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Heute ist Montag. Onkel-Ole-Tag. Ich schaufle eine große Schüssel warmen Haferbrei in mich hinein. Das letzte Mal blieb er für zwei Stunden in unserem Haus und ich hatte vergessen, davor zu frühstücken. Boy und ich warteten ungeduldig in unserem Versteck, während mein Magen wie eine tollwütige Wildkatze knurrte. Onkel Ole hätte uns fast bemerkt.

Ich spielte noch mit Puppen, als der alte Mann das erste Mal bei uns auf der Insel auftauchte. Mit schwarzem Schlapphut und Regenmantel. Ich erinnere mich gut, wie ich am Fenster stand und neugierig das kleine Motorboot beobachtete, das aus dem Nebel auftauchte. Mutter riss mich vom Fenster weg und rannte mit mir ins Schlafzimmer. Dort verschanzten wir uns stundenlang im Kleiderschrank. Heute kann ich Mutters Aufregung und ihre Angst verstehen. Sie konnte ja nicht ahnen, dass Onkel Ole kein Fremdling ist.

Seitdem kommt Onkel Ole jeden Montag über den See zu uns und bringt Vater Post und Zeitungen. Doch zur Sicherheit müssen wir uns noch immer verstecken, da der Alte zwar ein harmloser Dorfbewohner ist, aber kein Wächter. Sie sind die Einzigen, denen wir vertrauen dürfen.

Ich beeile mich, spüle die letzten Haferreste aus der Schüssel und räume das gesäuberte Geschirr in den Schrank.

»Gehst du mit raus zum Felsen?«, flüstere ich Boy zu, der auf dem Sofa liegt und in einem Naturkundebuch blättert.

»Aber Onkel Ole kommt doch jeden Moment«, antwortet Boy, ohne aufzublicken. »Das erste Gebot? Montags dürfen wir nicht raus.«

»Nur ganz kurz«, sage ich und gehe ein paar Schritte auf meinen Bruder zu. »Wir passen auf. Bitte, Boy!«

Er sieht von seinem Buch auf, und ich ziehe die Augenbrauen hoch. Boy erkennt sofort, dass mir etwas auf dem Herzen liegt, und schlägt das Buch zu. Wir schlüpfen in unsere Schuhe und laufen hinaus in den Garten. Die Luft ist feucht und kühl. Die Sonne steht dicht über den Wäldern, auf den Salatblättern im Gemüsebeet liegt noch der Morgentau. Wir rennen über den Sandweg weiter durch das winzige Waldstück, bis vor uns der riesige Felsen auftaucht. Er steht verlassen am Seeufer, als hätte ihn ein Troll beim Ballspielen dort vergessen. Mit wenigen Griffen klettern wir auf die Spitze des Felsens und lassen uns auf die Aussichtsfläche fallen.

Ich blicke auf den braunschwarzen Waldsee hinunter, unsere Beine baumeln mehrere Meter über der Wasseroberfläche. Seltsamerweise wirkt der See heute überhaupt nicht gefährlich, sondern anziehend, fast magisch.

Eine Entenfamilie zieht schnatternd an uns vorbei. Wie gern würde ich jetzt auch darin schwimmen, hinüber auf die andere Uferseite, doch das haben wir nie gelernt.

»Danke, dass du nicht gegangen bist«, sage ich und lege meine Hand auf Boys Schulter. »Gestern Nacht.«

Boy lässt den Kopf sinken. »Daran war nur der blöde Alarm schuld. Der hat mir Angst gemacht. Außerdem ist es gegen die sieben Gebote, die Insel zu verlassen. Ich wollte nicht, dass du wegen mir bestraft wirst. Das war eine dumme Idee.«

»Nein«, sage ich und werfe einen Stein ins Wasser, der so schwer wiegt wie der in meinem Magen. »Du hattest recht, Boy. Mit der Zeichnung unter meinem Bett, mit deiner Vermutung.«

Er hebt den Kopf.

