Voraussetzungen einer gelungenen Gesellschaft
Im Folgenden gehe ich auf sechs aus meiner Sicht unverzichtbare Voraussetzungen für ein gelungenes Zusammenleben der Menschen in einer bestimmten Gesellschaft ein. Ihr notwendiger Erfüllungsgrad hat niemals einen absoluten, sondern immer einen gleitenden Charakter. Darum ist kaum eine Gesellschaft, in der Menschen irgendwie zusammenleben, in jeder Hinsicht völlig misslungen, und ebenso wenig ist irgendeine real existierende Gesellschaft in jeder Hinsicht völlig gelungen.
Auch ändern sich ständig die Maßstäbe, die Menschen an die Gesellschaft, in der sie leben, anlegen. Sie werden tendenziell umso schärfer und kompromissloser, auch gegenüber kleinen oder nur vermeintlichen Unvollkommenheiten, je mehr die Gesellschaft als Ganzes zufriedenstellend funktioniert und krasse Armut, Hunger oder größere Ungerechtigkeiten erfolgreich vermeidet.
Unter der »Herrschaft des Gesetzes« verstehe ich, dass es in einer Gesellschaft feste, transparente und für alle verbindliche Regeln gibt, die den Einzelnen vor Gewalt und Willkür schützen – gleichgültig ob diese von Individuen, Gruppen oder staatlichen Organen ausgehen – und den Raum seiner individuellen Handlungsfreiheit verbindlich bestimmen.
Die »Herrschaft des Gesetzes« ist das zentrale Element einer jeden funktionierenden Gesellschaft – unabhängig davon, wie die Gesetze zustande kommen, wer sie erlässt und was ihr Inhalt ist. Ein autoritäres Herrschaftssystem, das Gesetze mit Bindungskraft für die Handlungen der Bürger und des Staates erlässt sowie deren Beachtung wirksam gewährleistet, tut mehr für den Rechtsfrieden und das sichere Zusammenleben der Bürger als eine politische Demokratie, in der geltende Regeln nicht wirksam durchgesetzt werden können.
Am schlimmsten ergeht es Gesellschaften, die diktatorisch von gewaltsam herrschenden Eliten regiert werden, die nur an ihr eigenes Wohlergehen denken und staatliche Regelungen für ihre Zwecke missbrauchen, ohne den Schutz und die Rechtssicherheit der Bürger im Auge zu haben. Besonders krasse Beispiele der Gegenwart sind gescheiterte Staaten wie Haiti oder Somalia, in denen die uneingeschränkte Herrschaft gesetzloser Banden eher zur Regel als zur Ausnahme gehört. Aber auch das gegenwärtige Russland ist von solchen Strukturen stark geprägt.
Zur »Herrschaft des Gesetzes« gehört auch eine gesetzestreu agierende, funktionierende staatliche Verwaltung, deren Rechtsakte nachprüfbar und deren handelnde Vertreter weitgehend frei von Korruption sind. Dazu bedarf es keiner Demokratie.
Im autoritär regierten Königreich Preußen des 18. Jahrhunderts oder auch in der Habsburger Monarchie derselben Zeit gab es in diesem Sinne weitgehend eine »Herrschaft des Gesetzes«. Im gleichzeitigen Großreich des russischen Zaren gab es diese dagegen weitgehend nicht, dort herrschten über weite Strecken Korruption und staatliche Willkür. Die Unterschiede der gesellschaftlichen Kulturen sind auch heute noch spürbar, wie die politischen Erfahrungen der Gegenwart zeigen.
Im autoritär regierten China der Gegenwart kann der Bürger, soweit er die jeweils geltenden Gesetze beachtet und sich bei politischen Meinungsäußerungen zurückhält, weitgehend in Ruhe und Sicherheit sein Leben führen, seinen Geschäften nachgehen und dabei auch zum Millionär werden. Im derzeit demokratisch regierten Mexiko der Gegenwart setzen dagegen rivalisierende gewalttätige Narko-Banden in weiten Teilen des Landes das staatliche Recht außer Kraft und haben die Macht praktisch an sich gerissen. Ein Ausdruck davon ist eine der höchsten Mordraten der Welt. Eine wirksame »Herrschaft des Gesetzes« gibt es also gegenwärtig eher in China als in Mexiko.
Eine »Herrschaft des Gesetzes« ist ohne eine grundsätzlich gesetzestreue, weitgehend von Korruption freie und allein dem Gesetz verpflichtete Bürokratie nicht möglich. Dazu gehören die Kontrolle des Verwaltungshandelns und der Schutz der Bürger durch eine unabhängige Justiz, die allein dem Gesetz verpflichtet ist und dieses möglichst sachgerecht interpretiert. 9 In einer entwickelten Demokratie gehört auch die demokratische Wahl der gesetzgebenden Körperschaften, die die Gesetze erlassen und die Regierung berufen, dazu. Notwendige Bedingung für eine »Herrschaft des Gesetzes« ist aber nicht eine demokratische Regierungsform, sondern eine funktionsfähige Machtbalance zwischen den Spitzen der Regierung, der an das Gesetz gebundenen, aber in diesem Rahmen weisungsabhängigen Verwaltung und der ebenfalls an das Gesetz gebundenen, aber weisungsunabhängigen Justiz.
Die »Herrschaft des Gesetzes« ist ein formales Prinzip. Wo es beachtet wird, setzt es der Willkür der politischen Herrschaft und der Bürokratie Grenzen beziehungsweise schließt sie aus. So wird der Bürger geschützt und kann in einem berechenbaren Freiraum seine Ziele verfolgen.
Die »Herrschaft des Gesetzes« schließt aber nicht aus, dass es gute und schlechte Gesetze geben kann. Sie ist auch kein Mittel gegen ein Übermaß an Bürokratie oder gegen die Schädlichkeit beziehungsweise Widersprüchlichkeit vieler gesetzlicher Bestimmungen. Eine gute Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist vielmehr ein kollektives gesellschaftliches Produkt. Ihre Geltung in der jeweils bestimmten Form wird durch die Herrschaft des Gesetzes sichergestellt – nicht mehr und nicht weniger. Die Qualität und die Leitlinien einer gesellschaftlichen Ordnung können sich nur im gesellschaftlichen Diskurs entwickeln. Viele fachliche und politische Details, die dazugehören, lassen sich auch gar nicht aus allgemeinen Prinzipien, sondern nur aus der Sachlogik des jeweiligen Gegenstands entwickeln.
Zu den nur scheinbar selbstverständlichen Normen gehört auch die »Gleichheit vor dem Gesetz«. Sie ist als handlungsleitendes Prinzip für Justiz und Verwaltung unmittelbar einleuchtend, gibt aber noch keine unmittelbare Antwort darauf, wie mit religiösen, kulturellen und intellektuellen Unterschieden der Menschen umzugehen ist. 10
Die politische Menschenrechtsdebatte ist in vielerlei Hinsicht misslich befrachtet und wird von mir an dieser Stelle ausgeklammert. Unter Menschenrechten verstehe ich das moralische Recht eines jeden auf dieser Erde als Mensch geborenen Lebewesens, frei von Hunger und Not sowie unbedroht an Leib und Leben aufzuwachsen und sein Leben nach seinen Bedürfnissen im Rahmen der geltenden Gesetze frei zu gestalten.
Zur Gewährleistung der individuellen Menschenrechte ist zuerst die staatliche Gemeinschaft beziehungsweise die Gesellschaft berufen, in die ein Mensch hineingeboren wird, in der er aufwächst und sein weiteres Leben verbringt. Die Gewährleistung der Menschenrechte ist unabhängig von der Regierungsform sowie von der Frage, ob es sich um eine Demokratie handelt oder nicht. Es gibt kein Menschenrecht darauf, in einer Demokratie oder überhaupt in einer bestimmten Regierungsform zu leben.
