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Myrtle und Miles saßen nebeneinander in den Schaukelstühlen auf Myrtles Veranda, während Myrtle ihrem Assistenten die Kurzfassung von Blanchesʼ Bericht gab.
„Okay“, sagte Myrtle. „Das hat funktioniert. Aber ich glaube nicht, dass ich noch jemanden so zu mir locken kann. Ich muss einfach raus und bei Fit Life vorbeischauen, herumschnüffeln und mich nach Gerüchten umhören. Ich mache mir langsam Sorgen, dass Red und die State Police mit den Ermittlungen schneller vorankommen. Immerhin haben sie Zugang zu den Infos der Spurensicherung und so weiter. Ich würde sie gerne auf irgendeine falsche Fährte locken. Etwas, was sie ablenkt. Vielleicht lenkt es sie ab, während ich den Fall löse.“
„Erklär mich doch nochmal, warum du Fälle lösen willst? Ich vergesse es immer wieder“, sagte Miles erschöpft.
„Warum ich das jetzt gerade tue? Weil sich Red ständig in meine Angelegenheiten einmischt. Er soll nur sehen, wie sich das anfühlt“, sagte Myrtle und schaukelte gefährlich wild in ihrem Stuhl.
„An welche Art von Täuschungsmanöver hast du denn gedacht?“, fragte Miles.
„Red muss denken, dass er etwas herausgefunden hat, von dem ich nicht will, dass er es weiß. Ansonsten kümmert er sich gar nicht darum. Vielleicht kann ich ja zufällig mein Notizbuch oder mein Diktiergerät vergessen. Oder ich könnte eine Datei auf meinem Computer offen lassen. Oder...“
„Oder du könntest sie eines unserer Gespräche belauschen lassen“, murmelte Miles leise. „Denn ich habe Red dort drüben von der Seite kommen gesehen. Ich glaube, er versteckt sich gerade hinter den Büschen neben der Veranda.“
„Wie ich schon gesagt habe“, sagte Myrtle nun lauter, „kann ich einfach nicht glauben, was Jill herausgefunden hat. Ich hätte ja niemals davon erfahren, hätte ich nicht zufällig ihr Telefonat mit Cullen mitgehört, an dem Tag, an dem sie bei mir geputzt hat. Zuerst habe ich ja nicht verstanden, von wem sie da sprach, aber dann war mir alles klar.“ Sie holte tief Luft und lächelte dann, als ihr eine Idee kam, die ihr einfach nur brillant erschien. „Erma Sherman!“
Miles sah Myrtle verdutzt über den Brillenrand an. Dann lächelte er ihr anerkennend zu. „Was hatte Jill denn gegen Erma in der Hand?“
„Nun, offensichtlich hat Jill für Erma geputzt und dabei in ihren Sachen herumgestöbert. Und sie hat ein furchtbares Medikament entdeckt. Es scheint, als befinde sich Erma in einem schrecklichen Zustand. Auch noch ansteckend! Erma wollte auf keinen Fall, dass jemand davon erfuhr, denn sonst würden die anderen sie ja meiden.“
„Man stelle sich das nur vor“, sagte Miles trocken. „Die Leute könnten Erma meiden. Was für eine Vorstellung.“
„Nun, wie dem auch sei, wollen wir nicht ein wenig reingehen? Die Hitze hier macht mich ganz müde und ich könnte wirklich ein Glas Eistee vertragen.“
Miles folgte Myrtle gehorsam hinein und beobachtete, wie sie durch den Vorhang spähte. „Los geht's“, sagte Myrtle triumphierend, als Red hastig Myrtles Garten durchquerte. „Er denkt, er hätte Glück gehabt, weil er zur richtigen Zeit am richtigen Ort war.“
„Glaubst du, er geht hinüber und befragt Erma?“
„Ich glaube, zuerst holt er Lieutenant Perkins sowie einen Mundschutz, um die Keime fernzuhalten“, sagte Myrtle. Sie schob die weißen Vorhänge zur Seite und öffnete das Fenster. „Normalerweise kann ich den Motor seines Autos schon eine Meile entfernt hören. Vor allem, wenn das Fenster offen ist.“
„Ich glaube, jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um nach Hause zu gehen und ein Mittagessen einzunehmen“, sagte Miles. „Was wirst du denn unternehmen, Miss Marple? Verdächtige in die Mangel nehmen? Fingerabdrücke nehmen? Deine kleinen grauen Zellen anstrengen?“
„Das mit den grauen Zellen war Poirot“, sagte Myrtle naserümpfend. „Nein, ich werde meinem Gehirn eine kleine Pause gönnen. Ich werde ein wenig Das Versprechen von Morgen schauen. Das ist eine Seifenoper, Miles. Und vielleicht mache ich sogar ein kleines Schläfchen. Nach ein wenig Regeneration kann ich bestimmt alle Puzzleteile zusammensetzen.“
*****
Nach dem aufregenden Ende von Das Versprechen von Morgen hörte Myrtle ein vertrautes Klopfen an ihrer Vordertür. Sie stöhnte. Es musste Erma sein. Myrtle erkannte dieses Hämmern überall. Sie nahm ihren Stock und eilte zur Vordertür, um aus dem Fenster zu blicken. Es war Erma, die mit ihrem rattenartigen Gesicht direkt durch eben dieses Fenster spähte, sodass Myrtle sich beinahe zu Tode erschrak.
