5

Mutter wäscht das Blut aus Vaters Hemd. Dicht gedrängt stehen wir um das Waschbecken in der Küche herum und beobachten, wie sie mit Kernseife in kreisenden Bewegungen über den Stoff reibt. Doch die Flecken lassen sich nur schwer entfernen. Genauso wenig wie mein Wunsch, die Insel zu verlassen. Daran wird auch dieses Theaterstück nichts ändern, das Mutter seit dem Frühstück für uns aufführt.

»Die Fremdlinge haben ihn schwer verletzt«, erklärt sie und hält das Hemd unter den Wasserhahn. »Vater konnte sich nur mit letzter Kraft befreien und vor ihnen flüchten.«

»Sie sind ihm doch hoffentlich nicht bis zur Insel gefolgt, oder?«, fragt Boy, während er auf seinen Fingernägeln kaut, als wären es Karottenstäbchen. »Sie wissen nicht, wo wir leben?«

Ich würde meinem Bruder gern sagen, dass er sich nicht sorgen muss. Dass Mutter nur versucht, uns Angst zu machen. Denn das glaube ich. Sie ahnt, dass wir mit dem Gedanken spielen, die Insel zu verlassen. Mein Zeigefinger hat es ihr verraten. Doch da erneuter Zimmerarrest unsere Sehnsucht offenbar nicht vermindern kann, blieb ihr keine andere Wahl, als uns mit diesem schauderhaften Trick davon zu überzeugen, dass Vater auf seiner Rückkehr aus dem Dorf von den Fremdlingen angegriffen wurde. Und wie erwartet fällt Boy darauf herein. Aber ich bin keine zwölf mehr. Ich spiele also mit, trete von einem Fuß auf den anderen und gebe das verängstigte Mädchen. Obwohl ich mir sicher bin, dass es sich um Holzlack handelt, den sie aus Vaters Hemd wäscht. Es hat denselben Farbton wie der Anstrich des Geräteschuppens hinter unserem Haus. Frisches Blut ist heller, das weiß ich. Zumindest bei Fischen.

»Vater kennt den Wald gut. Er hat sich hinter einem großen Baumstumpf versteckt, bis die Fremdlinge fort waren«, sagt Mutter und reibt die Seife fester in den Stoff.

»Deshalb kam er erst so spät in der Nacht zurück?«

»Euer Vater durchlitt Todesängste.« Mutter lässt das Hemd ins Waschbecken fallen und verschließt den Abfluss mit einem Stöpsel. Sie öffnet den Wasserhahn. »Er konnte nicht einfach zur Insel zurückrudern. Das hätte die Fremdlinge sofort zu uns geführt.«

Ich blicke zu meinem Bruder und erkenne die Furcht in seinen Augen. Er greift nach Mutters Arm. »Und jetzt sind sie auf der anderen Seite und suchen nach uns?«

»Ja, mein Junge. Wir gehen davon aus, dass sie immer noch im Wald sind.«

Ein geschickter Schachzug, denke ich. Sie wollen uns davon abhalten, über den See zu rudern. Ich staune über mein Kombinationsvermögen. Noch bis vor wenigen Tagen hätte ich genauso verängstigt reagiert wie Boy. Wie ein kleines Kind. Doch das bin ich nicht mehr. Ich stelle Fragen und finde Lösungen. Seit dem Zusammentreffen mit Onkel Ole fühle ich mich reifer, mutiger. Ich habe das Problem wie eine erwachsene Frau geklärt und gehandelt. Wie gern würde ich Mutter von meiner Heldentat berichten, dann könnte sie mit dieser albernen Wascherei aufhören.

»Das ist keine Übung, Juno.«

»Natürlich nicht, Mutter«, antworte ich und verknote die Hände hinter meinem Rücken. »Sonst hätten wir auf unseren Zimmern bleiben müssen.«

»In der Tat«, sagt Mutter und dreht den Wasserhahn ab. »Es ist überlebenswichtig, dass ihr das versteht.« Sie deutet auf das halb gefüllte Waschbecken. Wie eine einsame Insel ragt Vaters Hemd aus dem rostbraunen Wasser heraus. »Das hier ist bedeutsamer als Zimmerarrest.«

»Ja, Mutter.«

»Und wie geht es Vater?«, fragt Boy und blickt zur Holztreppe hinüber, die ins erste Stockwerk führt.

»Er braucht jetzt Ruhe, Kinder. Bitte stört ihn nicht.«

»Wird seine Wunde wieder verheilen?«

»Ich musste sie nähen«, antwortet Mutter. »Aber Vater ist über den Berg. In ein paar Tagen wird er wieder auf den Beinen sein.«

»Ich werde ihm gleich ein Bild malen«, sagt Boy. »Von unserer Familie. Oben in meinem Zimmer.«

»Über das Geschenk wird er sich sicherlich sehr freuen.« Mutter streicht meinem Bruder über die Wange.

