Einleitung

Seit Jahren bewegt mich die Frage, wie es in und mit Deutschland eigentlich weitergeht. Daraus entstand 2010 Deutschland schafft sich ab . Ich hatte die damals absehbaren Trends bei Demografie, Bildung und Einwanderung analysiert und einen kritischen Ausblick auf die künftige deutsche Entwicklung gegeben. Auch die weiteren Bücher seit 2012 kreisten um verschiedene Teilaspekte dieser grundsätzlichen Frage. Es ging um die kritische Auseinandersetzung mit Wirtschafts-, Währungs- und Finanzfragen, mit Meinungsfreiheit und dem Islam. In der Summe ergab sich ein Panorama der wesentlichen Probleme, mit denen Deutschland konfrontiert ist.

Mit dieser Problemsicht stieß ich nicht überall auf Gegenliebe. 1 Gleichwohl lässt mich die Frage nach Deutschlands Zukunft auch heute nicht los. Anderthalb Jahrzehnte nach der Niederschrift von Deutschland schafft sich ab sehe ich die Problemlage Deutschlands wie folgt:

Diese insgesamt kritische Sicht impliziert zwar nicht unbedingt einen »Untergang Deutschlands«. Aber ein relatives Zurückfallen in der Welt und vielleicht auch in Europa prognostiziere ich als ziemlich sicher. Den individuellen Lebenschancen in Deutschland muss das nicht unbedingt einen Abbruch tun. Im Gegenteil: In einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem die individuelle Tüchtigkeit und der mit ihr einhergehende Gestaltungsehrgeiz langfristig eher auf dem Rückzug sind, kann der Tüchtige und Ehrgeizige sehr gute Chancen zum materiellen Lebenserfolg und zur individuellen Selbstverwirklichung haben. Mit dem Rückgang des durchschnittlichen Niveaus von Leistungsfähigkeit und Leistungswillen steigen die Möglichkeiten der Tüchtigen und Ehrgeizigen zu einer guten relativen Positionierung. So wird es zum Beispiel der tüchtige Sportler in einem Deutschland, in dem sportliche Leistungsfähigkeit immer knapper wird, leichter haben, an die Spitze zu gelangen. (Damit ist allerdings noch kein Weltniveau erreicht, wie sich zuletzt im Fußball schmerzlich zeigte.) Ähnlich gilt dies für alle Bereiche beruflicher, persönlicher und materieller Selbstverwirklichung, in denen die individuelle Leistung eine Rolle spielt. Eine Voraussetzung sind allerdings regulatorische Rahmenbedingungen und ein gesellschaftliches Klima in Deutschland, das dem Einzelnen bei seinem individuellen Streben und bei der Verfolgung ehrgeiziger persönlicher Ziele keine übermäßigen Hemmnisse in den Weg legt. Sollte die gesellschaftliche Regulierung in Deutschland den Einzelnen im Übermaß behindern und zum Mittelmaß quasi zwingen, so bliebe den Tüchtigen immer noch die Auswanderung. Ein schwächer und mittelmäßiger werdendes Deutschland muss deshalb im eigenen Interesse umso intensiver dafür Sorge tragen, dass es für die Tüchtigen und Ehrgeizigen ein attraktiver Lebensraum bleibt.

In der obigen Aufzählung habe ich gegenwärtig wirksame Trends und Zustände beschreibend zusammengefasst. Es wäre nicht sachgerecht, sie einfach unkritisch in die Zukunft zu verlängern. Noch nachlässiger ist es allerdings, wenn man sie leugnet und verdrängt. Das ist aber das, was in der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatte in Deutschland weitgehend geschieht. Die oben genannten Negativtrends hängen innerlich miteinander zusammen. Im Kern ergeben sie sich zu einem großen Teil aus der demografischen Entwicklung in Deutschland, aus der sozioökonomischen Verteilung der Geburten und aus dem Umfang und der Struktur der Einwanderung nach Deutschland. Sie werden auch von jeweils herrschenden gesellschaftlichen Einstellungen geprägt. Letztere haben – unabhängig davon, wie positiv oder negativ man ihnen im Einzelnen gegenübersteht – häufig auch unbeabsichtigte Nebenwirkungen. Das zeigt sich beispielsweise in der Demografie an der steigenden Zahl kinderloser Frauen oder bei der Klima- und Energiewende an den Gefahren für den Industriestandort Deutschland.