Strittig ist für mich die Frage, ob ein bestimmter Staat oder eine bestimmte Gesellschaft darauf verpflichtet werden kann, für die Einhaltung von Menschenrechten außerhalb des eigenen Staatsgebiets zu sorgen beziehungsweise Menschen bei sich aufzunehmen, die wegen Menschenrechtsverletzungen aus ihren Staaten fliehen. Generell gilt hier natürlich das allgemeine moralische Gebot menschlicher Barmherzigkeit. Aber es gilt auch die Notwendigkeit pragmatischen Handelns im Sinne des Wohls der eigenen Bürger und der Interessen des eigenen Staats.
Wo sich alle für alles zuständig fühlen, endet die Welt schnell in Krieg und Chaos. Die gut gemeinten Interventionen der USA und westlicher Verbündeter in Schurkenstaaten wie dem von Saddam Hussein beherrschten Irak, dem von den Taliban beherrschten Afghanistan und dem von Gaddafi beherrschten Libyen haben jeweils in der Summe und trotz guter Absichten weitaus mehr Leid und Chaos hervorgebracht, als sie durch den Umsturz der Herrschaftsform beseitigt haben. Es ist deshalb aus meiner Sicht unbedingt geboten, den Einsatz für Menschenrechte auf den Territorien fremder Staaten und Völker pragmatisch zu dosieren. Eine menschenrechtlich noch so ungerechte Ordnung ist häufig auch in menschenrechtlicher Hinsicht dem Leid und dem Chaos, das durch Regimesturz bewirkt wird, vorzuziehen.
In den westlich geprägten Industriestaaten mit ihren entwickelten Demokratien herrscht oft ein besonders ausgeprägter Begriff von den Menschenrechten vor. Das ist als Leitlinie für die internationale Politik grundsätzlich auch nicht zu beanstanden. Gefahren ergeben sich jedoch in dreierlei Hinsicht:
In den westlichen Gesellschaften wollen Ideologen und Gutmenschen die Gesellschaft als Ganzes in eine moralische Rigorosität treiben, die diese mehrheitlich nicht zu leisten bereit ist. Darum geht es hauptsächlich bei dem erbitterten Streit um die Grenzen des Asylrechts und das erträgliche Ausmaß kulturfremder Einwanderung.
Der Begriff der Freiheit, angewandt auf das menschliche Individuum und die Gesellschaft, in der er lebt, schillert in seiner Bedeutung. Es führt leicht zu Missverständnissen, wenn man nicht ausreichend exakt umreißt, um welchen Aspekt von Freiheit es geht. Der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmannsegg unterscheidet den Freiheitsbegriff nach drei zentralen Aspekten:
Die Freiheit zu Punkt 1 kann auch im autoritären Rechtsstaat verwirklicht werden. Die Freiheit zu Punkt 2 setzt irgendeine Form von Demokratie voraus. Die Freiheit zu Punkt 3 hat zum modernen Sozialstaat geführt. 11
Quer über allen Freiheitsarten liegt der Aspekt der Meinungsfreiheit. Dazu gehört nicht nur die Freiheit, sich seine eigene Meinung selbst zu bilden und entsprechend freien Zugang zu Informationen zu haben, sondern insbesondere auch die Freiheit, die eigene Meinung innerhalb bestimmter Grenzen, die sich aus Anstand und Sitte ergeben, im privaten Kreis und öffentlich frei zu äußern, ohne dass dies zu Sanktionen des Staates oder der Gesellschaft führt. Wo man sich nicht über seine Gedanken mit anderen austauschen kann beziehungsweise Repressionen befürchten muss, ist die eigene Geisteswelt in Gefahr zu verkümmern, denn der menschliche Geist entfaltet sich im Austausch.
Politische und gesellschaftliche Freiheit muss sich tatsächlich immer zuerst an der Meinungsfreiheit bewähren. Das geistige Leben in jeder Gesellschaft ist immer auch ein Wettkampf zwischen unterschiedlichen Denkweisen. Diese kommen teils als dickflüssige Zeitströmungen, teils als Modewellen daher – vergleichbar einem Ozean, in dem es Grundströmungen wie den Golfstrom oder den Labradorstrom gibt, die von den Ereignissen lokaler Winde und Stürme überlagert werden.
Dickflüssigkeit und universale Präsenz von Zeitströmungen beeinflussen häufig auch das Denken kritischer und unabhängiger Geister. Es ist schwer, sich solchen Zeitströmungen zu entziehen. Wer dies gleichwohl mit Erfolg tut, wird häufig trotz bester Argumente nicht gehört, weil er dem Zeitgeist widerspricht. So wird der unabhängige Geist schnell zum sprichwörtlichen »Rufer in der Wüste«. Es fällt den meisten Menschen subjektiv schwer, sich beim eigenen Denken vom Zeitgeist zu lösen oder ihm gar zuwiderzuhandeln. Für einzelne Menschen oder kleine Gruppen ist es zudem objektiv schwer bis unmöglich, den herrschenden Zeitgeist nennenswert zu beeinflussen oder ihn gar in eine andere Richtung zu drängen. 12
Bisweilen helfen schockartige Ereignisse wie Putins Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 oder der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023:
Aber solche schockartigen Ereignisse, die der menschlichen Lernfähigkeit unmittelbar auf die Sprünge helfen, bleiben die Ausnahme, und die Erinnerung an sie verblasst schnell. Deshalb ist es eher die Regel, dass die Gesellschaft schleichenden Gefahren, die zu den gerade herrschenden Denkmoden nicht passen, durch Verdrängung und Nicht-wissen-Wollen so lange ausweicht, bis irreparable Schäden entstanden sind. Welches Ereignis, in seiner schockartigen Wirkung mit Putins Krieg vergleichbar, wäre zum Beispiel geeignet, in der deutschen Politik eine kritischere Haltung zum politischen Islam und seinen Gefahren für die deutsche Zukunft zu bewirken? Der Terrorangriff der Hamas auf Israel und der anschließende Jubel in den islamischen Stadtvierteln Europas haben dazu offenbar nicht ausgereicht. Gegenüber schleichenden Prozessen ist die öffentliche Meinung vor allem dann besinnungslos und lässt es an Risikobewusstsein mangeln, wenn durch die Anerkennung des Problems ein beliebtes vorherrschendes Narrativ gefährdet scheint.
Geistige Moden und vorherrschende Medienströmungen können zu einer Dominanz schiefer beziehungsweise falscher Berichterstattung führen – mit der Folge, dass sich auch das vorherrschende Meinungsklima in einer Gesellschaft falsch ausrichtet und von der Wirklichkeit löst. Darum ist in jeder Diktatur die Herrschaft über Medien und Propagandainstrumente so wichtig. Aber auch in einer Demokratie kann dominierende Propaganda für gewaltige Schieflagen sorgen:
Der öffentliche Umgang mit unerwünschten Wahrheiten durchläuft typischerweise ein vierstufiges Verfahren:
Einschränkungen von Meinungsfreiheit kommen nicht notwendigerweise und häufig auch nicht primär aus staatlicher Repression, sondern entwickeln sich oft zunächst aus antagonistischen Strömungen in der Gesellschaft. Staatliche Instanzen können dann schon dadurch zu Komplizen gesellschaftlicher Repression werden, dass sie sich aus bestimmten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen heraushalten und die Meinungsfreiheit von sozialen Gruppen oder von Individuen nicht ausreichend aktiv verteidigen.