»Und ich werde Vater einen Blumenstrauß pflücken«, füge ich schnell hinzu. Das ist meine Chance, endlich raus in den Garten zu kommen. Trotz Zimmerarrest. Vielleicht sogar bis hinunter an den See. »Darf ich?«

Mutter nickt mir zu. Dann dreht sie sich wieder zum Waschbecken und widmet sich Hemd und Kernseife. Boy und ich sehen uns kurz an, dann rennen wir los. Jeder mit einem anderen Ziel. Doch bevor ich zur Haustür hinauslaufe, nehme ich einen Umweg über das Wohnzimmer. Ich steuere auf den Sessel zu, in dem Vater montags seine Wochenzeitung liest. Dahinter, auf dem schmalen Fensterbrett, liegt es, zwischen Drachenbaum, Palmlilie und Korallenkaktus. Immer griffbereit. Ich schnappe mir das Fernglas und verschwinde hinaus in den Garten. Ich halte ihre Lügen einfach nicht mehr aus, ich muss schnellstens einen Weg finden, um von dieser Insel zu verschwinden.

Das Bündel Wildblumen liegt vor mir auf dem Felsen. Zur Absicherung habe ich mein rechtes Bein über die stacheligen Stängel gelegt, damit der Blumenstrauß nicht vom Wind fortgeweht wird. Mir bliebe keine Zeit, neue zu pflücken. Mutter würde skeptisch werden, wenn ich so spät zurückkäme. Aber ich bin ja nicht wegen der Blumen ans Seeufer gerannt.

Ich nehme Vaters Fernglas, das mir um den Hals baumelt, und blicke hindurch. Auf die andere Seite des Sees. Sofort wird mir schwindelig. Die Sicht ist verschwommen, milchig grün. Alles dreht sich. Mein Oberkörper beginnt zu schwanken, ich reiße mir das Fernglas von den Augen. Rasch stütze ich mich am Stein ab und fixiere für einige Sekunden meine roten Sandalen, die fünf Meter über der dunklen Wasserfläche baumeln.

Nachdem sich meine Augen etwas beruhigt haben, greife ich erneut zum Fernglas. Es liegt schwer in meiner Hand. Bevor ich abermals hindurchblicke, verdrehe ich zuerst das Zahnrädchen, das zwischen den Gläsern angebracht ist. So blind muss sich Vater also fühlen, wenn er seine Brille verlegt hat, denke ich und schraube das kleine Einstellungsrad bis zum Anschlag.

Jetzt erkenne ich jedes einzelne Laubblatt der Birke, sogar den weißen Ringelkork der Rinde, meterweit entfernt, auf der anderen Seite des Sees. Ich schwenke mit dem Fernglas weiter nach links in den dichten Kiefernwald. Ein dünner Streifen Sonnenlicht zwängt sich durch die Bäume, fällt auf moosbewachsene Felsspalten und verwitterte Baumstümpfe. Ich sehe sogar einen Semmelstoppelpilz am Fuße einer Kiefer. Und dann, nur wenige Zentimeter nach rechts, habe ich ihn endlich gefunden: Onkel Oles schmalen Trampelpfad. Den Weg zum Dorf, meinen Weg zur Freiheit.

Alles ist so dicht vor meinen Augen, als könnte ich danach greifen.

Mein Plan steht fest. Ich werde noch diese Woche auf die andere Seite rudern. Heimlich, wenn Mutter und Vater schlafen. Ich werde Boy wecken und mit ihm die fremde Welt da drüben erkunden. Dort, wo die Bäume grüner, die Häuser größer und die Menschen ehrlicher sind. Mutter hat mich lange genug wie ein unreifes Kind behandelt. Das wird mir von Tag zu Tag klarer. Aber ich will keine Märchen mehr hören. Über die bösen Fremdlinge, die Vater angegriffen haben. Ich muss meine Erfahrungen selbst machen. Schließlich bin ich kein dummes Mädchen mehr, sondern eine erwachsene Frau mit eigenen Wünschen und Sehnsüchten. Aber Mutter versteht das nicht. Für sie zählen nur Gehorsam und Strafe, in ihrer Nähe fühle ich mich einsam und unverstanden. Hätte ich mehr Mut, würde ich sie anschreien.

Ich schaue mit dem Fernglas zu unserem Steg hinüber und beobachte Vaters Ruderboot, das sanft auf den Wellen schaukelt. Seit Boy und ich denken können, wurde uns strengstens untersagt, in das Boot hineinzuklettern. Auch nicht zum Spaß. Wir könnten dabei kentern und ertrinken. Deshalb weiß ich nicht, wie es funktioniert.

Ich suche das Boot nach einer versteckten Lenkmöglichkeit ab, studiere durch das Fernglas jede Schraube, jedes Brett. Und da entdecke ich den schwarz glänzenden Fleck auf dem Boden, im Schatten der vorderen Sitzfläche. Vielleicht eine Wasserlache, denke ich und kneife die Augen zusammen. Ist das Boot etwa undicht? Ich drehe das Rädchen des Fernglases ein Stück weiter nach links. Jetzt wird alles unscharf. Ich korrigiere die Einstellung. Trotzdem kann ich nicht erkennen, um welche Flüssigkeit es sich handelt. Zumindest nicht von hier oben, auf dem großen Felsen. Ich muss runter.