Sie hatte sie entdeckt. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als die Tür zu öffnen. Einem Impuls folgend nahm Myrtle zuerst ihre Handtasche vom hölzernen Garderobenhaken neben der Tür. Wenn sie vorgab, auf dem Sprung zu sein, konnte sie diesen unerwarteten Besuch vielleicht rasch abwürgen. Das würde Erma auf der Veranda halten, wo sie es sich nicht allzu gemütlich machen konnte.
„Myrtle“, kreischte Erma. „Dein Junge hat mir heute einen höchst seltsamen Besuch abgestattet. Und dieser andere von der Polizei ebenfalls.”
„Du meinst Detective Lieutenant Perkins?“, fragte Myrtle. Sie griff nach hinten, um den Deckenventilator anzustellen, in der Hoffnung, das würde den Ärger etwas abkühlen, und ließ sich dann erschöpft in einen der Schaukelstühle fallen. Erma setzte sich abrupt in den zweiten Schaukelstuhl, begann dann zu schaukeln und erhob den Zeigefinger.
„Red kam recht unerwartet. Er und dieser Polkens stellten eigenartige Fragen. Weißt du, warum sie das getan haben?“ Ermas zusammenstehende Augen schienen plötzlich noch enger zusammenrücken.
„Red verrät mir nie irgendetwas über seine Ermittlungen“, sagte Myrtle mehr oder weniger wahrheitsgemäß. „Erma, ich wollte gerade...“
„Es schien fast so, als hätten sie einen Tipp bekommen, dass Jill für mich gearbeitet hätte. Und dass ich etwas über den Mord wüsste. Ich weiß doch gar nichts darüber. Aber ich habe ihnen alles über meine Zyste erzählt. Das schien sie wirklich zu interessieren. Aber warum sollte es das auch nicht? Es ist wirklich ein ungewöhnliches Problem. Mein Arzt meinte, er hätte noch nie etwas Derartiges gesehen. Zuerst dachte ich ja, es wäre eine Art eigenartiger Pickel, aber dann wuchs es auf die Größe einer Geldmünze an. Der Doktor war verwirrt. War es ein eingewachsenes Haar? Eine Kalziumablagerung? Ein Lipom? Darum öffnete er die Zyste und dann...“
In diesem Moment geschah ein Wunder. Zumindest erschien es Myrtle so, als Schara plötzlich ums Haus geschlichen kam. Sie schritt zielstrebig die Stufen zur Veranda herauf und setzte sich direkt vor Erma ‒ das genaue Gegenteil davon, wie sich Streunerkatzen Fremden gegenüber normalerweise verhielten. Die Katze begutachtete Erma, verachtete sie augenblicklich und stieß ein tiefes, bedrohliches Fauchen aus.
Ermas Wandlung war erstaunlich. Ihre Augen, die zuerst voller Enthusiasmus ob ihrer Geschichte waren, weiteten sich, sodass das Weiß darin deutlich zu sehen war. Ihr Mund formte ein riesiges O und sie stieß sich mit den Beinen so stark vom Boden ab, dass der Schaukelstuhl zurückrutschte und an Myrtles Hauswand kratzte. „Bring sie weeeeg“, rief sie.