Gefährlich wird es, wenn sich soziale Gruppen mit repressiver Tendenz staatlicher Institutionen bemächtigen und diese in ihren Dienst stellen. Dies gilt auch dann, wenn dieser Bemächtigung ein demokratischer Wahlvorgang vorausgeht. Alexis de Tocqueville vergleicht in seinen Betrachtungen zur Demokratie in Amerika (die zeitlich in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts angesiedelt sind) einen repressiven Staat europäischer Provenienz mit dem Repressionsdruck, der in einer Demokratie auf den Individuen mit falscher Meinung lasten kann, und kommt zu dem Schluss, dass die Ketten staatlicher Repression mehr geistige Freiheit mit sich bringen können als die gesellschaftliche Ächtung der Vertreter »falscher Meinungen« in einer Demokratie. 13 Dies wirft die Frage auf, ob der Mensch als solcher gewohnheitsmäßig unfähig zu innerer Liberalität und der damit verbundenen Gewährung von Meinungsfreiheit auch für jene Meinungen ist, die er selbst als abstoßend und unmoralisch empfindet.
Deshalb muss man grundsätzlich Angst haben vor repressiven Tendenzen in einer Gesellschaft – auch dort, wo Rechtsstaat und Demokratie scheinbar verwirklicht sind. Wo Raub und Mord ausgeschlossen und sowohl moralisch als auch durch die Gesetze geächtet sind, verbleiben immer noch die repressiven Mittel von Rufmord und psychischem Druck auf Menschen, die Meinungen vertreten, die nicht in das jeweils als politisch korrekt erachtete Raster passen. Die Medien machen dabei häufig mit, wenn sie nicht gar die Anführer sind, oder sie schweigen opportunistisch. Und der Staat, der die Meinungsfreiheit schützen sollte, hält sich oft raus oder zieht sich zurück. Damit habe ich meine eigenen Erfahrungen gemacht – und leider auch meine Familie:
Persönlich hatte ich mir über das Thema Meinungsfreiheit nie besondere Gedanken gemacht, obwohl ich in meinem gesamten Berufsleben immer wieder in bestimmte Kontroversen eingebunden war. Als allerdings die Zeitschrift Lettre International im September 2009 unter dem Titel »Klasse statt Masse« ein Interview mit mir zu den Problemen und Perspektiven Berlins veröffentlichte, erlebte ich erstmals einen regelrechten Mediensturm. Anlass waren meine darin enthaltenen kritischen Äußerungen zur Bildungsleistung und Inte grationsbereitschaft türkischer und arabischer Migranten in Berlin. 14 Studenten an der TU Berlin drohten damit, einen seit Längerem angekündigten finanzpolitischen Vortrag von mir zu stören. Der Vizepräsident der TU Berlin Jörg Steinbach – heute Wirtschaftsminister in Brandenburg – sagte daraufhin den Vortrag aus »Sicherheitsgründen« ab. Als ich dagegen protestierte, schrieb er mir, ich solle mich nicht so anstellen, das sei kein Angriff auf die Meinungsfreiheit. Das war es natürlich doch, denn die Technische Universität knickte höchstamtlich vor den Gewaltdrohungen radikaler Studenten ein. So entstand ein Muster, dem ich in den folgenden Jahren bei staatlichen Instanzen, die eigentlich die Rahmenbedingungen für die Freiheit der Meinungsäußerung sichern sollten, immer wieder begegnete.
Als ein Jahr später Deutschland schafft sich ab erschien, musste ich erleben, dass meine öffentlichen Veranstaltungen routinemäßig zum Ziel gewaltsamer Störversuche wurden. Die Örtlichkeiten der Veranstaltungsräume wurden beschmiert, Fenster wurden entglast, Stinkbomben flogen, einmal wurde ich Opfer eines Tortenwurfs. Die Polizei agierte stets vorzüglich, aber private Veranstalter bekamen mit der Zeit Angst und verloren den Mut. Bei kommunalen Veranstaltungsräumen schritten häufig lokale Politiker ein und untersagten ihren Veranstaltungsgesellschaften, die Räumlichkeiten für Lesungen mit mir zur Verfügung zu stellen. So ist es bis heute geblieben.
Als es trotz allem nicht gelang, mich öffentlich mundtot zu machen, und meine Bücher weiterhin erfolgreich verkauft wurden, wurde ich im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gecancelt. Seit Frühling 2014, als mein Buch über Meinungsfreiheit in Deutschland erschien, 15 versucht man dort, mich totzuschweigen. Nahezu zeitgleich wurden damals bereits vor längerer Zeit ausgesprochene und fest terminierte Einladungen bei ARD und ZDF abgesagt. Wer sich nur aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk informiert, muss davon ausgehen, dass ich bereits vor längerer Zeit gestorben bin.
Auch in Teilen der SPD – der Partei, der ich von 1973 bis 2020 angehörte – stießen viele meiner Bücher auf ein Missfallen, das nach mehrfachen vergeblichen Versuchen schließlich 2020 in meinem Ausschluss gipfelte. Die formale Begründung für den Ausschluss gaben meine Vorschläge zur Reform der Asylpolitik, die ich erstmals im August 2016 in einem FAZ -Artikel und 2018 auch in einem Buch veröffentlicht hatte. Mein Ausschluss änderte allerdings weder etwas an den vom mir beschriebenen Problemen, noch trug er etwas zu ihrer Lösung bei. Die SPD wirkt bei den Themen Einwanderung – Integration – Asyl so ratlos wie eh und je. Da ist es umso skurriler, dass ein Putin-Freund wie Gerhard Schröder, der als Gas-Lobbyist aus russischen Quellen viele Millionen verdient hat, weiterhin Mitglied der SPD sein darf. Ich sehe es mittlerweile als Ehre an, nicht mehr dazuzugehören
Problematisch wird es, wenn staatliche Institutionen, statt die Meinungsfreiheit zu schützen, selbst bestimmte Meinungen fördern – oder sanktionieren. So kann es kommen, dass staatliche Institutionen auch in einer Demokratie ihre Rolle als Wächter der Freiheit verlassen und den institutionellen und gesetzlichen Rahmen gefährden, der Meinungsfreiheit sichern soll. Besonders schwierig und damit auch besonders fehleranfällig sind die Versuche des demokratischen Rechtsstaats, Feinde der Meinungsfreiheit und damit auch der Demokratie von den Schalthebeln der Macht fernzuhalten.
Extrem bestürzend ist es in der historischen Rückschau, dass die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 auf vollständig legalem Weg stattfand: Das gilt für die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, für die danach erfolgende Auflösung des Reichstags und die Neuwahlen am 5. März 1933 sowie für die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes am 24. März 1933. Letzteres gab der Reichsregierung die zur Errichtung einer Diktatur notwendigen Vollmachten. Jeder Beamte im Staat, der die Gesetze und Rechtsverordnungen der neuen Reichsregierung vollzog, konnte sich der Legalität seines Handelns sicher sein. Möglich wurde dieser mehr oder weniger reibungslose Abschied von der Demokratie und von den mit ihr verbundenen bürgerlichen Freiheiten auch deshalb, weil der von den radikalen Anhängern der NSDAP und der KPD in der Endphase der Weimarer Republik entfesselte öffentliche Terror die ängstliche Mitte der Gesellschaft zum Rückzug und zum Stillhalten bewegte. Zuerst starb die Möglichkeit, die eigene Meinung öffentlich sanktionsfrei zum Ausdruck zu bringen, und dann starb die Demokratie.
Die Frage, wie man die Meinungsfreiheit auch von radikalen Demokratiegegnern sichern und ihnen gleichzeitig den demokratisch legitimierten Griff zur Macht wirksam verwehren kann, ist rein intellektuell, aber auch im administrativen Vollzug bis heute ungelöst. Um eine Wiederholung von Vorgängen zu verhindern, die zum Untergang der Weimarer Republik führten, wurde in der Bundesrepublik 1950 als Inlandsgeheimdienst das Bundesamt für Verfassungsschutz gegründet, das demokratiefeindliche Bestrebungen jedweder Art im Auge behalten soll. 1952 wurde in Westdeutschland die rechtsextreme Sozialistische Reichspartei (SRP) und 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) verboten.
