Puddin staubsaugte gerade halbherzig den Teppich in Myrtles Wohnzimmer, als das Telefon läutete. Ein Ausdruck der Erleichterung legte sich über ihr Gesicht, als Myrtle einen Finger an ihre Lippen legte und nach dem Hörer griff. Myrtle bemerkte, dass Puddin sich, anstatt sich einer anderen Hausarbeit zu widmen, auf das Sofa fallen ließ, um mitzuhören.
Es war Blanche. „Du warst ja in letzter Zeit bei den Methodistenfrauen so involviert“, sagte Blanche (bildete es sich Myrtle nur ein, oder lag eine Betonung auf ‚in letzter Zeit'?), „Da habe ich mich gefragt, ob du heute nicht aushelfen könntest.“
Myrtle hüstelte und stotterte. War es also schon so weit gekommen? Würde sie nun in der ganzen ehrenamtlichen Arbeit von Bradley hängen bleiben? „Nun...“, begann sie zögerlich.
„Es geht darum, Libba zu helfen. Libba Caulfield?“
„Was ist mit Libba Caulfield? Ihr Krebs ist doch nicht wieder zurück, oder?“, fragte Myrtle. Puddin rutschte auf die Kante des Sofas vor.
Blanche antwortete mit ihrer gewöhnlichen Zurückhaltung und Untertreibung. „Ich bin nicht sicher, was den Krebs angeht. Ich hoffe, sie ist noch immer auf dem Weg der Besserung, sie hat sich in den letzten Jahren so tapfer geschlagen. Aber seit Cullens Tod geht es ihr schrecklich. Die Methodistenfrauen dachten, es wäre hilfreich, wenn ihr heute jemand einen Besuch abstatten könnte.”
Puddin verdrehte die Augen und schimpfte im Hintergrund laut etwas vor sich hin. Myrtle winkte ihr abwertend zu. „Ich würde Libba gerne besuchen, Blanche. Um 17 Uhr? Wir sehen uns.” Sie legte den Hörer auf und funkelte Puddin an.
„Was soll das ganze Gemurmel, Puddin? Sie sollten sich lieber um meine Böden kümmern.”
Puddin nickte wissend. „Aber das war doch Blanche, nicht wahr? Die wegen Mrs. Caulfield angerufen hat, die ganz verrückt geworden ist.”
„Und was wissen Sie bitte davon?“, fragte Myrtle. Auch wenn sie dachte, dass Puddin sich mit Verrücktheit auskennen müsste.
„Sie glaubt, dass ihre Familie verflucht ist“, sagte Puddin. „Und dass der Fluch sie getroffen hat.“ Puddin nickte gehässig.
„Sind Sie sich da sicher, Puddin?“ Myrtle kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Blanche hat nur angedeutet, dass Libba etwas unpässlich ist.“
„Etwas unpässlich?“ Puddin schnaubte. „Die ist doch komplett hinüber. Am Ende mit den Nerven.“
Jetzt kam Puddin so richtig in Fahrt. Myrtle spürte, dass Puddin ungewöhnlich melodramatisch wurde, zuckte mit den Schultern und wollte ihren eigenen Angelegenheiten nachgehen.
Puddin hielt sie jedoch auf. „Ich putze dort, wissen Sie. Zumindest habe ich das ein paar Mal gemacht, als Libba Caulfield krank war. Dann hatten sie eine Weile Jill gehabt, vermutlich weil sie zur Familie gehörte. Nachdem Jill tot war, haben sie mich wieder zurückgeholt.“
Puddin klang äußerst zufrieden. Myrtle fragte sich, ob sie Puddin nun auf die Liste der Verdächtigen setzen sollte. Ihre Auftragslage hatte sich seit Jills Tod deutlich verbessert.
Auch wenn Myrtle kaum glauben konnte, dass Simon Caulfield Puddins Spielchen akzeptieren würde.
„Mrs. Caulfield ist die Wände hochgegangen. Die ist total verrückt.”