Es ist ein Ziel dieses Buches, absehbaren Trends im Einzelnen nachzugehen, zu zeigen, wie sie innerlich miteinander zusammenhängen, was sie für Deutschland bedeuten, und was man tun kann, um sie zu beeinflussen. Außerdem skizziere ich differenziert nach Politikbereichen die zu erwartende Entwicklung, wenn die beschriebenen Trends weiterhin dominieren.

Gesellschaftliche Entwicklungen – und häufig auch die damit verbundenen politischen Konsequenzen – gleichen in gewisser Hinsicht dem Wechsel von Ebbe und Flut am Meeresstrand: Man sieht das Wasser kommen und gehen. Man kann Deiche und Schleusen bauen und gegen die gelegentliche Sturmflut besondere Vorsorge treffen. Grundsätzlich kann man aber – zumal als Einzelner oder als Teil einer kleinen Gruppe – wenig dagegen machen. Zumeist fährt man persönlich am besten, wenn man sich dem Gezeitenwechsel beugt, sich also ein Stück weit opportunistisch verhält. Das schützt die Nerven und oft auch mehr, aber ist es auch gut für die Gesellschaft? Wo lohnt es den Kampf? Und wo ist es klüger, sich ins Unvermeidliche zu fügen und die wechselhaften gesellschaftlichen Trends zu nehmen, wie sie kommen?

In jeder Gesellschaft wäre es zudem die absolute Ausnahme, wenn sich die öffentlichen Dinge in der Summe so entwickelten, wie es den Vorstellungen eines Einzelnen oder einer Gruppe, die das Land nicht als Diktatur in der Hand haben, entspricht. Der Regelfall ist doch bei den meisten Zeitgenossen eher, dass sie sich mit ihren eigenen Einstellungen und Ansichten – ob bewusst oder unbewusst – weitgehend an das Klima anpassen, das in einer Gesellschaft vorherrscht. So verhindern sie seelisch belastende Dissonanzen und investieren durch Anpassung der eigenen Einstellungen an die gesellschaftlichen Erwartungen in das eigene Wohlbefinden. Durch solche individuellen Anpassungen an das allgemeine Meinungsklima in einer Gesellschaft wird auch das für das Funktionieren einer jeden Gesellschaft unverzichtbare Maß an Verhaltenskoordinierung sichergestellt. Wenn es hier zwischen wichtigen gesellschaftlichen Gruppen allzu große Unterschiede gibt, entstehen soziale Kosten, die das Funktionieren einer Gesellschaft stören und bis zu deren Existenzgefährdung reichen können. Allerdings können festgefügte gesellschaftliche Wahrnehmungen und anscheinend unverrückbare Grundeinstellungen einer Gesellschaft in einer bestimmten Epoche bisweilen durch schockartige Ereignisse erschüttert werden. So geschah es mit der weit verbreiteten pazifistischen Grundeinstellung in Europa, als Russland die Ukraine überfiel.

Mir geht es wie wohl den meisten, die an Politik und Gesellschaft interessiert sind: Es frustriert, wenn es bei den gesellschaftlichen Themen, die man für wichtig hält, nicht so läuft, wie man sich das vorstellt. Die Frage ist: Was bedeutet das konkret, und was ist so schlimm daran? Oder existieren die meisten Gefahren nur in meiner Einbildung, beziehungsweise sind sie gar keine Gefahren, wenn man nur Blickwinkel und Perspektive ein wenig ändert? Jeder Mensch denkt, urteilt und handelt ja aus einem bestimmten Weltbild heraus. Das mag bewusst oder unbewusst geschehen. Der individuelle Blick auf die Welt ist immer auch ein persönliches Glaubensbekenntnis , hat also subjektiven Charakter. 5

Für die »große« Politik und die meisten Medien stehen gegenwärtig die Auswirkungen der menschengemachten Erderwärmung im Mittelpunkt aktueller Sorgen. Dabei ist klar, dass menschliches Leben auf der Erde auch dann weiter stattfindet, wenn es nicht gelingt, den Anstieg der Durchschnittstemperatur in der Welt – wie international politisch vereinbart – auf 1,5 Grad zu begrenzen.