Ergebnislos wird in Deutschland seit Jahrzehnten die Frage diskutiert, ob die Bedrohung der Demokratie durch Extremisten eher vom links- oder vom rechtsradikalen Meinungsspektrum oder auch vom religiösen Radikalismus in Gestalt des politischen Islam ausgeht. Je nach politischer Grundausrichtung sind hier die Einschätzungen sehr unterschiedlich. All solchen Debatten und den mit ihnen verbundenen administrativen Maßnahmen wohnt stets die Gefahr inne, dass übermäßige Eingriffe in die Meinungsfreiheit stattfinden oder in verwandte Rechte wie die Freiheit der Berufsausübung eingegriffen wird. Deshalb war auch der Radikalenerlass von 1972 so umstritten, der die Einstellung von Verfassungsfeinden in den Öffentlichen Dienst unterbinden sollte.
Bei Eingriffen in die Meinungsfreiheit zum Schutz der Demokratie ist es sehr schwierig, zu intellektuell sauberen und operativ handhabbaren Abgrenzungen zu kommen. Greift man zu weit ins intellektuelle Vorfeld, stehen irgendwann die Werke von Karl Marx, Friedrich Nietzsche oder Carl Schmitt auf dem Index gefährlicher Schriften. Wer sie liest, würde sich dann als Verfassungsfeind verdächtig machen und dürfte vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Zieht man den Kreis zu eng, so wird es immer schwieriger, zulässige von unzulässigen Denkfiguren abzugrenzen. Diese Widersprüche zeigen sich seit einiger Zeit bei den intellektuell hilflosen Versuchen des Bundesamts für Verfassungsschutz, die Spuren rechtsradikalen Denkens bei der AfD normativ widerspruchsfrei und operativ hinreichend eindeutig zu definieren, um die Beobachtung der AfD als potenziell verfassungsfeindlicher Organisation zu begründen. Die öffentlichen Äußerungen des Verfassungsschutzpräsidenten Thomas Haldenwang zeigen diese Unsicherheit. Sie verraten aber auch eine bedenkliche Tendenz, identische Sachverhalte auf der rechten und der linken Seite des politischen Spektrums unterschiedlich zu gewichten. So warf Haldenwang der AfD im Mai 2023 in einem Interview vor, in Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg russische Desinformation in Deutschland zu verbreiten. Der gleiche Vorwurf könnte natürlich auch an die Linkspartei gehen, wo Sahra Wagenknecht und ihre Anhänger in Bezug auf Russland und die Ukraine identische Desinformationen verbreiten. Diesen Schritt geht Haldenwang aber nicht. Bei Linkspartei und AfD misst der Verfassungsschutzpräsident offenbar mit zweierlei Maß. 16
Konkret schlägt sich ein problematischer und gedanklich unscharfer Umgang mit der Meinungsfreiheit bereits in der mit Amtsautorität vorgetragenen Definition des Bundesamts für Verfassungsschutz zum Rechtsextremismus und in dessen Anwendung auf konkrete Verdachtsfälle nieder. Das Bundesamt formuliert:
»Im Rechtsextremismus entscheidet die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder ›Rasse‹ über den Wert eines Menschen. In einer solchen ethnisch-rassistisch definierten ›Volksgemeinschaft‹ werden die zentralen Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung missachtet. Nationalismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie Rassismus und Antisemitismus, Geschichtsrevisionismus sowie Demokratiefeindlichkeit prägen die rechtsextremistische Agitation.« 17
Definitionen bedürfen keiner inhaltlichen Rechtfertigung, soweit sie inhaltlich logisch und widerspruchfrei sind. Man kann sie teilen oder auch nicht. Strategisch zentral ist in der Definition des Bundesamts der Begriff vom »Wert eines Menschen«, der unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder Rasse sein soll. Dem kann man nur zustimmen. Intellektuell unzulässig ist aber die Vermischung mit der Verwendung eines ethnisch orientierten Volksbegriffs. Denn auch der Begriff des Volkes ist eine Definitionsfrage, und seine herkömmliche und bis in die Gegenwart weit überwiegende Definition ist ethnisch-kulturell. So definiert die Brockhaus-Enzyklopädie von 1974 das Volk als »eine durch gemeinsame Herkunft, Geschichte, Kultur und meist auch Sprache verbundene Gesamtheit von Menschen«. Der Begriff, so der Brockhaus weiter, »hat im Lauf der Geschichte verschiedene Wandlungen erfahren und ist nicht immer eindeutig abgrenzbar. Politisch und historisch, ist Volk im Wesentlichen gleichbedeutend mit Nation.« 18
Volk und Staat bedeuteten historisch gesehen fast immer etwas Unterschiedliches. Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit sind also nicht notwendig identisch. So entwickelte sich die Schweiz mit ihren drei Landessprachen Deutsch, Französisch und Italienisch im 19. Jahrhundert zu einer Willensnation, die auf der Souveränität der Kantone, der Gleichheit der Bürger vor dem Recht und der Garantie der bürgerlichen Freiheiten gründet. Der österreichische Kaiser Franz-Joseph sandte am Vorabend des Ersten Weltkriegs seine Botschaft »An meine Völker« und warf schon durch diese Überschrift Deutsche, Ungarn, Kroaten, Tschechen, Polen und Italiener bewusst nicht in einen Topf. In der 1920 neu gegründeten Republik Polen unterschied man zwischen Staatsangehörigkeit und Nationalität. So war im polnischen Pass meiner Mutter, 1920 in Westpreußen geboren, neben der polnischen Staatsangehörigkeit die deutsche Nationalität vermerkt. Und im Deutschland der Gegenwart haben die beiden anerkannten Minderheiten in Deutschland, die Dänen in Schleswig-Holstein und die Sorben in Sachsen, ihren Minderheitenstatus in bewusster, politisch gewollter Anerkennung ihrer ethnisch-sprachlich-kulturellen Besonderheit.
Darum ist es abwegig, wenn der deutsche Verfassungsschutz, wie er dies zunehmend tut, den Vorwurf des Rechtsextremismus an der Verwendung eines ethnisch-kulturellen Volksbegriffs festmachen will. Nicht ein ethnisch-kultureller Volksbegriff, nicht der Wunsch, kulturfremde Einwanderung zu beschränken, und auch nicht der Wunsch, unter Menschen gleicher Ethnie und Sprache zu leben, sind moralisch und politisch abzulehnen. Allein eine sachlich unbegründete, rassistisch motivierte Abwertung von Personen und Gruppen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft ist als extremistisch anzusehen und selbstverständlich moralisch verdammenswert.
Diese Abgrenzung wird im Verfassungsschutzbericht 2022 systematisch unterlaufen. Stattdessen wird an zahlreichen Stellen der Eindruck erweckt, es genüge schon, an einem ethnisch-kulturellen Volksbegriff festzuhalten und kritisch gegenüber kulturfremder Einwanderung zu sein, um den Vorwurf des Rechtsextremismus zu rechtfertigen. Zur Begründung für die Einstufung der AfD als Verdachtsfall führt der Verfassungsschutz »ein ethnisch-kulturell geprägtes Volksverständnis sowie fremden- und minderheitenfeindliche und muslim- und islamfeindliche Positionen« an. 19 Es fehlen im Verfassungsschutzbericht Zitate wichtiger AfD-Funktionsträger, die das pauschal geäußerte Verdachtsmoment konkret untermauern. Und es unterbleibt auch die konkrete Abgrenzung zwischen »feindlich« und »kritisch«: Wer zum Beispiel den gesellschaftlichen Einfluss bestimmter Ausprägungen des islamischen Glaubens kritisch sieht und auf die innewohnenden Gefahren hinweist, ist weder ein Islam- noch ein Muslimfeind. Der Verfassungsschutz selber widmet ja im Verfassungsschutzbericht 2022 den islamistischen Gefahren und dem wesentlich durch den Islam geprägten auslandsbezogenen Extremismus zwei Kapitel von insgesamt 200 Seiten Länge.