„Und warum?“
„Die Caulfields sind verflucht, oder etwa nicht?“ Puddin nickte gehässig.
„Na ja, Jill und Cullen vielleicht. Ich glaube aber nicht, dass es da einen bösen Geist gibt, der die ganze Familie auslöschen möchte.”
Puddin schien einen Moment über das Wort „auslöschen“ nachzudenken. Dann zuckte sie mit den Schultern. „Mrs. Caulfield scheint das zu denken. Es gibt Gerüchte, dass sie kurz davor steht, der Misere selbst ein Ende zu setzen.” Myrtle hatte den starken Verdacht, dass hinter diesem speziellen Gerücht Puddin selbst steckte.
„Natürlich...“
„Es ist eine Tatsache.” Puddin holte tief Luft und fügte hinzu: „Außerdem sind sie in einer schrecklichen Lage, wissen Sie. Mr. Caulfield musste mich neulich entlassen. Er sagte, sie könnten es sich nicht mehr leisten, dass ich für sie putze. Sie haben mich nie pünktlich bezahlt, aber ich bin immer gerne rübergegangen um zu helfen, auch wenn sie nicht wirklich bezahlt haben.” Puddins Gesichtsausdruck war nun engelsgleich. Die selbstlose Puddin. „Und ich weiß, dass sie Schwierigkeiten haben, ihre Rechnungen im Supermarkt zu bezahlen. Dort arbeitet nämlich meine Cousine Bitsy.“ Puddin hatte so allerlei Cousins und Cousinen in Bradley verstreut und stürzte sich heißhungrig auf jeden Tratsch.
Aber Myrtle hörte nicht wirklich zu. Würde Simon Caulfield denn nicht das Geld seines Bruders nach seinem Tod erwarten? Wenn die Caulfields ihre Rechnungen kaum bezahlen konnten, wenn sie sich über die zukünftigen Kosten der Behandlung sorgten und wenn Simon oder Libba wussten, dass Jill Geld in der Lotterie gewonnen hatte... und wenn sie wussten, dass sie erben würden... Das ergab in Myrtles Augen ein Motiv. Ein Motiv, das war aber auch schon alles. Sie konnte doch mit einer Idee nicht zur Polizei gehen. Sie müsste noch ein wenig rumschnüffeln. Das würde gleich noch eine weitere Sensationsstory für die Titelseite geben.
„Machen Sie sich wieder an die Arbeit, Puddin. Ich muss kochen.”
Myrtle stützte die Hände in die Hüften und ging in die Küche. Sie würde nachher mit einer Auflaufform in der Hand hinüber zu Libba Caulfield gehen. Und es würde der beste Auflauf werden, den jemals jemand gegessen hatte. Das letzte Mal, als sie gekocht hatte, während sie den Foodblog las, hatte zugegebenermaßen nicht so gut geklappt. Und wenn schon? Zumindest hatte sie nur für sich selbst gekocht. Außerdem war es nicht ihre Schuld gewesen, sondern Sloans. Er hatte ihr nicht gesagt, dass das Lesen von Blogs süchtig machen konnte. Man springt vom einen Link zum nächsten, klickt herum und landet dann bei allem möglichen interessanten Zeugs und das nächste, an das man sich erinnert, ist, dass das Hühnchen im Rohr verkokelt ist. Dem Himmel sei Dank gab es Fertiggerichte. Zu schade, dass Erma immer alles besser wissen musste, und über die Herkunft des Gerichts plauderte.
Dieses Mal würde es besser werden. Sie würde den Auflauf vorbereiten, ihn in den Ofen geben, den Küchenwecker anstellen und dann ihren Computer meiden. Mit diesen Gedanken öffnete sie den Browser und klickte auf eine Seite.
