28

Überall Blut, überall! Aufgeregt springt mein Blick von der rostroten Schleifspur im Flur zur geöffneten Küchentür, an dem blutverschmierten Rahmen entlang, über die verwischten Fingerabdrücke am Fußboden, zu einem umgestoßenen Stuhl, bis zu unserem eisernen Holzofen und zurück. Mein Gehirn will das grausame Bild nicht verstehen.

Was zum Himmel ist hier passiert?

Dann sehe ich die Schuhe. Erkenne sie sofort wieder, obwohl sie schlammverschmiert sind. Luca! Es sind seine Schnürschuhe! Aufgewühlt stelle ich mich auf die Zehenspitzen und blicke weiter nach unten. Dort liegt er, zusammengekauert vor dem Spülschrank, in einer Blutlache.

Ich reiße die Küchentür auf und stürme zu ihm, werfe mich neben ihm auf den Dielenboden. Meine Hände streichen zitternd über sein Gesicht. Lucas Augenlider flackern, als er mich erkennt.

Er lebt!

»Luca! Um Himmels willen. Kannst du mich hören?«, flüstere ich, meine Stimme versagt. Er blickt wortlos zur Küchentür, stöhnt vor Schmerzen.

»Sie ist im Wohnzimmer«, sage ich und starre auf seinen blutgetränkten Pullover. Luca hält sich mit beiden Händen den Bauch. Er röchelt.

»Wir müssen von hier verschwinden«, flüstere ich. Der Anblick bricht mir das Herz. »Kannst du laufen?«

Luca antwortet nicht, schüttelt schwach den Kopf.

»Boy ist auf dem Boot«, erkläre ich unter Tränen. »Er ist bestimmt schon auf der anderen Seite des Sees und informiert die Wächter.« Sanft berühre ich seine Wange, schluchze aus den Tiefen meiner Seele. »Sie werden kommen und uns retten, Luca. Und einen Doktor rufen. Bitte, bitte halte durch!«

Seine Augen wandern ziellos durch den Raum, dann blickt er mich wieder an, nickt mit schmerzverzerrtem Gesicht.

»Wir kommen von hier weg, bestimmt«, flüstere ich.

Luca schüttelt den Kopf.

»Doch«, antworte ich leise. »Ich werde dich hier rausholen, du darfst nicht aufgeben.«

Wieder bewegt er seinen Kopf, schüttelt ihn energischer. Rollt mit den Augen. Dann nickt er in meine Richtung und öffnet den Mund. Er will etwas sagen, doch ich verstehe ihn nicht.

»Was?«

Ein Gurgeln steigt aus seinem Rachen. Luca beißt die Zähne zusammen, hebt das Kinn, senkt es. Immer wieder.

Ich zucke verzweifelt mit den Schultern.

»Daaa-arhhh«, stöhnt er kaum hörbar. Ich beuge mich hastig vor und halte mein Ohr ganz nah an seine Lippen. Ein sanfter Windhauch streift meine Ohrläppchen. »Aaaa-rma.«

»Arma?«, frage ich. »Was meinst du damit?«

Luca schluckt. Kneift die Augen zusammen. Die Schmerzen müssen unerträglich sein. Er ringt nach Luft. Seine Lunge gibt seltsame Pfeiftöne von sich. Luca versucht zu sprechen, ich beuge mich zu ihm hinunter.

Mein linkes Ohr berührt seine Lippen.

»Pistola.«

Ich drehe mich schlagartig um. Folge seinem angestrengten Blick. Und verstehe. Verstehe endlich, was er mir sagen wollte.

Vor dem gläsernen Geschirrschrank liegt sie, auf dem Boden, neben dem Blecheimer mit den Reinigungstüchern. Lucas Pistole. Sie muss während des Kampfes dort gelandet sein.

»Pistolarrhh« , wiederholt Luca und nickt schwach. Das Sprechen bereitet ihm Schmerzen.

»Ich kann damit nicht umgehen«, flüstere ich nervös.

»Nimm … sie … immeimmediatamente! «

Eine Schusswaffe. Uns Kindern war es strengstens verboten, Vaters Gewehr zu berühren. Sein Heiligtum zur Verteidigung gegen die Fremdlinge auf der anderen Uferseite. Uns waren nur Messer erlaubt. Um den Fischfang zu töten, kurz und schmerzlos. So sieht es das sechste Gebot vor. Doch eine Schusswaffe bereitet Schmerzen. Und Luca hat große Schmerzen. Ich sehe, wie er leidet. Mutter muss ihn lebensgefährlich verletzt haben. Meine Handinnenflächen sind schweißnass. Gedankenverloren wische ich sie an meinem triefenden Pullover ab.

»Elly … ti prego «, höre ich Lucas kraftloses Flehen hinter mir.

»Ich … ich kann nicht.«

»Tua madre … non voglio … morire.«

Ich verstehe seine fremdartigen Worte nicht. Aber die Dringlichkeit, die in seiner Stimme liegt. Die Gefahr, die im Haus auf uns lauert. Ich überwinde meine Angst und gebe mir einen Ruck, beuge mich nach vorn und rutsche geräuschlos auf allen vieren auf unseren Geschirrschrank zu. Die Pistole ist zum Greifen nah. Luca hustet. Es klingt wässrig. Ich verharre und drehe mich zu ihm um. Er zwinkert mir zu, aufmunternd, kraftlos. Hellrotes Blut rinnt über seine Lippen.

Für einen kurzen Moment sehen wir uns an. Wie durch einen seidenen Faden miteinander verbunden. Das Ticken der Katzenuhr über dem Kühlschrank wird sanfter, entfernt sich mit jedem Sekundenschlag. Wir brauchen keine Worte, um uns zu verstehen. Meine Gefühle für ihn. Seine Gefühle für …

Plötzlich weiten sich seine Augen. Ich blicke in ein starrendes Weiß. Luca gurgelt Blut. Er versucht zu schreien. Dann höre ich grelle Schritte hinter mir, stampfend wie Schuberts Militärmarsch . Panisch drehe ich mich um.

Ein schwarzes Paar Stiefeletten. So dicht vor meinem Gesicht, dass ich die getrockneten Blutspritzer auf dem Leder zählen kann.