Für den Klimawandel wie auch für viele andere Einflüsse auf die menschliche Wohlfahrt gilt nämlich: Die Unmöglichkeit einer aus guten Gründen für richtig erachteten Politik bedeutet zwar den Untergang von Zielen oder guten Vorsätzen und kann auch erhebliche Folgeschäden mit sich bringen, sie bedeutet aber nicht den Untergang der Welt und auch nicht notwendig den einer bestimmten Gesellschaft. Vielmehr eröffnen sich regelmäßig alternative Entwicklungspfade, auch wenn diese mit hohen politischen, sozialen und fiskalischen Kosten verbunden sein und für viele Menschen schreckliches Leid bedeuten können. Niemals also – außer vielleicht bei der Katastrophe eines atomaren Weltkriegs – ist die menschliche Welt an einem bestimmten Punkt quasi mit Brettern zugenagelt, sodass es überhaupt nicht mehr weitergeht. Menschen mögen sterben, aber für die Überlebenden und Nachgeborenen wird es immer ein Morgen mit neuen, wenn auch anderen Lebenschancen geben. Das gilt bei Seuchen, Erdbeben, großen Kriegen, schrecklichen Diktaturen und auch für die Folgen des Klimawandels.

Analoges – auch unterhalb des Katastrophenniveaus – gilt für meisten Felder der Politik und des gesellschaftlichen Wandels: Wenn es nicht so läuft wie vorgestellt und wie es aus einer bestimmten Perspektive auch notwendig und richtig wäre, so entstehen aus diesem Scheitern alternative Entwicklungspfade, die möglicherweise alte Probleme gegenstandslos machen, aber zu neuen führen können. Die Zukunft ist wie ein Labyrinth: Wenn die gewählte Tür verschlossen ist, muss man eine andere Tür wählen oder man wird gar durch diese gestoßen, dort tun sich wieder Alternativen auf. Dieser Gedanke lässt sich auf alle klassischen Felder der Politik anwenden. Das tue ich in diesem Buch für einige jener Politikfelder, in denen ich in der Vergangenheit beruflich oder publizistisch tätig war. Bei den Politikfeldern, die ich in diesem Buch abhandle, schöpfe ich argumentativ aus meinen in den letzten fünf Jahrzehnten gemachten Erfahrungen und den dabei gewonnenen Einsichten. Dahinter lässt sich unschwer ein Weltbild erkennen. Dieses ist aber unvollständig und nicht abgeschlossen. Zwischen den Politikfeldern bestehen die unterschiedlichsten Zusammenhänge und gegenseitigen Wechselwirkungen.

Den Einstieg wähle ich über die Themen Demokratie, Meinungsfreiheit und Friedenspolitik, denn aus meiner westlich-abendländisch geprägten Sicht sind sie zentrale Voraussetzungen für die gedeihliche Entwicklung einer jeden Gesellschaft, in der ich gerne leben möchte, und damit quasi politikübergreifend. Demokratie braucht Meinungsfreiheit, und Meinungsfreiheit braucht gelebte Pluralität auch für das Unerfreuliche und Abstoßende. Zu viel Pluralität kann aber jede Gesellschaft überfordern. Hier liegt der nur schwer auflösbare Widerspruch einer jeden offenen Gesellschaft.

Die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer wieder auftretende Unmöglichkeit, in einer konkreten Situation bestimmte Wege zu gehen und entsprechende Entscheidungen durchzusetzen, motiviert die Suche nach alternativen Handlungspfaden. Soweit diese gefunden und beschritten werden, tun sich regelmäßig neue unerwartete Probleme auf, gleichzeitig aber können wegen des veränderten Entscheidungsumfelds alte Probleme gegenstandslos werden. Die Frage ist also: Wie kann es weitergehen, wenn die Dinge ganz anders laufen, als es der eigenen Vorstellung oder den überwiegenden gesellschaftlichen Ideen entspricht?

Das ist übrigens eine Frage, die sich nicht nur in politischen Zusammenhängen, sondern auch in individuellen beruflichen und privaten Lebenslagen immer wieder stellt. Dann hilft es nicht, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen oder sich verzagt abzuwenden. Man muss die Situation nehmen, wie sie ist, und sich etwas einfallen lassen.