Der Blumenstrauß gleitet mir aus den Händen, als ich am Steg ankomme. Ich gehe ein paar Schritte näher an das Boot heran. Zweifellos. Das ist kein Wasser, die Oberfläche schimmert rötlich. Der dunkle Fleck muss Blut sein. Vater würde doch keineswegs Farbe in sein geliebtes Ruderboot schütten. Nur um uns Kinder davon abzuhalten, auf die andere Seite zu rudern. Sein Hemd, das ist eine andere Sache, das kann man wieder reinigen.

Verunsichert lasse ich mich auf die Bordkante fallen. Das Boot kippt nach vorne, ruckartig stütze ich mich mit Armen und Beinen ab. Mit einer schnellen Gegenbewegung kann ich es unter Kontrolle bringen. Meine Schuhe stehen knöcheltief im Wasser. Das Boot schaukelt wie eine Nussschale hin und her, ich versuche die Balance zu finden und stemme mich mit aller Kraft dagegen. Dann höre ich das metallische Klirren hinter meinem Rücken.

Ich drehe mich um und entdecke die Eisenkette, die mehrmals um das hintere Sitzbrett geschlungen ist. Irritiert folgt mein Blick jedem einzelnen Kettenglied. Über die Bordkante, durch das flache Wasserbett bis zu unserem Steg, wo die Kette mit einem dicken Schloss befestigt ist.

Ich muss laut auflachen, obwohl ich heulen könnte. Nicht aus Verzweiflung, sondern weil mir in diesem Moment klar wird, dass alles zu ihrem heimtückischen Spiel gehört. Und ich wäre fast darauf reingefallen. Das angebliche Blut am Hemd, das angebliche Blut im Ruderboot. Ich schüttle den Kopf. Mir ist das Lachen vergangen. Mit diesem Trick können sie meinen kleinen Bruder abschrecken, aber nicht mich. So leichtgläubig bin ich nicht. Und Mutter weiß das. Nein, für mich hat sich Vater ein unbezwingbares Hindernis ausgedacht: eine Eisenkette.

Niedergeschlagen wate ich aus dem Wasser und lasse mich ins Gras fallen. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Blitz. Nicht das Ruderboot haben sie in Ketten gelegt, sondern mich. Ich werde die Insel niemals verlassen.

Am wolkenlosen Himmel zieht ein Falke seine Kreise, ich verfolge seine eleganten Flugkünste. Was würde ich dafür geben, so frei zu sein. Man müsste fliegen können. Oder schwimmen, denke ich und richte mich wieder auf, ich blicke über den See auf die andere Uferseite. Nur wenige Hundert Meter entfernt, drüben, im Schatten der hohen Bäume, liegt meine Zukunft. Doch sie wird mir verwehrt, von den eigenen Eltern. Noch nie war es mir so klar wie in diesem Moment.

Mich überfällt Wut. Was sind schon ein paar Tage Zimmerarrest gegen viele weitere Jahre auf der Insel? Genau, es macht keinen Unterschied. Ich war mein ganzes Leben lang eine Gefangene. Und ich werde es immer bleiben, wenn ich nicht etwas dagegen unternehme.

Ich beuge mich vor, öffne die Schnallen meiner Sandalen und werfe die Schuhe neben mich ins Gras. Dann springe ich auf und ziehe mir das Sommerkleid über den Kopf. Es wird Zeit zu handeln. Heute werde ich mein Schicksal selbst in die Hand nehmen und schwimmen lernen. So schwer kann das nicht sein.

Angenehme Sonnenwärme breitet sich auf meiner Haut aus. Mit zaghaften Schritten nähere ich mich dem Wasser. Der See funkelt mich einladend an, als würde er mir Mut zuflüstern, doch schon wenige Meter weiter draußen wird die Oberfläche erschreckend dunkel. Ich strecke meinen rechten Fuß in das braune Wasser, dann den linken. Ich spüre den weichen Morast zwischen meinen Zehen. Ich wage mich tiefer in den See hinein, noch ein paar Schritte weiter, bis ich knietief im Wasser stehe. Eine Libelle rauscht kunstvoll an mir vorbei. Vorsichtig gehe ich in die Hocke, spüre, wie die Kälte über meine nackten Beine wandert, wie eine zweite Haut, über meinen Unterleib, über den Bauchnabel, bis hinauf zu meiner Brust. Ich lasse mich nach vorne gleiten, bis ich mit dem ganzen Oberkörper unter Wasser bin, und strample wie ein Frosch mit Armen und Beinen. Ich schlucke Wasser. Prustend richte ich mich wieder auf. Es tut gut, sicheren Boden unter den Füßen zu spüren. Doch es ist leichter als gedacht. Ich atme tief ein und wieder aus, gehe erneut in die Hocke, spreize meine Arme und schwimme los.

Ich schaffe drei Züge, dann gehe ich unter.