Erster Teil

1

Der Kellner schenkt ungefragt Champagner nach. Aber vielleicht macht man das so, hoch über den Dächern des Regierungsviertels. Ich schiele zu den Nachbartischen hinüber. So viel Liebe um mich herum, ich könnte kotzen.

Die unfassbar teure Glasflasche neben mir klirrt im Eiswürfelbad. Der Kellner deutet eine knappe Verbeugung an, dann verschwindet er im Lichtermeer des Dachgartens. Ach, wie gern würde ich ihm folgen. Einfach nur weg von hier.

Doch die mondäne Stimmung dieses Edelschuppens im Reichstagsgebäude nimmt mich ungewollt gefangen. Das hier ist kein Feierabendbier am Späti, kein Date in einem hippen Burgerladen oder wo man sich sonst in Berlin so trifft. Das hier hat Klasse. Genauso wie der blonde Dreißigjährige, der mir seit fast zwei Stunden gegenübersitzt.

Viktor.

Seinen Nachnamen kenne ich nicht.

Ich kann es nicht erklären, aber an diesem piekfeinen Ort fühle ich mich irgendwie besonders. Ich lächle mein Gegenüber an, nicke verständnisvoll, auch wenn ich seinem Monolog schon seit Minuten nicht mehr folge. Ich greife zu meinem Champagnerglas und nippe einen Schluck. Die herben Perlen, die meinen Gaumen kitzeln, beginnen, mich immer mehr zu betören.

Viktor. Dunkelblauer Nadelstreifen-Anzug, gebügeltes weißes T-Shirt, braune Lederschuhe, teure Armbanduhr. Er wirkt so ganz anders als heute Nachmittag, als ich ihn kennengelernt habe. Eleganter, reicher. Doch seine traurigen Augen und das verschmitzte Lächeln sind geblieben. Eine Kombination, die mich neugierig gemacht hat. Vor wenigen Stunden auf der Museumsinsel, in der Alten Nationalgalerie.

Ich hatte schon die ganze Zeit das Gefühl, dass er mir mit seiner schwarzen NYC -Baseballcap, den zerrissenen Jeans und dem dunkelblauen Kapuzenpulli durch die verschiedenen Ausstellungen gefolgt war. Bis in die oberste Etage zur Romantik , wie passend.

Dann lächelte er nervös und lud mich auf einen Kaffee ein.

Und nun, nur wenige Stunden später, sitzen wir überraschend hier. Wie in einem zerplatzten Traum. Statt in einem linksalternativen Künstleratelier in diesem Promi-Edelschuppen, angeblich seinem Lieblingsrestaurant, nach einem Sieben-Gänge-Menü mit Weinbegleitung, auf einer Dachterrasse über dem Berliner Regierungsviertel.

Das nennt er Kaffee trinken ?

Er dachte wohl, nach Langoustines Royal mit Vinaigrette von gereifter Soja-Sauce, Sauté vom Kalbsbries mit kleinen gefüllten Champignons, Uckermärker Rinderrücken mit Sauerklee und geschmorter roter Bete, bekommt er mich als Dessert dazu?

Junge, vergiss es. Mit Geld beeindruckt mich niemand.

Ich nippe am Champagnerglas und schiele auf meine Uhr. Viertel vor zehn an einem Donnerstagabend. Die verbleibenden fünfzehn Minuten schenke ich Viktor noch, dann wird es Zeit, nach Hause zu fahren.

»Wir zahlen bitte getrennt.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage, Mia«, geht Viktor dazwischen. »Ich habe gesagt, dass ich dich einlade.« Er schlägt mit der Handfläche auf den Tisch. »Und was ich sage, wird gemacht.«

Er lässt es sich auch nicht nehmen, mich mit dem Taxi nach Hause zu fahren. Als ich aussteige, muss ich mich nicht umdrehen, um Viktors Blicke in meinem Rücken zu spüren. Ich bleibe an der Hausmauer stehen und verharre, bis der Wagen in die Graefestraße gebogen ist.

Dann gehe ich zurück, öffne die Handtasche und wühle nach meinem Schlüsselbund. Einzelne Euromünzen klimpern, ich schiebe mein Smartphone an den Seitenrand, fingere das Makeup-Döschen zur Seite, das Notizbuch, mein Portemonnaie, die Packung Taschentücher, den Kugelschreiber, Lippenstift. Ich suche weiter, tiefer. Sogar in den verborgenen Innentaschen. Dann in meiner Jackentasche. In meiner Jeans. Doch es hat keinen Sinn.

Mein Hausschlüssel, er ist nicht da.