien in Bradley. Es könnte also durchaus möglich sein, dass Simon auf Jill heruntersah, die aus einer Arbeiterfamilie stammte.“
„Und dann soll er sie nach so vielen Jahren umbringen?“ Miles sah skeptisch aus. „Wollte sonst noch jemand Jill loswerden?“
Myrtle überlegte. „Willow. Ich habe nun mehrere Versionen gehört ‒ einschließlich einer von dir ‒, dass Willow und Jill sich vor Jills Tod gestritten haben. Und dann sind sie sich auf deiner Party in die Haare geraten. Scheinbar ging es immer um Jills Ehe. Willow wollte, dass Jill Cullen verließ.“
„Von dort ist es doch noch ein weiter Weg bis zum Mord an der Schwester, nicht wahr?“, fragte Miles. „Du verlässt diesen Nichtsnutz nicht? Dann werde ich dich umbringen?“
Myrtle zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hatte sie einfach genug von ihrer Familie, Punkt. Gott weiß, wie ich manchmal über Red denke.“
„Das heißt, Blanche, Georgia, Sherry, Simon, Cullen und Willow hatten Probleme mit Jill Caulfield. Aber sonst war jeder überzeugt, dass sie eine von Gott geschickte Wohltäterin war“, sagte Miles. „Und wer immer Jill umgebracht hat, es muss jemand sein, den wir kennen. Jemanden, den wir für unseren Freund halten, und der dem Dinnerclub angehört. Aber dieser Jemand hatte keine Skrupel, dich einfach mit einem Auto niederzufahren. Sollten wir nicht die Polizei rufen?“
Myrtle blickte zur Seite. „Müssen wir das? Ich meine, was bringt das denn schon? Dann hält mir Red nur wieder einen Vortrag darüber, warum ich nicht mitten in der Nacht herumwandern soll. Und er würde darauf herumreiten, dass ich hingefallen bin, was nichts mit dem Mörder, sondern nur mit Schara zu tun hatte. Die arme Katze. Hat mir einen Dienst erwiesen und ist dann einfach in die Nacht verschwunden.“
„Er könnte herausfinden, wer es war. Er könnte bei den Nachbarn überprüfen, ob ein Auto verschwunden ist.“
„Das Auto ist vermutlich schon lange wieder dort, wo es sein soll. Und die meisten Häuser haben Garagen, da siehst du nicht, was drinnen geparkt ist. Außerdem kann ich das Auto nicht beschreiben. Ich kann den Fahrer ja nicht am Motorengeräusch beschreiben. Dann war es draußen auch noch staubtrocken, sodass es keine Reifenspuren gibt. Und das Auto hat nichts angefahren, also auch keine Farbflecken. Lass gut sein.“
Plötzlich erinnerte sich Myrtle an den vergifteten Eistee. Das war dann bereits der zweite Angriff auf ihr Leben. Sie öffnete den Mund und wollte es Miles gegenüber erwähnen, schloss ihn aber wieder. Es war besser, wenn sie ihm nichts davon erzählte, denn sonst würde er wirklich noch mit Red sprechen. Und es war ja nicht so, dass Myrtle Beweise für ihre Theorie hätte.
„Und sei vorsichtig“, sagte Miles.
„Ja. Sehr vorsichtig“, sagte Myrtle. „Während ich meine Ermittlungen weiterführe.“
Miles sah aus, als hätte er Kopfschmerzen.
„Ich werde sehr vorsichtig sein, Miles. Aber ich werde sicher nicht die größte Story meiner Journalistenkarriere sausen lassen. Ich muss nur noch etwas graben. Und ich weiß, dass es noch schwieriger werden wird. Red war nicht gerade glücklich, dass er mich beim Herumspazieren in der Nacht erwischt hat. Und jedes Mal, wenn ich jetzt meine Tür öffne, sehe ich ihn irgendwo in der Nähe. Er treibt mich in den Wahnsinn.“
„Tut er das?“, fragte Miles. „Dann sind die Seiten nun also vertauscht?“
Myrtle ignorierte ihn. „Er klebt wie eine Klette an mir. Er ist überall. Er ist wie Gott.“ Myrtle klang vollkommen erschöpft.
„Die Dinge müssen wirklich schlecht stehen, wenn du Red schon gottähnliche Eigenschaften zuschreibst“, sagte Miles besorgt.
„Hat er denn keinen Fall zu lösen? Ich kann meine Befragungen so nicht durchführen. Und ich muss wirklich mit Blanche Clark sprechen.”
„Warum lässt du Blanche nicht zu dir kommen?“, schlug Miles vor.