Myrtle war im ersten Moment zu erstaunt von Ermas Reaktion und dem Hass der Katze. Scharas Haare standen zu Berge und sie machte fauchend einen runden Katzenbuckel.
Erma begann zu keuchen und ihre Augen füllten sich mit Wasser. „Allergisch“, stieß sie heiser aus. Unmotiviert versuchte Myrtle, die Katze zu verjagen, diese bewegte sich aber keinen Zentimeter. Das Beste war jedoch, dass Erma schließlich aus ihrem Stuhl aufsprang und niesend von der Veranda eilte. Sie winkte Myrtle eilig zum Abschied zu, als sie zu ihrem Haus rannte und die Tür hinter ihr mit einem lauten Knall zuwarf.
Myrtle blickte zu der Katze, die nun auf dem Schaukelstuhl saß und sich zufrieden das Fell leckte. „Schara“, sagte Myrtle nachdenklich. „Du könntest meine neue beste Freundin werden.“
*****
Zum Nachteil ihrer Ermittlungen wurden Myrtles erholte Gehirnkapazitäten für das Bloggen und die Kolumne der hilfreichen Haushaltstipps verschwendet. Myrtle fand das allerdings durchaus vertretbar. Denn immerhin würde Sloan sie feuern, wenn sie ihre Deadlines nicht einhielt und dann würde sie niemals ihre große Story als investigative Journalistin für den Bradley Bugle bringen können.
Sie hatte diese Woche einige Tipps per E-Mail erhalten. In den meisten ging es darum, Flecken zu entfernen. Myrtle schloss daraus, dass die Bewohner von Bradley, North Carolina, ein tollpatschiges Pack war, das haufenweise Rotwein trank, Kaugummi kaute oder sich mit Tinte besudelte. Aber immerhin war es doch gut zu wissen, dass ein paar Brausetabletten Flecken von einer Glasvase entfernen konnten. Das nächste Mal, wenn sie Blumen kaufte, würde sie daran denken. Sie fragte sich, ob Red ihr Blumen schicken würde, nachdem sie den Fall für ihn gelöst hatte.
Um 21 Uhr überraschte Myrtle ein Klopfen an der Tür. Hier ging es ja zu wie auf der Grand Central Station, dachte sie. 21 Uhr war etwas spät für Besuche, aber da es Sommer war, war es draußen erst ein wenig dämmrig. Sie blickte zum Seitenfenster hinaus, für den Fall, dass es Erma war. Oder sonst jemand, der sie nicht in ihrem Nachthemd und Morgenmantel sehen musste. Willow Pearce stand auf der Veranda, schenkte ihr ein Lächeln und hob eine Auflaufform in die Höhe.
Myrtle öffnete die Tür. „Willow! Du hast mir ein Geschenk gebracht?“
Willow lächelte erneut. Sie sah etwas besser aus als die ersten Tage nach Jills Mord. „Blanche und Tippy haben mir gesagt, dass du etwas angeschlagen bist. Ich habe einen Auflauf mit eigenen Kräutern aus dem Garten für dich zubereitet.” Sie kam herein und trug eine mit Alufolie bedeckte Auflaufform mit ihren Ofenhandschuhen in Batikoptik.
„Stell sie einfach auf der Theke ab. Und setz dich doch für ein paar Minuten. Ich habe in letzter Zeit oft an dich gedacht“, sagte Myrtle. Das war ja besser, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sie konnte mit Willow reden, ohne dass sie ihr eine Falle stellen musste. Sie hatte das Gefühl, ihr gingen langsam die Vorwände aus, um die Verdächtigen zu befragen.
Willow setzte sich in Myrtles Lehnstuhl und schaffte es doch glatt, gleichzeitig selbstzufrieden und unbehaglich auszusehen. Oder vielleicht war es nur das ganze Graszeugs, das Willow aß, das sie so wirken ließ. Myrtle mochte Gemüse, aber sie war sich nicht sicher, ob sie eine hundertprozentig vegetarische Ernährung ertragen könnte.
Myrtle massierte sich die Schläfen. Da war noch etwas über Willow, an das sie sich erinnern wollte. Sie wusste aber beim besten Wissen nicht mehr, was es war.
Willow schien zum Glück nicht zu bemerken, dass Myrtles angestrengter Blick ihr galt. Sie sprach über die diesjährige Anbausaison und die Probleme, die die Dürre verursacht hatte.