»Auch ich möchte die Insel verlassen. Wenigstens für einen Tag.«

»Seit wann?«

»Manchmal habe ich diese seltsamen Träume. Von hohen Häusern und Menschen unter bunten Schirmen, dazu spielende Kinder am Strand. Es fühlt sich an wie eine Erinnerung. An damals, an Südland. Boy, unsere Insel, das kann doch nicht alles sein.«

»Hast du deshalb unseren Spielesonntag kaputt gemacht?«

»Du hast dich doch auch darüber gewundert, warum Nordland und Südland nicht auf dem Spielbrett eingezeichnet sind.«

Boy blickt nachdenklich über das Wasser. Er wirkt älter, reifer. Nicht wie zwölf. »Du glaubst, die Länder Ontario und Australien gibt es wirklich?«

»Ich möchte es zumindest herausfinden.«

»Und was, wenn dich die Fremdlinge dabei erwischen?«

»Wir müssen eben vorsichtig sein.«

»Wir? Juno, wir können hier nicht abhauen!«, zischt Boy und reißt ein Grasbüschel aus der Felsspalte. »Das haben uns die Wächter verboten. Außerdem werden Mutter und Vater vor Sorge sterben. Und dann werden sie uns suchen, auf der anderen Seite des Sees, in ganz Nordland. Stell dir vor, was die Fremdlinge uns antun, wenn sie uns erwischen. Willst du das riskieren?«

»Wir könnten einen Brief schreiben und Mutter versprechen, dass wir am Abend wieder zurückkommen.«

»Angenommen, deine prächtige Idee mit der Nachricht klappt«, Boy dreht sich zu mir um, »wie wollen wir uns denn da drüben verteidigen? Etwa mit Vaters Gewehr?«

Daran hatte ich auch schon gedacht. Ich habe den Plan aber wieder verworfen, da ich nicht damit umgehen kann. »Wir werden schon einen Weg finden.«

Plötzlich höre ich Onkel Ole, das Knattern seines Motorbootes. Er scheint nicht mehr weit von unserer Insel entfernt.

»Mist! Runter vom Felsen!« Mein Puls rast. Hoffentlich hat er uns nicht entdeckt. Hastig klettern wir hinab und rennen zurück zum Haus. »Warum ist er heute so früh?«, keuche ich, während mich Boy überholt und kurz darauf zwischen den Fichten verschwindet. Mein linkes Bein brennt, ich bleibe erschöpft stehen und blicke auf mein Knie. Es blutet. Ich muss es mir beim Hinabsteigen aufgerissen haben. »Boy, warte auf mich!«

Ich stütze die Arme auf die Oberschenkel und atme zweimal tief durch. Der Schmerz wird stärker. Ich drehe mich zum Felsen um und erschrecke. Onkel Oles Boot liegt befestigt am Steg, er muss schon auf der Insel sein und geradewegs zu unserer Blockhütte laufen. Aber weit kann er noch nicht sein. Onkel Ole braucht einen Gehstock. Sein Rücken bereitet ihm Probleme, hat uns Vater erklärt. Trotzdem kann ich jetzt nicht einfach zum Vordereingang hineinspazieren, sonst wird er mich sehen.

Ich entscheide mich für die Hintertür, die zu unserem Vorratsraum in der Küche führt. Kurzentschlossen springe ich über einen Stapel Kaminholz und renne los. Ich höre noch, wie unsere Eingangstür geöffnet wird, dann Vaters wütende Stimme. Boy wird leise zurechtgestaucht und auf sein Zimmer geschickt, weil er draußen war. Dabei ist alles meine Schuld.

Ich erreiche die Rückseite unseres Hauses und lasse mich gegen die Wand fallen. Ich hole tief Luft und rutsche in die Hocke, stütze mich auf dem Erdboden ab. Ein Stein bohrt sich in meine Handfläche, ich beiße die Zähne zusammen. Wenn ich mich beeile, kann ich es noch rechtzeitig ins Haus schaffen.

Gebückt schleiche ich unter den weißen Sprossenfenstern entlang. Meine Kniescheibe brennt wie Feuer. Nach wenigen Metern habe ich die Hintertür erreicht. Zaghaft richte ich mich auf und blicke durch das Küchenfenster. Ich erkenne Vater, der Onkel Ole auf einen Stuhl hilft, während Mutter am Spülbecken steht und ein Glas mit Wasser füllt. Ich bin zu spät. Mir bleibt nichts anderes übrig, als hier am Hintereingang zu warten.