*****
Die Situation bei den Caulfields war eigenartig. Myrtle rutschte ungemütlich auf einem alten, prallen Sofa mit Blumenmotiv herum. Blanche sah, wenn das noch irgendwie möglich war, in ihrem Stuhl mit hoher gerader Lehne noch ungemütlicher aus. Die Dame des Hauses versinnbildlichte das Wrack einer Frau und trug einen fleckigen Morgenmantel, der bereits bessere Tage gesehen hatte. Sie trug nicht einen Tupfer Make-up, um das Bild zu verbessern. Die alte Gewohnheit der guten Gastgeberin kam jedoch sofort durch und Libba fragte sie, ob sie ein Glas Eistee wollten.
Sie lehnten beide ab. Wer wusste schon, wann sie den Tee angesetzt hatte? Vielleicht sogar noch vor Jills Tod. Im Krug würde es bestimmt vor Kriechtieren nur so wimmeln.
Libba hatte sich nichts anmerken lassen, als Myrtle ihr den Auflauf überreicht hatte. Das, sagte Blanche später zu Tippy, war ein sicheres Zeichen ihrer geistigen Schwäche. Keine normale Person würde nicht zumindest ein bisschen grün im Gesicht werden, wenn er einen echten Myrtle-Clover-Auflauf in der Hand hielt.
Myrtle war sich ebenso sicher, dass mit Libba etwas nicht stimmte, aber aus einem anderen Grund. Sie kannte Libba Caulfield seit sie ein Kleinkind war und niemals hatte sie sie auf höfliche Umgangsformen verzichten gesehen. Libba hatte die Höflichkeiten immer sehr ernst genommen. Sie stand auf, wenn ältere Damen in den Raum traten und sie dekorierte die schönsten Tische, wenn sie Gäste zum Abendessen hatte. Sie kannte den Knigge bestimmt auswendig, da war sich Myrtle sicher. Diese derangierte, hohläugige Frau, die sie heute vor sich sah, hatte nichts mit der Libba Caulfield gleich, die sie kannte.
Als Simon eintrat, hielt er abrupt inne und betrachtete die Gesellschaft ärgerlich. Auch ihn erkannte Myrtle beinahe nicht wieder. Er war für gewöhnlich immer ordentlich gekleidet, aber heute sah er geradezu schmuddelig aus. Auch wenn die Caulfields anscheinend finanzielle Schwierigkeiten hatten, sahen sie immer gepflegt aus und erinnerten eher an eine verarmte Adelsfamilie. Simon hatte eine große Wunde am Bein, die er mit einem Verband versorgt hatte. Hätte er die Wunde wirklich verstecken wollen, hätte er sich besser keine Shorts anziehen sollen.
„Was ist passiert, Simon? Das sieht ja aus, als hätte dich etwas auffressen wollen.“ Myrtle begutachtete das Bein.
Simon hielt seinen Mund so fest geschlossen, dass sich darum eine weiße Linie bildete. „Ich... Ich hatte vor ein paar Tagen ein Problem mit dem Rasenmäher.“
„Aber Tiny hat doch den Rasen gemäht.“
Simon winkte ungeduldig ab. „Ja, halt als ich das letzte Mal gemäht habe. Wie dem auch sei, es ist nichts Schlimmes.“ Als ihm plötzlich bewusst wurde, dass er sich nicht gerade wie ein Fünf-Sterne-Gastgeber verhielt, sagte er: „Vielen Dank, dass ihr vorbeigekommen seid. Es waren... ein paar harte Tage.” Er sprach die Worte grimmig und sah eilig hinüber zu Libba, die wieder in ihr Trübsal versunken war.
Blanche konnte ihre Augen nicht von Libba abwenden. Die Veränderung war wirklich schockierend, dachte Myrtle. „Gibt es etwas, das wir tun können?“, fragte Blanche. „Abgesehen von dem Essen. Das muss eine schreckliche Zeit für euch sein.”
Libba starrte sie ausdruckslos an und Simon schritt ein. „Blanche, wäre es dir möglich, Libba zurück ins Schlafzimmer zu helfen? Ein wenig Ruhe ist sicher die beste Medizin für sie.”