Hat man einmal die dahinter verborgene universale Entscheidungsmechanik erkannt, so wird klar, dass es in der Politik immer geboten ist, für das als notwendig Erkannte, aber vielleicht nicht Umsetzbare, rechtzeitig nach Alternativen zu suchen. Dies kann zur Folge haben, dass man nicht beim ursprünglichen Ziel, sondern ganz woanders ankommt, in einem veränderten Umfeld, das neue Fragen aufwirft, vielleicht aber auch ganz andere Antworten erfordert. Hier gilt Bismarcks Bonmot von Prinzipien in der Politik: Wer starr an bestimmten Prinzipien festhält, die zur Lage nicht mehr passen, gleicht einem Mann, der mit einer quer auf den Rücken gebundenen Stange durch einen Wald gehen will. Die Suche nach Alternativen gibt zudem dem Zufall und dem Unvorhergesehenen Raum. So entsteht Kontingenz im politischen Geschehen und damit in der Gesellschaft.

Gerade bei den Lebensläufen politischer Überlebenskünstler, die sich lange in öffentlichen Ämtern halten, fallen häufig die unvermuteten Wendungen und der flexible Umgang mit Prinzipien auf. Das kann dazu führen, dass politische Amtsträger eine ganz andere Politik betreiben als jene, für die sie ursprünglich gewählt wurden. So erging es Deutschland mit der Bundeskanzlerin Merkel bei der Euro-Rettung, der Atomkraft, der Einwanderung oder der Abgaben- und Steuerpolitik. Der Übergang von einem flexiblen Umgang mit politischen Prinzipien zu einem gedankenlosen Opportunismus ist gleitend. Wie gefährlich das sein kann, hat Deutschland Anfang 2022 bei der Energie- und Verteidigungspolitik erlebt, als die Bundeswehr in den Worten des Inspekteurs des Heeres nach 30 Jahren »Friedensdividende« bei ihrer Verteidigungsfähigkeit »blank« dastand, während gleichzeitig 55 Prozent des in Deutschland verbrauchten Erdgases aus Russland stammten.

Das »magische Viereck« nachhaltiger Politik besteht in der gleichzeitigen Sicherung von Rechtsstaat, Demokratie, Meinungsfreiheit und einer stabilen Friedensordnung. Nur sie schaffen in ihrer Kombination grundsätzliche Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben. Diese Einsicht wird alle denkbaren Maßnahmen und politischen Strategien in den von mir in diesem Buch diskutierten Politikfeldern stets überwölben.

Bei den diskutierten Politikfeldern beschreibe ich jeweils zunächst die Problemlage und gehe auf die Ursachen ein. Auf dieser Grundlage diskutiere ich sodann die Möglichkeiten zur Abhilfe unter sachlichen, politischen und gesellschaftlichen Aspekten. Dabei stößt man sehr häufig auf den Umstand, dass Abhilfe in der sachlich gebotenen Form auf kaum überwindbaren politischen oder gesellschaftlichen Widerstand stößt oder auch, dass bei erfolgreicher Abhilfe unerwünschte beziehungsweise unüberschaubare Nebenwirkungen überwiegen.

So kann man beim Versuch der Problemlösung und bei dessen Scheitern auf einen ursprünglich nicht beabsichtigten Entwicklungspfad geraten, der ungeplant die Zukunft maßgeblich bestimmt. So erging es Deutschland mit seiner Gastarbeiterpolitik: Aus dem Anfang der Sechzigerjahre gestarteten Versuch, einen Arbeitskräftemangel im gewerblichen Bereich für einige Zeit zu überbrücken, wurde eine säkulare Masseneinwanderung, die Deutschland kulturell und ethnisch in einer Weise verändert hat und weiter verändert, die von Politik und Gesellschaft damals weder vorausgesehen wurde noch so gebilligt worden wäre.

Ob man überhaupt etwas als »Problem« empfindet, ist nur teilweise sachlogisch begründbar, es ist auch normativ geprägt: Während viele bürgerlich-konservative Gemüter – darunter auch ich – die ethnische und kulturelle Verwandlung Deutschlands durch anhaltende kulturfremde Masseneinwanderung als problematisch oder auch bedrohlich ansehen, wird dieselbe Entwicklung von Teilen des linken und grünen Spektrums der Gesellschaft geradezu überschwänglich begrüßt. Das hat seine Logik: Wer Deutschland und die deutsche Kultur immer schon misstrauisch beäugte oder gar hasste, kann einer demografischen und kulturellen Selbstabschaffung Deutschlands durchaus auch positive Seiten abgewinnen.