»God morgon. Ihr seid heute die Ersten auf meiner Tour«, höre ich Onkel Ole dumpf durch die Scheibe, während er sich schwerfällig auf den Stuhl fallen lässt. »Sovit gott?«

»Ja, tack

»Ich dachte, dieser Brief ist sicher wichtig.«

»Danke, Ole. Auf den haben wir schon lange gewartet.« Vater nimmt den blauen Umschlag entgegen und legt ihn zu seiner wöchentlichen Zeitung. »Wenn wir gewusst hätten, dass du früher kommst, hättest du einen frischen Kaffee bekommen.«

»Macht euch keine Umstände.«

»Und was macht dein Rücken? Immer noch so wetterfühlig?«, fragt Mutter, während sie ihm das Glas Wasser auf den Tisch stellt.

»Ach, das Klima. Damit bin ich aufgewachsen, so etwas härtet ab.« Er lacht kurz auf und trinkt einen Schluck. »Es ist doch wie im Leben.« Onkel Ole blickt aus dem Fenster. »Heute Sonnenschein, morgen Regen.« Er sieht mir direkt in die Augen. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Vor Schreck lasse ich mich fallen und lande in einem Busch aus Brennnesseln. Meine Oberarme beginnen fürchterlich zu jucken.

Ich höre, wie ein Glas auf dem Küchenboden zerspringt.

»Alles in Ordnung, Ole?«, ruft Mutter.

»Was ist passiert?« Auch Vaters Stimme wirkt besorgt.

»Beweg dich nicht, ich werde die Scherben sofort wegwischen. Nicht, dass du dich schneidest.«

Eine Schranktür wird geöffnet, das schabende Geräusch eines Handbesens, mit dem Mutter die Glassplitter auf ein Kehrblech schiebt.

»Herregud! Wer ist das Mädchen?«, höre ich Onkel Ole durch die Holzwand fragen. Mir bleibt das Herz stehen. »Da war doch eben ein Kind am Fenster!«

Ein kurzer Moment der Stille, dann lacht Vater nervös auf. »Ein Mädchen? Jetzt siehst du aber Gespenster. Wie soll denn ein Kind auf unsere Insel kommen?«

»Ein Mädchen mit langen Haaren.«

»Ole, da musst du dich geirrt haben. Bei uns auf der Insel?«, pflichtet Mutter Vater bei. »Du hast ja noch nicht mal deine Brille auf.«

»Die brauche ich nur zum Lesen. Ich habe Augen wie ein Luchs, müsst ihr wissen. Und das mit über siebzig Jahren.«

»Also, ich habe nichts am Fenster gesehen. Das war bestimmt nur eine optische Täuschung, eine Spiegelung in der Scheibe.«

»Oder ein vorbeifliegender Vogel.«

Für einen kurzen Moment schweigt Onkel Ole. Bitte, bitte, lieber Gott, lass ihn glauben, dass er sich getäuscht hat.

Ich höre ein erleichtertes Lachen. »Wahrscheinlich habt ihr recht. In meinem Alter beginne ich schon Geister zu sehen. Die warten nur darauf, mich endlich zu holen.«

Jetzt lacht auch Vater. Ich schicke ein Stoßgebet gen Himmel. Ein Stuhl wird nach hinten geschoben. Ein schmerzvolles Stöhnen, als sich Onkel Ole erhebt. »Bitte entschuldigt die Scherben. Ich werde euch das Glas natürlich ersetzen.«

»Du willst schon wieder gehen?«

»Ja. Ich muss leider gleich weiter zu Familie Sjöberg. Wir sehen uns nächsten Montag.«

Dann verlassen sie die Küche. Ich kratze mir über die Arme, die mittlerweile mit roten Flecken übersät sind. Dafür hat mein Knie aufgehört zu bluten. Ich krieche um die Hausecke, höre, wie die Vordertür geöffnet wird. Wie ein Kapuzineräffchen aus Boys Naturkundebuch haste ich auf allen vieren unter den Fenstern entlang, bis ich mich wenige Meter vor unserer Eingangstür hinter einem Busch flach auf den Boden werfe. Onkel Ole humpelt die Eingangstreppe herunter. Bei jedem Schritt knarzen die morschen Holzbretter.