Ein erleichterter Ausdruck zeichnete sich auf Blanches Gesicht ab. „Natürlich. Libba?“ Sie und Libba verschwanden in den hinteren Teil des Hauses.
Simon starrte für eine Minute schweigend auf den Boden, während er versuchte, ein Gesprächsthema zu finden. Myrtle hatte jedoch nichts dagegen, das Schweigen noch etwas zu verlängern. Sie hatte im Laufe ihrer Ermittlungen gelernt, dass unangenehme Stille oft zu wunderbar überraschenden Unterhaltungen führte.
Simon räusperte sich. „Myrtle, ich habe neulich deinen Artikel in der Zeitung gelesen. Du wirst ja eine richtige Reporterin.” Er sagte dies in einem Tonfall, als würde er ein kleines Kind loben.
Myrtle zwang sich zu einem Lächeln. „Ja. Mir tut allerdings das Thema des Artikels leid. Es muss sehr schmerzhaft für eure Familie sein, über Willow und Jill zu lesen.“
Simon winkte ab. „Die Wahrheit musste ans Licht kommen. Es war allerdings ein Schock. Ich hätte niemals gedacht, dass Willow ihre eigene Schwester umbringen könnte. Eine Tragödie nach der anderen.“
„Es tut mir wirklich leid wegen Cullen. Ich weiß, dass das ein weiterer furchtbarer Schock ist.”
„Es ist wirklich schwierig für mich zu begreifen, dass Cullen so depressiv war, dass er sich selbst umgebracht hat“, sagte Simon. „Ich wünschte, er wäre zu mir gekommen und hätte mit mir geredet. Ich habe ihm immer gesagt, dass Waffen gefährlich sind.”
„Aber ihr zwei habt nie nicht viel miteinander gesprochen, oder?“ Simon funkelte sie an und Myrtle fuhr fort: „Ich meine, ihr seid doch nie gut miteinander ausgekommen. Nicht einmal als ihr Kinder wart.“
„Brüder sind so“, sagte Simon abwesend. „Aber wo wir schon bei nicht auskommen sind, ich bin überrascht, Blanche hier zu sehen.“ Seine Stimme war gedämpft. „Nachdem Jill gestorben ist, bin ich vor ein paar Tagen bei Cullen vorbeigegangen. Sie hat alles für ihn getan”, er schnaubte kurz, „deshalb wollte ich zumindest sichergehen, dass er sich was zu essen machen konnte, nachdem Jill nicht mehr da war. Ich dachte, er würde sich nur noch von Tiefkühlpizza ernähren. Als ich aber die Tür öffnete, hörte ich Blanche und Cullen miteinander streiten.“
Myrtle hielt den Atem an und nickte Simon aufmunternd zu.
„Ich habe mich wieder rausgeschlichen, bevor sie mich gesehen haben. Es klang so, als wollte Cullen, na ja, Blanche erpressen und sie versuchte, es ihm auszureden. Ich will gar nicht daran denken, dass mein eigener Bruder so etwas getan haben könnte. Aber vielleicht sollte ich Red davon erzählen.“ Er sah aus, als hätten die Worte einen unangenehmen Nachgeschmack in seinem Mund hinterlassen.
„Ist es denn jetzt noch wichtig?“, sagte Myrtle unschuldig. „Jetzt, wo Cullen tot ist, ist der Plan doch zunichte, oder nicht? Wäre es Mord gewesen, dann hättest du Red auf jeden Fall informieren sollen. Aber bei einem Selbstmord... Bist du dir sicher, dass es Selbstmord war?”
„Du etwa nicht? Du warst doch mit Sherry da, du hast den Tatort gesehen. Sherry sagte, er hielt eine Waffe in der Hand.”
„Und es gab einen Abschiedsbrief“, bestätigte Myrtle.