Auch ist derjenige, der faktenbezogen auf die überdurchschnittliche Kriminalität und unterdurchschnittliche Bildungsleistung bestimmter Migrantengruppen hinweist und den in bestimmten Milieus herrschenden Kopftuchzwang für Frauen und Mädchen kritisiert, weder islam- noch fremdenfeindlich. Vielmehr würde dieser Vorwurf auch zahlreiche Schriftsteller in Deutschland mit islamischem Migrationshintergrund treffen, die sich in ihren Büchern islamkritisch äußern. Unscharf bleibt in der Argumentation des Verfassungsschutzes zudem die Grenze zwischen sachbezogener Kritik an der deutschen Einwanderungspolitik und an bestimmten Einwanderermilieus einerseits und Polemik sowie pauschaler Herabsetzung andererseits. Auch stellt der Verfassungsschutz offenbar nicht in Rechnung, dass scharfe politische Auseinandersetzungen generell zu einer wenig differenzierten Sprache und häufig überzogener Polemik neigen. Das ist leider nicht nur auf die AfD beschränkt.
Es bleibt der Verdacht gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz und das inhaltlich verantwortliche Bundesinnenministerium, dass das Festhalten an einem ethnisch-kulturellen Volksbegriff und eine kritische Grundhaltung gegenüber kulturfremder Masseneinwanderung schon als solche genügen sollen, um den Vorwurf des Rechtsextremismus zu rechtfertigen. Damit würden große Teile des konservativen Flügels der deutschen Gesellschaft bis weit in die Mitte hinein pauschal in die rechtsextreme Ecke geschoben. An dieser Stelle stellt sich die Frage: Welches Verfassungsverständnis haben der Bundesverfassungsschutz und das Innenministerium? Stehen sie mit dem Versuch der Ausgrenzung großer Teile der deutschen Bevölkerung aus dem als legitim erachteten öffentlichen Diskurs wirklich noch auf dem Boden des Grundgesetzes? Und gefährden sie nicht so die freiheitlich-demokratische Grundordnung, zu deren Schutz sie doch gesetzlich aufgerufen sind?
Diese Diskussion muss politisch geführt werden, und sie muss ernst genommen werden. Trotz aller intellektuellen Schwierigkeiten bleibt es nämlich grundsätzlich richtig, dass der Staat als Hüter der Meinungsfreiheit auftritt. Denn seine wichtigste Aufgabe ist es, ganz im Sinne von Thomas Hobbes, den Menschen vor seinen Mitmenschen zu beschützen und das friedliche Zusammenleben aller durch die Ausübung der Staatsgewalt sicherzustellen. Dazu gehört auch die staatlich garantierte Sicherstellung eines gesetzlichen zulässigen Umfangs an freier Meinungsäußerung im privaten Kreis und im öffentlichen Raum. Die Sicherstellung einer »offenen Gesellschaft« durch einen staatlich garantierten Raum für die freie Meinungsäußerung und unbehinderten geistigen Austausch ist also eine staatliche Daueraufgabe. Sie angemessen zu bewältigen, ist alles andere als trivial. Die konkreten Bedrohungen, um die es dabei geht, sind auch stetig in einem historischen Wandel begriffen:
Zunächst einmal gilt, dass die Staatsmacht selbst sowie die Gesetze, die sie erlässt, und die Normen, die sie damit durchsetzt, nicht aus dem Nirwana kommen oder als offenbartes normatives Wissen quasi vom Himmel fallen. Die Ausformung der Staatsmacht ist vielmehr selber ein Produkt der Gesellschaft, deren zulässige Diskursräume sie regulieren will .
Eine jede Gesellschaft, die kein reiner Gottesstaat ist oder als Stammesgesellschaft gewohnheitsmäßig traditionellen Mustern folgt, ist von antagonistischen Debatten geprägt. Diese ergeben sich teils aus materiellen Interessen, teils aus religiösen Perspektiven, teils aus schierem Machtstreben und teils aus der Entwicklung gegensätzlicher Geistesströmungen. Welches Spektrum von Meinungen der Staat zulässt und welchen Umfang von Meinungsfreiheit er unter seinen staatlichen Schutz stellt, ist historisch gesehen und je nach dem kulturellen Hintergrund einer Gesellschaft sehr unterschiedlich:
In den westlich geprägten Demokratien, deren staatliche Regulierungen formal gesehen ein historisch beispielloses Spektrum für die freie Meinungsäußerung sicherstellen, tun sich aber neue schwere Risiken für die Meinungsfreiheit auf. Diese kommen nicht vom Staat, sondern erwachsen aus antagonistischen Debatten in der Gesellschaft. Die damit verbundene Radikalisierung und zunehmende Intoleranz beschränken sich keineswegs auf deren linke und rechte Ränder, sondern erfassen auch die Mitte. Nicht der staatliche Rechtsrahmen bedroht hier die Meinungsfreiheit, sondern es sind gesellschaftliche Strömungen. Sie haben teilweise einen religiös, großenteils aber einen ideologisch gefärbten Charakter. Dieser nimmt häufig in seiner Absolutheit religionsähnliche Züge an. Jede Ideologie, die sich selbst absolut setzt und eine gewisse Zahl von zu allem entschlossenen Anhängern hinter sich versammelt, hat die Tendenz, abweichende Meinungen als unmoralisch zu denunzieren und ihre Äußerung zu unterdrücken. Dies ist bereits gefährlich, wenn es eine rein gesellschaftliche Auseinandersetzung bleibt. Es wird aber besonders gefährlich, wenn es einer solchen zur Einschränkung der Meinungsfreiheit neigenden ideologischen Richtung gelingt, sich der staatlichen Organe ganz oder teilweise zu bemächtigen.
Das kann auch auf demokratischem Weg geschehen: So war es bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten, so war es bei der allmählichen Umgestaltung Russlands in Putins Diktatur, so ist es bei der Ausbreitung von Erdoğans Herrschaft in der Türkei. Auch der amerikanische Präsident Trump war durchaus auf dem Weg dahin, die amerikanische Demokratie in eine Autokratie nach seinem Geschmack zu verwandeln. Deshalb war es folgerichtig, dass er seine Wahlniederlage mit Betrug und Verschwörung erklärte.
Hochaktuell ist das vom Verfassungsrechtler Wolfgang Böckenförde 1964 geäußerte Diktum: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.« 20 Diese Voraussetzungen wurzeln in den für das Funktionieren von Demokratie unverzichtbaren Einstellungen der Bürger. Beispielhaft nenne ich einige geistige Tendenzen der Zeit, die auf die Einschränkung oder Abschaffung von Freiheit der Meinungsäußerung hinauslaufen können. So einseitig, borniert oder schlichtweg geistig beschränkt solche Tendenzen auch sein mögen, sie finden immer Fürsprecher im akademischen Raum, die unter dem Schutz ihres zumeist in den Geisteswissenschaften erworbenen Professorentitels auch das Unsäglichste in den Rang einer wissenschaftlich ernst zu nehmenden These erheben. Und stets gibt es genügend Medienvertreter, die unwissend oder borniert genug sind, um in Presse, Funk und Fernsehen oder in den Sozialen Medien lautstark ins selbe Horn zu stoßen. Unter den der Meinungsfreiheit feindseligen Denkmustern sind derzeit besonders aktuell:
Klimafetischismus
Zum Klimawandel geht die weit überwiegende wissenschaftliche Auffassung dahin, dass die seit Beginn der Industrialisierung zu beobachtende Zunahme von CO2 in der Atmosphäre zu einem Anstieg der Durchschnittstemperatur auf der Erde führt und dass dieser Anstieg für die Lebensbedingungen auf der Erde gefährliche Auswirkungen hat. Darum ist es notwendig und gerechtfertigt, CO2 -Emissionen auf der Erde zu begrenzen und möglichst schnell zurückzuführen. Klar ist aber auch, dass der Einfluss Deutschlands oder Europas dabei schon quantitativ sehr begrenzt ist und vor allem durch das moralische und technische Vorbild für die Welt wirkt.