Myrtle unterbrach sie. „Du baust viel Gemüse an, oder? Aber hast du denn auch Hühner oder andere Tiere? Ich weiß noch, als ich ein kleines Mädchen war, waren wir autonom, weil meine Eltern unser Essen selbst angebaut haben. Magst du deswegen die Gartenarbeit so gerne, Willow?“
Willow schüttelte den Kopf und das lange, graue Haar tanzte über ihre Schultern. „Nein, mir geht es nicht so sehr darum, autonom zu sein. Mir geht es darum, frisches Gemüse zu haben. Biologisch angebautes, frisches Gemüse.“
„Weil du Vegetarierin bist. Oder nicht?” Myrtle hielt den Atem an, als sie die Erkenntnis traf. Warum sollte Willow am nächsten Tag zu Jill kommen, um sich am Fleisch zu bedienen? Das würde sie nicht ‒ nicht für sich selbst. Sie musste hingegangen sein, um ihr Auflaufgeschirr zu holen ‒ das, von dem sie schwor, dass sie es am Abend der Party gar nicht hingebracht hatte.
Willow nahm Myrtles Schrecken nicht war. „Das stimmt. Haben wir mal darüber gesprochen?“ Sie blickte Myrtle neugierig an.
„Elaine hat es mir gegenüber beim Mittagessen erwähnt. Du weißt schon, von den Methodistenfrauen. Elaine bemerkte es, weil du dein eigenes Essen mitgebracht hast.“
Willow lachte auf. „Die Damen bezeichnen diese grünen Bohnen als vegetarisch. Aber sie werden in tierischem Fett gekocht. Welcher Vegetarier würde das schon essen? Natürlich bringe ich zu so einem Mittagessen mein eigenes Essen mit.“
Myrtle verstand, dass Willow natürlich auch zu Jill ihr eigenes Essen mitgebracht hatte. Ansonsten hätte es für sie nichts zu essen gegeben. Jill hätte Braten serviert und als Beilage waren sicherlich in Schweinefett gekochte Bohnen vorgesehen. Und es war die Art von Ofenhandschuhen, die Willow nun trug, die Myrtle in ihrer Küche erwartet hätte. Die Ofenhandschuhe mit dem Hahn, die sie am Abend des Dinnerclubs in Willows Küche gesehen hatte, hatten dort so deplatziert gewirkt. Es mussten die von Myrtle gewesen sein ‒ mitgenommen aus Jills Haus. Hatte Willow etwa damit die Bratpfanne gehalten, als sie Jill den tödlichen Schlag versetzt hatte?
Willows graublaue Augen fixierten Myrtle. „Geht es dir gut Myrtle? Du siehst... müde aus.”
„Ja“, sagte Myrtle rasch. „Ich bin müde, Willow. Warum unterhalten wir uns nicht ein anderes Mal. Ich danke dir für den Auflauf. Ich freue mich schon darauf, ihn morgen zu essen.“
„Oder vielleicht als Mitternachtssnack.“ Willow lächelte. „Ich weiß, dass du nachts oft wach bist. Vielleicht bist du deswegen jetzt müde.“
Myrtle erzitterte. Ja, Willow wusste, dass sie an Schlaflosigkeit litt. Sie war es, die sie niedergefahren hatte. Sie griff nach ihrem Stock und kämpfte sich auf die Beine.
„Du musst mich nicht hinausbegleiten“, sagte Willow rasch. „Ich kenne den Weg.“ Sie verschwand so schnell, wie sie gekommen war.
Myrtle verschwendete keine Zeit. Sie stand auf und ging rasch zum Telefon, das an der Wand in der Küche hing. „Red?“, sagte sie. „Hör zu. Du musst sofort kommen. Ich muss mit dir sprechen.” Red unterbrach sie und sie erhob ihre Stimme. „Ich habe herausgefunden...“
In diesem Moment wurde ihr das Telefon aus der Hand geschlagen. Myrtle drehte sich um und blickte in Willows Gesicht. „Ich habe mich auch selbst wieder reingelassen“, stieß sie zwischen zusammengepressten Lippen hervor, ihr Gesicht war kaum wiederzuerkennen und sie wirkte so gar nicht mehr wie die sanftmütige Kräuterhexe, die sie normalerweise war. „Ich habe mir schon gedacht, dass du etwas im Schilde führst.“