„Hattest du eine Möglichkeit, den Brief zu lesen?“, fragte Simon gespannt. „Die Polizei hat ihn noch nicht freigegeben. Ich glaube, es würde mich...trösten, zu wissen, was in Cullens Kopf vorgegangen ist.”
„Ich habe ihn gelesen“, sagte Myrtle. „Er ist neben mir gelegen.“ Sie öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder, als sie Schritte aus der Halle vernahm.
„Ich rufe dich später an“, sagte Simon hastig und es war klar, dass er die Angelegenheit nicht vor Blanche diskutieren wollte.
Blanche sah müde aus. „Ich glaube, sie wird jetzt schlafen. Ein kurzes Nickerchen wird ihr gut tun. Myrtle? Bist du bereit nach Hause zu gehen?“
Blanche sprach nicht viel, als sie sich ins Auto setzten und davonfuhren. Myrtle sagte: „Blanche, ich wollte dich noch fragen, wie es dir geht.“
Blanche versuchte nicht einmal so zu tun, als wüsste sie nicht, wovon Myrtle sprach. „Viel besser. Es ist wie Tag und Nacht. Ich habe mit meinem Arzt gesprochen und ich werde eine Behandlung für das Medikamentenproblem bekommen. Und... es ist schrecklich, das zu sagen, aber mein Leben ist nun viel besser, seitdem Jill tot ist.“
„Das ist nicht schrecklich, wenn man bedenkt, dass sie dich erpresst hat. Da kann man doch nicht erwarten, dass du auf ihrer Beerdigung Tränen vergießt.“
Blanche atmete tief durch. „Und dann hat es letzte Woche noch einmal gekracht.“ Cullen hat mich angerufen und ich wusste, dass es einen Grund dafür geben musste, wenn er mich zu sich bat. Wir waren ja keine Freunde oder so.” Die Vorstellung, mit Cullen befreundet zu sein, schien Blanche zu entsetzen. „Kaum hatte ich also sein Haus betreten, verlangte er nach Geld. Ich glaube, er sah es als einzigen Weg, um Geld zu verdienen, denn der faule Hund würde sich ja nicht nach einem Job umsehen.”
„Was ist dann passiert?“
„Ich hatte die Nase voll. Er wollte einfach Jills kleines Erpresserspiel weiterspielen und dachte, ich würde ihm schön brav das Geld vorbeibringen. Aber nicht mit mir. Außerdem hatte ich bereits mit der Therapie begonnen. Es war sozusagen Schnee von gestern. Und wie du schon gesagt hast, Myrtle, jeder hat doch Mitleid mit einem, dem es nicht so gut geht. Deshalb habe ich ihm eine Abfuhr erteilt. Ich habe ihm gesagt, dass es mir egal wäre, wenn er es rumerzählen würde. Und dass nicht mit Steinen werfen sollte, wer im Glashaus sitzt. Er als Alkoholiker urteilt über eine Medikamentensüchtige?”
Blanche sah nun genauso wütend aus, wie sie es an diesem Abend gewesen sein musste. Dann beruhigte sie sich. „Aber ich habe den Kerl nicht umgebracht. Er hatte keine Macht mehr über mich, warum sollte ich es also tun? Außerdem ist der Hund so verrückt geworden, dass ich mich lieber verzogen habe.”
Sie bog in Myrtles Einfahrt und Myrtle sagte beim Aussteigen: „Ich freue mich sehr für dich, Blanche. Ich weiß, es ist schwer, sich von einer Sucht zu erholen. Ich drücke dir die Daumen.”
„Glaub mir, Myrtle, es geht wieder aufwärts.“
*****
Nach ein wenig Lektüre und einem kurzen Schläfchen begann Myrtles Magen zu knurren. Sie bemerkte, dass sie sich so auf den wunderbaren Auflauf für die Caulfields konzentriert hatte, dass sie doch glatt vergessen hatte, etwas für sich selbst vorzubereiten. Myrtle wühlte nachdenklich zuerst in ihrem Kühlschrank, dann in ihrem Schrank. Nicht, dass es nichts Ansprechendes darin gab, nur die Zutaten schienen irgendwie kein Gericht zu ergeben. Für jedes Rezept, das sie kannte, fehlte ihr mindestens eine wichtige Zutat. Sie hatte nicht einmal mehr Müsli oder Grütze. Sie seufzte. Vielleicht würde sie einfach ein paar Käsecracker und Trauben essen. Sie würde Red morgen bitten, sie in den Supermarkt zu fahren.