Als Klimafetischismus bezeichne ich eine Einstellung, die so tut, als ob das Wohl und Wehe der Welt daran hängt, in welchem Tempo Deutschland seine CO2 -Emissionen reduziert und dabei jede vernünftige Abwägung in Hinblick auf Arbeitsmarkt, Wohlstand und industrielle Wettbewerbsfähigkeit als unmoralisch und menschenfeindlich disqualifiziert. Wer gegenüber bestimmten wissenschaftlichen Ansichten skeptisch ist oder auch möchte, dass große Eingriffe in die menschliche Handlungsfreiheit angemessen abgewogen werden, hat es nicht verdient, als Klimaleugner oder Menschenfeind diskreditiert zu werden.
Klimafetischismus wird dann freiheitsfeindlich, wenn er zur Beschädigung von Sachen führt oder andere Menschen daran hindert, die ihnen gesetzlich zustehenden Rechte auszuüben. Wer Bäume vor dem Kanzleramt fällt, das Brandenburger Tor besprüht und Straßen sperrt, indem er sich an der Fahrbahn festklebt, hat keinen Respekt vor der Freiheit anderer. Er setzt die eigene Weltsicht nicht nur absolut, sondern will sie anderen mit Gewalt aufzwingen.
Verneinung der menschlichen Biologie
2010 löste ich einen Sturm der Entrüstung aus, als ich in Deutschland schafft sich ab auf die wissenschaftlich unbestreitbare Tatsache hinwies, dass Intelligenz wie die meisten menschlichen Eigenschaften biologisch verankert und damit überwiegend erblich ist und dass es deshalb für die kognitive Kompetenz in einer Gesellschaft nicht gleichgültig ist, wer die Kinder bekommt und wie viele. Die ganze Evolution des Lebens auf der Erde einschließlich der Entwicklung des Menschen beruht darauf, dass unterschiedliche erbliche Eigenschaften auch Unterschiede im Reproduktionserfolg mit sich bringen. Biologie ist Schicksal, das gilt für die gesamte Natur und auch für den Menschen als einen Teil derselben.
Das widerspricht einem ideologischen Gleichheitsideal, wonach jeder Mensch alle Facetten des Menschseins voll in sich tragen soll. Wo er diese nicht verwirklicht, kann diesem Ideal zufolge nur die Gesellschaft verantwortlich sein, nicht aber seine angeborenen Eigenschaften. Denkt man das zu Ende, so könnte jeder beliebige Mensch zu einem Einstein werden, mindestens aber erfolgreich ein Medizinstudium bewältigen, wenn man ihn nur ausreichend fördert. Dieses Zerrbild der Wirklichkeit beherrscht, bewusst oder unbewusst, das Denken in großen Teilen der Geisteswissenschaften, der Medien und der Politik. Es fragt sich dann nur, warum Moderatoren des Heute Journals oder Fußballspieler bei Bayern München so gut bezahlt werden, wenn doch bei ausreichendem Training jeder entsprechende Leistungen vollbringen kann.
Natürlich weiß jeder Fußballfan, dass das Gold in den Beinen der Spitzenspieler nur begrenzt antrainiert werden kann, und darum akzeptiert er neidlos die fantastischen Gehälter seiner Idole. Menschen brauchen faire Chancen, Fleiß und Anstrengungsbereitschaft können viel bewirken. Daneben aber wirken angeborene Unterschiede. Wer das nicht akzeptieren will, wittert überall Ungerechtigkeit, Unterdrückung oder gar Rassismus.
Im Genderwahn hat sich die konsequente Ablehnung der menschlichen Biologie aufs Äußerste gesteigert. Ob man weiblich, männlich, trans oder irgendwie divers ist, soll von der menschlichen Biologie völlig unabhängig sein. Konsequent plant die Bundesregierung bei der Reform des Personenstandsrechts, dass jeder selber entscheiden kann, ob er im Personalausweis sein Geschlecht als männlich oder weiblich eintragen lässt. Männern, die personenstandsrechtlich Frauen sind, darf aber gleichwohl im Hallenbad der Zugang zu den Frauenduschen verweigert werden, wenn der Bademeister dies so entscheidet. Ganz pragmatisch entscheidet dann der Augenschein über eine Zugangsberechtigung oder eben nicht.
Eine staatliche Politik, die sich hat verbieten lassen, Männer als Männer und Frauen als Frauen zu benennen, delegiert also, wenn es konkret wird, ihre originäre Aufgabe an den Bademeister. Das sind die Folgen eines auf die Spitze getriebenen Gleichheitswahns.
Wer in Literatur und Wissenschaft gleichwohl auf den biologischen Unterschied von Mann und Frau besteht, wird schnell zum Opfer einer intoleranten Hetzmeute. Die staatlichen Organe, die solchem Treiben gleichmütig zuschauen oder sich feige wegducken, leisten für die Meinungsfreiheit, die doch der Staat gewährleisten soll, einen Bärendienst. Für Thomas Thiel ist es seltsam, »dass eine Partei wie die Grünen, die aus der Sehnsucht nach ursprünglicher Natur entstanden ist«, in der Genderfrage »gesellschaftspolitisch nun das ganz entgegengesetzte Modell vertritt: totale Emanzipation vom Naturschicksal«. 21
Rassismus-Wahn
Die Auffassung, dass über den Wert des Menschen seine ethnische Herkunft entscheidet, ist rassistisch. Der biologische Rassismus hat zu Recht jeden wissenschaftlichen und moralischen Kredit verloren. Das tut jedoch der Tatsache keinen Abbruch, dass Menschen auch durch ihre Biologie geprägt sind und dass zum Beispiel der optische Unterschied zwischen einem Nigerianer, einem Schweden und einem Koreaner augenfällig ist.
Wichtig ist es – und ein entscheidender kultureller Fortschritt –, immer das Individuum zu sehen. Dieses braucht faire Chancen und die Freiheit, sich so zu entwickeln, wie es möchte. Wenn sich dann beispielsweise erweist, dass alle Weltrekorde im Kurzstreckenlauf an Sportler fallen, deren genetische Herkunft Westafrika ist, dann ist dies kein Ausdruck von Diskriminierung gegenüber Menschen anderer Herkunft.
Wenn eine Gesellschaft wie in den USA damit konfrontiert wird, dass sich die. durchschnittlichen Erfolge im Bildungs- und Beschäftigungssystem je nach ethnischer Herkunft deutlich unterscheiden, dann muss man prüfen, wie sich die individuelle Chancengleichheit weiter verbessern lässt, dazu gehört auch der Abbau von Diskriminierung aller Art. Entscheidend ist die Stärkung der Motivation, der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft des Individuums unabhängig von Herkunft und Hautfarbe. Der überdurchschnittliche Erfolg von Juden und Chinesen im amerikanischen Bildungs- und Beschäftigungssystem zeigt, dass auch anhaltende Diskriminierung kein Hindernis sein muss, wenn die eigene Motivation entsprechend stark ist.
Falsch ist es dagegen, für eine bestimmte ethnische Herkunft einen gesellschaftlichen Sonderbonus einzufordern. So wird die Bereitschaft des Individuums geschwächt, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Bei der gegenwärtig in den USA grassierenden Critical Race Theory (CRT) ist eben das der Fall. Sie läuft darauf hinaus, dass die Schwarzen von der individuellen Verantwortung für ihre Leistungen im Bildungssystem und ihre Stellung in der Gesellschaft entlastet werden. Die Schuld daran wird pauschal der weißen Mehrheit zugesprochen. Nur durch die Tatsache seiner Geburt als Weißer, ohne irgendein besonderes Zutun, wird in der CRT ein Weißer für die gegenwärtigen Geschicke von Schwarzen verantwortlich gemacht. Unerklärt bleibt, weshalb die über lange Phasen der Vergangenheit keineswegs weniger diskriminierten Ostasiaten und Juden durch ihre Diskriminierung nicht behindert wurden. Richtig wäre es, die Aufstiegsgeschichten dieser ehemals diskriminierten Minderheiten zu untersuchen und die dort beobachteten Muster allen anzuempfehlen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, die gegenwärtig weniger erfolgreich sind.