»… ist möglich. Ich vermisse sie wirklich sehr«, sagt Onkel Ole. »Seit sie mit ihren Eltern weggezogen ist.« Er scheint verändert, traurig. »Å andra sidan , ihr habt vollkommen recht. Vielleicht sollte ich meine Enkeltochter einfach mal anrufen, damit sie mich übers Wochenende besuchen kommt.«

»Mach das. Und danke für die Post.« Vater streckt Onkel Ole freundlich die Hand hin. »Bis nächsten Montag, Ole.«

Der alte Mann schüttelt sie, hebt zum Abschied den Gehstock und humpelt mit eiligen Schritten hinunter zum Wäldchen und dann zum Steg. Eine Familie Wildgänse fliegt über unsere Köpfe hinweg.

Als Onkel Ole außer Hörweite ist, dreht sich Vater blitzartig zu Mutter um. »Verdammt, er muss Juno gesehen haben!«

»Zum Glück konntest du ihn davon überzeugen, dass es nur Einbildung war«, sagt Mutter. »Und sogar eine, die ihn an seine Enkelin erinnert hat.«

»Enkelin?« Vaters Stimme bebt. »Ach was, Ole hat doch nicht mal Kinder!«

Das wird großen Ärger geben, schießt es mir durch den Kopf. Zimmerarrest. Wenn nicht Schlimmeres.

»Nein, er hat uns angelogen.« Vater rückt sich die Brille zurecht. »Was, wenn er jetzt überall herumerzählt, dass ein Kind auf unserer Insel lebt?« Vater winkt Onkel Ole noch ein letztes Mal zu, dann schiebt er Mutter in den Flur. Die Eingangstür knallt hinter ihnen zu.

Mein Herz rast. Warum bin ich nicht einfach in meinem Versteck geblieben? Vater hat recht. Durch meine Neugier habe ich uns alle in Lebensgefahr gebracht. Es besteht immerhin die Möglichkeit, dass Onkel Ole auf dem Rückweg den Fremdlingen in die Hände fällt. Und wenn er ihnen von mir erzählt, werden sie kommen und uns alle töten.

Ich muss sofort etwas unternehmen, darf keine Zeit verlieren. Angestrengt denke ich nach, kratze über die juckenden Stellen auf meinem Unterarm. Vielleicht kann ich meinen Fehler irgendwie geradebiegen, wenn ich Onkel Ole einfach darum bitte, mich nicht zu verraten. Ihm muss doch klar sein, was für uns auf dem Spiel steht. Ich habe den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da rennen meine Beine auch schon hinunter zum See.

Onkel Ole ist gerade dabei, sein Motorboot loszubinden, als ich endlich am Ufer ankomme. »Onkel Ole!«

Der alte Mann lässt das Seil fallen und dreht sich überrascht zu mir um. Mit weit geöffneten Augen blickt er mich an, als hätte er ein Feenwesen zwischen den Blütenblättern entdeckt.

»Ich weiß, dass du mich am Küchenfenster gesehen hast. Aber du darfst niemandem von mir erzählen!« Ich gehe ein paar Schritte auf ihn zu. »Bitte, Onkel Ole!«

Er zieht seinen Schlapphut vom Kopf und wischt sich mit der Handfläche über die Stirn. Seine Hand ist faltig und grau, wulstige Adern durchfließen seine Haut. Er kneift die Augen zusammen und blickt hinauf zu unserer Blockhütte und wieder zurück zu mir. Aus der Nähe betrachtet, wirkt Onkel Ole älter, als ich dachte. Mit leicht geöffnetem Mund mustert er mich von oben bis unten. Wie eine träge, uralte Riesenschildkröte, denke ich und blicke auf die dünnen Speichelfäden, die an seinen Lippen kleben. Die wenigen Zähne, die ihm noch geblieben sind, wirken gelblich und stumpf.

»Wer bist du?«, fragt er endlich und lässt sich prustend auf die Bootskante sinken. Ein säuerlicher, fauliger Geruch steigt mir in die Nase. »Dein Gesicht. Du kommst mir von irgendwoher bekannt vor.«

»Juno«, antworte ich knapp. »Wie die Göttin.«

»Wie kommst du auf die Insel, mein Kind?«

»Ich wohne hier. Mit meinen Eltern.«

»Und wieso habe ich dich noch nie gesehen?«

Fieberhaft denke ich darüber nach, ob ich ihm wirklich unser Familiengeheimnis anvertrauen soll, das uns die ganzen Jahre vor den Fremdlingen geschützt hat. Aber mir bleibt keine andere Wahl. »Du darfst niemandem verraten, dass wir auf der Insel leben. Sonst töten sie uns alle!«