Was Myrtle am meisten beschäftigte, war, dass die Küche der Caulfields wohl in einem ähnlichen Zustand war. Libba würde für gewöhnlich niemals zulassen, dass ihr die Lebensmittel ausgingen. Und sie würde nie eine so schreckliche Gastgeberin wie heute sein. Vielleicht hatte Puddin ja doch einmal recht und Libba war langsam dabei, den Verstand zu verlieren. Als sie vor einigen Jahren krank geworden war, war sie definitiv nicht in einem solch schlechten Zustand. Man hatte damals kaum bemerkt, dass sie Krebs hatte. Sie hatte immer alles im Griff gehabt, selbst wenn sie viel Zeit im Bett verbringen musste. Sie hatte sich immer aufgeschrieben, wer Essen vorbeigebracht hatte oder wer sie besucht hatte. Anschließend hatte man immer die freundlichste, manierlichste Dankeskarte von ihr erhalten.
Auch Simons Verhalten war nicht normal. Und was war das überhaupt mit seiner Wunde und seiner geheimniskrämerischen Art?
Myrtle hörte draußen Hunde bellen und sah aus dem Fenster. Sie hoffte, dass es Schara gut ging. Lustig, wie die Katze ihr ans Herz gewachsen war.
Die Hunde bellten weiter und es schien eine Art Dominoeffekt zu entstehen, der sich vom einen in den nächsten Garten ausbreitete. Als ob die Hunde von Baskerville losgelassen worden wären. Myrtle hielt den Atem an. Was war mit Kojak? Wer kümmerte sich jetzt, wo Cullen tot war, um den armen Hund? Willow saß im Gefängnis und behauptete, dass Kojak Simon hasste. Der Hund konnte also nicht zu den Caulfields gebracht werden. Vielleicht sollte sie Red anrufen, damit die Polizei ihn ins Tierheim bringen konnte.
Myrtle runzelte die Stirn. Moment mal! Irgendetwas an diesem Gedanken ließ sie innehalten. Was war es? Kojak. Jetzt passte alles zusammen.
Ihre Gedanken wurden kurzfristig von einem ätzenden Gestank aus der Küche unterbrochen. Die Käsecracker! Myrtle eilte in die Küche, riss ein Fenster auf, schaltete den Ofen aus und zog die Käsecracker heraus, die nun Kohlestücken glichen. Mist. Was sollte sie jetzt essen?
Ein Klopfen an der Tür ließ sie zusammenzucken. Sie hoffte, dass ihr Besuch keinen Hunger hatte. Und dass sie die Person rasch wieder loswerden würde, damit sie Red anrufen konnte, um ihm mitzuteilen, dass sie den Fall gelöst hatte.
Sie öffnete die Tür einen Spalt weit. „Myrtle“, sagte Simon Caulfield, „Ich dachte, wir könnten uns noch über diesen Abschiedsbrief unterhalten.“
„Ich weiß, ich habe gesagt, wir könnten uns später unterhalten, Simon, aber das muss warten. Ich muss einen wichtigen Anruf tätigen.“ Sie drückte die Tür fest zu, dann warf sie sich verzweifelt dagegen, als Simon von der anderen Seite mit großer Kraft dagegen drückte.
Schließlich versetzte er der Tür einen letzten Stoß und trat hindurch. „Nein, ich denke, jetzt ist eine gute Zeit für einen Besuch“, sagte er eisig. Und Myrtle sah, dass er ein Messer in der Hand hielt.