Es ist nicht erstaunlich, dass Versuche, die Critical Race Theory auch in Schulen zu lehren, in den USA einen regelrechten Kulturkampf ausgelöst haben und zur wachsenden Entfremdung zwischen Republikanern und Demokraten führen. Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub, der an der Universität Stanford lehrt, rechtfertigt die CRT damit, dass das amerikanische Rechtssystem die tatsächliche Gleichstellung von Schwarzen nicht erreicht habe. Er klammert aber einige Tatsachen und die Ursachen von Leistungsunterschieden im Bildungssystem aus. So wird definitorisch unterstellt, dass die beobachteten Leistungsunterschiede Ausfluss von Ungerechtigkeit und Diskriminierung sind. Dabei kann man überall dort in den USA, wo überwiegend schwarze Lehrer vornehmlich schwarze Schüler unterrichten (und daher potenziell diskriminierende Weiße sowohl bei Lehrern als auch bei Schülern vollständig entfallen), davon ausgehen, dass gleichwohl bestehende Leistungslücken ihre Ursache nicht in rassistischer Diskriminierung haben. 22
Die Critical Race Theory ist symptomatisch für die Inflationierung von Rassismusvorwürfen, die seit einigen Jahren zu beobachten ist. Dazu gehört die Kategorie des kulturellen Rassismus, der all jenen vorgeworfen wird, die die Ursachen bestimmter Fehlentwicklungen von Gesellschaften in Elementen der dort vorherrschenden Kultur suchen. Auch grundsätzliche Kritik an der Asylpolitik der Bundesregierung wird in Deutschland gerne mit dem Rassismusvorwurf gekontert. So erging es dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, gegen den der Landesverband der Grünen in Baden-Württemberg im November 2021 ein Parteiausschlussverfahren anstrengte. Er hatte sich in einem Buch kritisch zur Asylpolitik geäußert, das wurde nun gegen ihn verwendet. 23 Die Oberbürgermeisterwahl in Tübingen gewann er gleichwohl im Oktober 2022 als Parteiloser haushoch gegen die Kandidaten von Grünen und SPD. Als Ende März 2023 ein bekannter, aus Gambia stammender Drogenhändler und Asylbewerber in einem Tübinger Park bei einer Messerattacke starb, kritisierte Palmer erneut die Asylpolitik der Bundesregierung, die zu solchen Zuständen geführt habe. Erneut – und ganz unsinnig – wurde der Rassismusvorwurf laut. 24 Dabei war es doch nicht Palmers Schuld, dass der mit Drogen handelnde Asylbewerber aus Gambia stammte und eine schwarze Hautfarbe hatte. Aber dieser Umstand genügte offenbar, um Palmers Kritik an der Asylpolitik mit einem erneuten Rassismusvorwurf zu kontern. Mittlerweile gibt es eine Tendenz, alle gesellschaftlichen Ausprägungen von vermuteter oder tatsächlicher Diskriminierung mit dem Rassismusvorwurf zu belegen. Das mag mobilisieren, raubt einer so angelegten »Rassismusforschung« aber gleichzeitig die wissenschaftliche Legitimation. 25
Cancel Culture
Mit empirisch unhaltbaren, ideologisch aufgeladenen Konzepten wie der Ablehnung eines biologisch determinierten Geschlechts oder der Critical Race Theory wuchsen der Druck und auch die Versuchung, kritische Diskussionen möglichst vorausschauend zu unterbinden, um die Verbreitung und Durchsetzung der jeweiligen reinen Lehre sicherzustellen. Das führt zu einem Ersterben kritischer Dialoge. In den USA ist diese Entwicklung weiter als in Deutschland. Der Spiegel -Journalist René Pfister hat dazu ein alarmierendes Buch geschrieben. 26 Aber auch in Deutschland macht die Cancel Culture Fortschritte und bedroht die Meinungsfreiheit. Der amerikanische Jurist und konservative Kommentator Ben Shapiro kritisiert die verheerende Ausbreitung eines auf Fiktionen beruhenden Meinungsjournalismus: »Sie behaupten, dass ihre Meinungen die Fakten widerspiegeln, dass diejenigen, die abweichende Meinungen vertreten, unehrlich sind und dass man, um objektiv zu sein, andere Meinungen nicht anhören und auch nicht über sie berichten muss. Journalisten machen sich selbst zur Story – und wenn man Zweifel an ihnen hat, dann vertritt man die Anti-Wahrheit und den Anti-Journalismus.« 27
Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub, der so viel Verständnis für die Critical Race Theory aufbringt, behauptet in seinem Buch über Cancel Culture dem Sinne nach, diese gebe es eigentlich gar nicht. Sie sei überwiegend eine Einbildung konservativer Geister, die sich darüber ärgern, dass man ihnen nicht genügend zuhört. Es gebe lediglich wenige Fälle von bloß anekdotischer Evidenz, von denen er einige anführt. 28 Der Siegener Philosoph Dieter Schönecker weist ihm dazu in einer vernichtenden Rezension einen klassischen induktiven Fehlschluss nach: Nur weil es einige Fälle von Cancel Culture gibt, bei denen die Evidenz bloß anekdotisch ist, sind damit die zahlreichen anderen Fälle, in denen wissenschaftliche Meinungen tatsächlich unterdrückt werden, noch lange nicht widerlegt. Und hier sei eben die Beweislage überwältigend. 29
Cancel Culture kommt überwiegend von links. Aber sie macht sich, teils als Reaktion, teils aus eigenem innerem Antrieb, auch im konservativen Spektrum breit. Ein besonders schockierendes Beispiel, das in seiner Absurdität auch komisch war, gab es im März 2023 an einer Privatschule in Florida: Dort wurde die Direktorin entlassen, weil im Kunstunterricht im 6. Schuljahr Bilder aus der italienischen Renaissance gezeigt worden waren, unter anderem die Statue des David von Michelangelo und die Geburt der Venus von Botticelli. Anlass des Skandals war die Nacktheit des David und der Venus . Bei einigen Eltern gab es einen Proteststurm, und die Direktorin musste gehen.
Man ist bei diesem Beispiel erschrocken, wie weit sich ein Teil der konservativen Amerikaner von den Quellen der abendländischen Kultur entfernt hat. Cecilie Hollberg, die Direktorin des Florentiner Museums, in dem der David steht, konstatiert »Übertriebene Prüderie, aber auch schiere Unkenntnis, was Pornografie eigentlich bedeutet … Dann ist da noch diese merkwürdige Wendung unserer Zeit, dass jeder randständigen Meinung Raum und oft auch Recht gegeben wird. Und schließlich fehlt immer mehr Menschen eine solide kulturelle Basis, sie wissen einfach zu wenig. … Weltoffenheit ist wunderbar, aber dabei sollten wir nicht unsere eigene kulturelle Basis aus dem Blick verlieren. Denn das ist wirklich besorgniserregend!« 30
Auch das ist ein Problem: Wo Unwissenheit herrscht, läuft auch die Meinungsfreiheit leer – und zwar so, dass ihre sinnvolle Ausübung gar nicht mehr möglich ist. Unwissenheit und aus ihr sprießende Zwangsvorstellungen und Vorurteile führten im ausgehenden Mittelalter zum Hexenwahn, der bis in das 18. Jahrhundert hinein für viele Tausend unschuldige Menschen den qualvollen Flammentod bedeutete.