„Zu mir kommen?“
„Du könntest vorgeben, dass du wegen einem gesundheitlichen Problem vorläufig nicht aus dem Haus kannst. Ist Blanche denn nicht in dem Kirchenkomitee?“
„Ich glaube, dass sowohl Blanche als auch Tippy dabei sind. Miles, du bist ein Genie.“
„Danke“, sagte Miles bescheiden.
*****
Am nächsten Morgen setzte Myrtle das Komitee für Trauer- und Krankenbesuche in Bewegung. Myrtle lächelte, als es an der Tür läutete. Das könnte Blanche mit dem Essen sein. Die Befragung konnte gar nicht schlecht ausgehen, denn selbst wenn Myrtle nichts rausbekommen würde, würde sie zumindest etwas zum Essen bekommen. Ihre einzige Sorge war, als sie mit dem Stock durch das Wohnzimmer humpelte, dass jemand anderes von der Kirche kommen könnte. Was, wenn es stattdessen Prissy Daniels war? Myrtle erschauderte.
Es war Blanche. Myrtle seufzte erleichtert. Sie trug eine schwarze Hose und eine grüne Seidenbluse, kombiniert mit einem schönen Schal, der mit einer Nadel befestigt war. Myrtle, der Schals nie gut gestanden hatten, beäugte sie neidvoll. Seit Jills Tod sah Blanche um einiges flotter aus, fand sie.
Blanche ging schnurstracks in Myrtles Küche und stellte den Auflauf in den Kühlschrank, wobei sie ihr noch erklärte, wie er denn aufzuwärmen war. „Wie geht es dir denn?“, fragte sie besorgt.
Myrtle, die beinahe vergessen hätte, dass sie ja krank sein sollte, antwortete: „Ach, ich komme schon zurecht, Blanche. Gerade so, natürlich.“ Sie hustete schwach. Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, welche Krankheit sie angegeben hatte. Sollte sie einen schwachen Magen haben? Eine Halsentzündung? Eine schlimme Erkältung? Sie suchte in den Untiefen ihrer Erinnerung. Nein, entschied sie, es war die Grippe. Das war auch der Grund, warum Blanche einen Sicherheitsabstand zu ihr hielt.
Blanche lächelte Myrtle zu, hielt sich jedoch etwas entfernt. „Hat der Doktor gesagt, wann es dir denn besser gehen soll?“
Myrtle runzelte die Stirn. Diese Unterhaltung sollte sich nicht um ihre Gesundheit drehen, egal ob krank oder nicht. „Ich bin nicht hingegangen. Er hat... äh... die Diagnose über das Telefon gestellt. Ich glaube, er wollte nicht, dass ich die Keime in seinem Wartezimmer verbreite.“
Das war offensichtlich die falsche Wortwahl. Blanche vergrößerte den Abstand zwischen ihnen und eilte in Richtung Tür. „Nun, ich hoffe, es geht dir bald besser, Myrtle.“
„Oh, ich bin mir sicher, dass es mir bald besser geht“, sagte Myrtle rasch. „Der Arzt hat mir ein gutes Medikament verschrieben.” Es konnte nicht angehen, dass Blanche sie später an diesem Tag auf der Straße sah. Sie musste vorsichtig sein und natürlich ihren Besuch im Fitnesscenter heute sausen lassen. Mist.
„Es war so eine schreckliche Woche“, fuhr Myrtle fort. „Zuerst der Mord an Jill und dann werde ich auch noch krank... es kommt einfach alles zusammen.“ Sie sah, wie Blanche die Augen zusammenkniff. Da sie Blanche nicht verschrecken wollte, begann sie zu plaudern.
„Ich konnte es einfach nicht fassen, als ich Jill da so am Boden liegen sah. Was für ein Schock! Wer könnte nur so etwas tun, Blanche? Ich lebe hier ganz alleine, weißt du, und ich habe große Angst, dass einfach jemand reinkommt und mich mit meinem eigenen Kissen erstickt.“ Myrtle wrang ihre Hände. Sie hatte noch nie jemanden seine Hände wringen gesehen und schon gar nicht sie selbst. Aber in dem Moment erschien es ihr sinnvoll, das zu tun.
Blanches Stimme war sanft. „Ich glaube nicht, dass du vor irgendetwas Angst haben musst, Myrtle. Red wohnt doch direkt gegenüber, da kannst du doch gar nicht sicherer sein. Er ist immerhin der Polizeichef. Außerdem wurde Jill gewiss wegen etwas Persönlichem umgebracht. Auf dich ist ja niemand sauer.“
Myrtle verzog das Gesicht. „Red könnte manchmal als sauer durchgehen. Aber so schnell wird er es nicht versuchen.” Sie hielt inne. „Weißt du, da war was komisch an Jill. Sie leistete wirklich tolle Arbeit beim Putzen. Alles hat nur so geglänzt. Aber sie war besonders interessiert an meinem Medizinschrank.“
Blanche blickte rasch auf.