Für die verschiedenen Problemfelder erörtere ich Ziele und Zielverfehlungen sowie mögliche Verbesserungsmöglichkeiten und was ihnen sachlich, gesellschaftlich und politisch entgegensteht. Dabei geht es um

Interessant ist dabei stets die Frage, was denkbare Verbesserungsmöglichkeiten behindert/verhindert

Die tief gestaffelten Verzweigungen alternativer Entscheidungen und Entwicklungspfade können bisweilen in ganz andere Welten führen und ursprüngliche Ziele gegenstandslos machen beziehungsweise auch in ihr Gegenteil verkehren. Anschaulich ist der Vergleich mit einem Schachspiel, das je nach den gewählten Zügen zu ganz unterschiedlichen Situationen führen kann. Gleichzeitig greift dieser Vergleich zu kurz, denn das Schachspiel erfolgt nach festen Regeln und mit einer eindeutigen Zielvorgabe. In der Politik dagegen können sich mit den Spielzügen sowohl die Regeln als auch die Ziele ändern, das ist sogar regelmäßig der Fall. Es gibt insofern kein historisches Schicksal.

Bei der Betrachtung eines gesellschaftlichen Problems beziehungsweise einer sozialen Entwicklung muss man stets unterscheiden zwischen

In gesellschaftlichen Fragen kann man auf allen drei Ebenen – der Analyse, der Erklärung und der Therapie – leicht der Gefahr des Quacksalberns erliegen. Gleichwohl braucht man auch den Mut zur Vereinfachung und darf sich nicht dahinter verstecken, dass die meisten gesellschaftlichen Fragen umso komplexer werden, je mehr man sich in ihre Details vertieft. Um Muster und Lösungsmöglichkeiten zu erkennen, braucht man auch so etwas wie eine optimale Distanz zum Problem.

Vor dem Einstieg in die Diskussion unterschiedlicher Politikbereiche erörtere ich die Rolle des Zufalls in Politik und Geschichte . Historiker benutzen dafür gern den Begriff der Kontingenz. Kontingenz ist aber nicht auf Politik und Geschichte beschränkt. Sie trägt zum Beispiel auch zur massentauglichen Faszination des Fußballspiels bei: Auch die stärkere Mannschaft kann verlieren, wenn der schwächeren zur rechten Zeit ein glücklicher Treffer gelingt und die so bewirkte psychologische Dynamik Unordnung in die Reihen der eigentlich besseren Mannschaft bringt, woraufhin die Schwächeren ihre Chance wittern und eine ungeahnte Kraftanstrengung entfalten. Kontingenz bestimmt auch unsere individuellen Lebenswege und die damit verbundenen menschlichen Dramen: Es war Zufall, dass Romeo Julia traf, und Zufall war es auch, dass sie aus verfeindeten Familien stammten.

Der Titel des Buches deutet an, dass ich die Perspektiven in Deutschland nicht optimistisch sehe. Die natürliche Schwerkraft der Dinge zerrt die Entwicklung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft schon seit längerer Zeit in eine ungünstige Richtung. Viele Gegenmittel, die es gäbe, entziehen sich dem gesellschaftlichen Einvernehmen, für andere Maßnahmen ist es schlicht zu spät. Für individuelles Gegensteuern bleiben die Perspektiven allerdings viel besser als für kollektive Aktionen. Liberales, ja sogar libertäres Gedankengut hat vor diesem Hintergrund eine große Zukunft und wird langfristig an Attraktivität gewinnen. Ohne Anstrengung und Entsagung geht es allerdings nicht. Hier gilt die Einsicht von Wilhelm Busch:

»So ist’s in alter Zeit gewesen,

So ist es, fürcht’ ich, auch noch heut.

Wer nicht besonders auserlesen,

Dem macht die Tugend Schwierigkeit.

Aufsteigend mußt du dich bemühen,

Doch ohne Mühe sinkest du.

Der liebe Gott muß immer ziehen,

Dem Teufel fällt’s von selber zu.« 6