»Wer will euch töten?«

»Sie bezahlen Geld für denjenigen, der uns findet.«

»Jösses! Auf euch ist ein Kopfgeld ausgesetzt?«, fragt Onkel Ole überrascht und zieht die buschigen Augenbrauen nach oben. »Und wie viel bekommt man da?«

Ich verstehe nicht, was er mit Kopfgeld meint. Aber ich erinnere mich gut, wie uns Mutter letztes Jahr im Schutzraum erklärt hat, dass die Fremdlinge allen Dorfbewohnern Nordlands eine Truhe mit Goldmünzen versprochen haben, wenn sie unser Versteck verraten. »Die Wächter haben uns vor vielen Jahren hierhergebracht. Weil Vater vor dem Tribunal gegen die Fremdlinge ausgesagt hat, damals in Südland.«

»Sørlandet ? Du meinst Südland, den norwegischen Landesteil?«, fragt Onkel Ole und blickt wieder zu unserer Blockhütte. Er wirkt irritiert.

Auch ich bin verwirrt und verstehe nicht, wovon er redet. »Nein. Da, wo der Strand ist. Und das Meer.«

»Bei uns in Schweden?«

»Südafrika«, sprudelt es aus mir heraus, da es das südlichste Land auf dem Spielbrett ist, an das ich mich erinnern kann. »Oder vielleicht auch Argentinien.«

Jetzt runzelt Onkel Ole die Stirn. Er glaubt mir nicht. Ich muss alles auf eine Karte setzen.

»Vater sagt, wir leben hier unter einem Zeugenschirm oder so ähnlich. Mir fällt jetzt das richtige Wort nicht ein.« Als Beweis halte ich ihm meinen rechten Zeigefinger vor die Nase. Der Finger bewegt sich keinen Millimeter. »Ich lüge nicht. Seit ich ein kleines Mädchen war, verstecken wir uns hier auf dieser Insel in Nordland vor den Fremdlingen. Aber du bist doch keiner, oder?«

»Zeugenschutz?«, murmelt Onkel Ole. »Und es gibt eine hohe Belohnung für euch?«

»Ja, ganz viele Goldmünzen.«

Onkel Ole lächelt mich an. Endlich scheint er es zu kapieren. Erleichtert atme ich aus. Wieder blickt Onkel Ole zu unserem Haus hoch, während er in seiner Jackentasche wühlt und ein schmales, dünnes Gerät herauszieht. Die schwarze Vorderseite des Apparats glänzt wie die Seeoberfläche bei Nacht.

»Keine Angst, mein Kind. Ich werde euch nicht verraten«, sagt Onkel Ole und legt seinen Daumen auf das Gerät, das ein kurzes Piepsen von sich gibt. »Versprochen.« Dann hält er das seltsame Ding direkt vor mein Gesicht.

»Was ist das?«

»Bitte nicht lächeln«, sagt Onkel Ole. Doch das fällt mir schwer, schließlich ist mir gerade ein Stein in der Größe eines Felsbrockens vom Herzen gefallen. In letzter Sekunde habe ich unsere Familie gerettet.

Ich schließe die Augen, denke an Mutter und Vater, die bestimmt sehr stolz auf mich sein werden, atme tief durch und versuche meine Mundwinkel zu entspannen, die sich mit aller Gewalt nach oben ziehen. Dann öffne ich die Augen wieder. Ein grelles Licht blendet mich.

»Danke«, sagt Onkel Ole knapp und steckt das Kästchen zurück in die Jackentasche, zieht den Reißverschluss zu.

Jetzt lächelt er nicht mehr. Irgendwie scheint die Fröhlichkeit aus seinem Gesicht verschwunden.

Wortlos schiebt er das Boot ins Wasser, klettert hinein und lässt sich auf die Mitte der Holzbank fallen. Das Boot wackelt gefährlich hin und her.

»Du darfst deinen Eltern niemals erzählen, dass wir uns unterhalten haben«, zischt Onkel Ole und startet den Motor. »Niemals. Hast du das verstanden, Juno?« Aus eisigen Augen starrt er mich an. »Ansonsten werde ich euch alle verraten. Dich und deine ganze Familie.«

Mir wird schlecht.