„Nicht, dass da mehr drinnen wäre als Wattestäbchen und Klosterfrau Melissengeist. Aber ich frage mich, ob sie in deinem etwas Interessantes gefunden hat?“
Blanche ließ sich abrupt auf Myrtles Sofa sinken. „Du hast niemandem davon erzählt? Nicht einmal Red?“
„Natürlich nicht!“ Miles würde sie nicht erwähnen. „Aber ich frage mich, warum du es nicht der Polizei erzählst. Sie werden es zwangsläufig herausfinden. Und du bist ein Opfer.“
Blanche atmete tief ein. „Ich hatte vor einiger Zeit einen Autounfall... bevor ich hierhergezogen bin. Mein Rücken war total hinüber und die Therapie sehr schmerzvoll. Deshalb hat mir der Arzt Schmerzmittel verschrieben. Aber wenn man mal mit Schmerzmitteln beginnt, ist es wirklich schwierig wieder davon loszukommen. Mein Arzt hat sie mir irgendwann nicht mehr verschrieben und dann habe ich angefangen, sie mir von einem Dealer zu holen.”
„Aber Jill konnte ja nicht wissen, ob du ein Rezept hast oder nicht.“
„Sie wusste es“, sagte Blanche bitter. „Oxycodon wird heute nicht mehr lange verschrieben. Nicht für Leute, die keine qualvollen Schmerzen leiden. Nein, Jill wusste genau, was vor sich ging und wusste auch genau, was sie gegen mich in der Hand hatte.“
„Sie hat dich erpresst“, sagte Myrtle.
„Ja.“ Blanche fixierte einen Punkt an der Wand über Myrtles Kopf.
„Hätte es dir denn so viel ausgemacht?“, fragte Myrtle. „Die Leute hätten erfahren, dass du süchtig bist, aber sie hätten es auch irgendwann wieder vergessen.“
Blanche lachte auf. „Du weißt doch besser als jede andere, dass das nicht stimmt. Du lebst lange genug in Bradley, um zu wissen, dass die Leute niemals etwas vergessen. Ich würde all die Dinge nicht mehr machen können, die ich tue. All die Komitees, in denen ich bin. Mir würde vermutlich in den meisten Vereinen, in denen ich bin, die kalte Schulter gezeigt werden.”
Der Gedanke daran ließ Blanche kranker aussehen, als Myrtle es sein sollte.
„Du bist nicht die einzige, die süchtig nach verschreibungspflichtigen Medikamenten ist, weißt du“, sagte Myrtle. „Sei nicht so streng mit dir selbst. Es gibt genügend Orte, wo du dir Hilfe holen kannst.”
Blanche schenkte ihr ein schwaches Lächeln. „Danke, Myrtle!“
„Ich bin überrascht“, sagte Myrtle amüsiert, „dass Jill die Drogen angesichts deren Verkaufswertes nicht eingesteckt und weiterverkauft hat.“
„Sie hat vermutlich darüber nachgedacht“, sagte Blanche. „Aber das wäre viel riskanter als Erpressung. Sie könnte viel einfacher entdeckt werden.“
„Du hast also Jill bezahlt, damit sie den Mund hält?“
Blanche sah müde aus. „Das habe ich. Ich sah mich gezwungen, es zu tun. Und dann habe ich sie gefeuert. Ich konnte sie nicht mehr in meiner Nähe ertragen.” Sie sprach die Worte, als würde sie gleichzeitig etwas Ekelhaftes ausspucken.
Plötzlich sprang Blanche auf und ging zur Tür. „Ich muss gehen, Myrtle. Bitte... du wirst mich doch nicht verraten, oder?“
„Natürlich nicht“, sagte Myrtle freundlich.
Blanche lächelte schwach, dann zog sie die Vordertür auf. Und schrie.
Schara stand an der Türschwelle und hielt eine lebendige Schlange im Maul. Myrtle griff nach ihrem Stock und fuchtelte damit vor der Katze herum, während Blanche verängstigt einige Schritte zurücksprang, wobei nicht klar war, ob es wegen der Schlange, der Katze oder der fuchtelnden Myrtle war. „Aus! Aus, Schara!“
Schara blickte sie vorwurfsvoll an und trug ihre Beute hinfort hinter das Haus. Myrtle drehte sich um und sagte entschuldigend zu Blanche: „Schara glaubt, ich brauche Jagdunterricht“, sagte Myrtle schwach.
Blanches Lachen grenzte beinahe an Hysterie. „Ist schon gut, Myrtle. So lange sie weg ist. Ich... äh... ich hoffe, es geht dir bald besser.“ Sie blickte Myrtle misstrauisch an, die ihren Stock noch immer drohend in der Hand hielt.
„Blanche“, sagte Myrtle, „ich fühle mich bereits viel besser.“