Herrschaft des Gesetzes, die Gewährleistung elementarer Menschenrechte sowie die Sicherung der persönlichen Meinungsfreiheit im privaten wie im öffentlichen Raum sind für mich entscheidende Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens in einer jeden Gesellschaft. Wenn eine demokratische Regierungsform diese gewährleistet, so ist dies umso besser. Wenn diese Notwendigkeiten aber in einer bestimmten Gesellschaft durch eine autoritäre Regierungsform besser gesichert werden als durch demokratische Entscheidungswege, so muss man dies akzeptieren. Es gibt ja auch viele Mischformen, und eine ideale Demokratie »an und für sich« ist bis heute nicht erfunden worden.
Für solche Mischformen ist die politische Geschichte des »Mutterlands der Demokratie«, nämlich England, exemplarisch: Der Ursprung bürgerlicher Freiheitsrechte und die damit verbundene Einschränkung königlicher Macht ist die Magna Charta Libertatum , eine Auflistung von Freiheitsrechten, die die englischen Barone 1215 dem durch militärische Niederlagen in Frankreich geschwächten König Johann abzwangen. Die Einhaltung dieser Rechte wurde zunächst durch ein von den Baronen gewähltes Komitee und ab 1264 durch ein von den freien Bürgern gewähltes Parlament überwacht. Die Machtkämpfe zwischen königlicher Hoheit und parlamentarischer Kon trolle hielten gleichwohl über Jahrhunderte hinweg an. Erst mit der Glorious Revolution von 1688/89 kam es zur dauerhaften Begrenzung königlicher Macht durch parlamentarische Mitwirkungs- und Zustimmungsrechte. Durch wiederholte Reformen wurde die Machtverteilung zwischen König und Parlament immer weiter zugunsten des Letzteren verschoben. Auch das Wahlrecht wurde nur allmählich ausgeweitet. Erst seit 1918 durften, unabhängig vom Besitz, alle männlichen Bürger über 21 Jahren sowie Frauen ab 30 Jahren wählen, ab 1928 galt dann auch für Frauen das Wahlrecht ab 21 Jahren.
Die historischen Eigenarten der staatsrechtlichen Entwicklung in Großbritannien brachten es mit sich, dass das Land bis heute über keine geschriebene Verfassung verfügt. Dennoch ist Großbritannien eine funktionierende Demokratie mit ausgeprägter Gewaltenteilung und Sicherheit des Bürgers vor staatlicher Willkür. Winston Churchill wird das Bonmot zugeschrieben, der Unterschied zwischen einer Demokratie und einer Diktatur bestehe darin, dass man, wenn es in England morgens um sieben Uhr an der Tür klingele, sicher sein könne, dass es sich um den Milchmann und nicht um die Polizei handele.
Auch die Demokratie ändert den Menschen als solchen nicht. Sie versieht ihn insbesondere nicht mit einer höheren Moral. Aber Gewaltenteilung und demokratische Kontrolle können, wenn sie funktionieren, staatliche und private Willkür wirksam einschränken. Eine Garantie dafür gibt es jedoch nicht. In der Welt gibt es zahlreiche Staaten, die zwar eine Demokratie sein mögen und auch mehr oder weniger regelmäßig Wahlen abhalten, in denen aber gleichzeitig das staatliche Handeln über weite Strecken von Willkür und Korruption gekennzeichnet ist beziehungsweise – fast noch schlimmer – in denen der Staat nicht den Willen und die Mittel hat, die Bürger gegen die Willkür staatlicher Organe und gegen private Willkür unterschiedlichster Art ausreichend zu beschützen. Das größte Risiko für das Funktionieren von Demokratie liegt in Mängeln und Schwächen der menschlichen Natur. Auch starke demokratisch kontrollierte staatliche Strukturen können diese Schwächen nicht aufheben, sie können aber ihre Auswirkungen beschränken und abmildern. An dieser Stelle führe ich insbesondere vier Risiken auf:
Opportunismus
Zu Beginn der Nazidiktatur gab es das Massenphänomen der sogenannten Märzgefallenen. Das waren alle jene in der Verwaltung, der Wissenschaft, der Wirtschaft aber auch in den Medien, die von den neuen Herrschaftsverhältnissen profitieren wollten, indem sie ab März 1933 möglichst schnell der NSDAP beitraten. So brachte es die NSDAP bis 1945 auf insgesamt sieben Millionen Mitglieder. Das waren rund 10 Prozent der Bevölkerung. Ein ähnlich hoher Prozentsatz war in der DDR beim Fall der Mauer Mitglied der SED. Solch eine opportunistische Haltung beschränkt sich nicht auf Diktaturen: Zu den Hochzeiten der SPD-Herrschaft in Bundesländern wie Hamburg, Nordrhein-Westfalen oder Hessen wurden auch durchaus Hausmeisterposten in Schulen nach Parteibuch besetzt, und in Bayern war es über Jahrzehnte hinweg recht klar, dass es für die Karriereaussichten in der staatlichen Verwaltung sehr günstig war, wenn man ein Parteibuch der CSU vorweisen konnte.
Das Hohelied des Opportunismus heißt »Wes’ Brot ich es, des’ Lied ich sing«. Opportunismus mischt sich oft mit Loyalität und persönlichen Treueverhältnissen. Beide sind in funktionierenden Organisationen unverzichtbar. Das macht die Unterscheidung zu opportunistischem Verhalten umso schwieriger. Man kann den Menschen nicht ins Herz schauen. Aber den allermeisten tritt man nicht zu nahe, wenn man ihnen unterstellt, dass ihre Ansichten und Einstellungen, vor allem jene Ansichten und Einstellungen, die sie öffentlich äußern, sich auch nach den Vorteilen richten, die sie sich von einer »passenden« Meinung und entsprechendem Verhalten erhoffen. Das ist keineswegs auf den politischen und gesellschaftlichen Bereich beschränkt. Auch in Unternehmen macht bei vergleichbarer Tüchtigkeit jener Mitarbeiter schneller Karriere und bekommt eher die Chance, sich bei herausfordernden Aufgaben zu bewähren, der sich besser in die große Linie der jeweiligen Unternehmensführung einfügt. Eine opportunistische Haltung soll also keineswegs pauschal verteufelt werden: Sie macht es vielfach leichter, menschliches Verhalten in Bezug auf bestimmte Ziele und bereits getroffene Entscheidungen zu koordinieren. Machtbewusste Führer setzten in gewissem Umfang immer auf das opportunistische Verhalten sowohl bei ihren Unterstützern als auch bei ihren Kritikern.
Prinzipienfestigkeit und Treue zu angestammten Überzeugungen haben sich immer wieder als eine überaus wirksame Karrierebremse erwiesen, wenn die jeweils Mächtigen einen anderen Kurs bevorzugten. Das gilt auch und gerade für die Abgeordneten in einem demokratisch gewählten Parlament. So sind zum Beispiel auch in einer größeren Bundestagsfraktion wirklich einflussreiche Positionen – sei es als Mitglied der Regierung, Mitglied der engeren Fraktionsführung oder Vorsitzender eines wichtigen Ausschusses – durchaus knapp, und die Chancen für eine solche Position sind umso besser, je loyaler (oder unkritischer) man zur jeweiligen Führung steht. Wer sich hier zu sehr mit eigenen Positionen vorwagt, mag beliebt in manchen Talkshows sein. Aber der innere Zirkel der Macht bleibt solch einem aufrechten Streiter für das aus seiner Sicht Richtige nur zu oft verschlossen. Die dadurch bedingten Spannungen und zwiespältigen Motivationen sind unaufhebbar mit dem System demokratischer Entscheidungsfindung verbunden, aber sie begünstigen eben auch den Opportunismus. Angela Merkel verstand es als Parteivorsitzende und Bundeskanzlerin meisterhaft, auf diesem Instrumentarium zu spielen. Das entleerte die Debatten und führte zu einem geistig abstumpfenden Akklamationssystem, unter dessen Folgen die Union als Partei langfristig leidet.
Das Beispiel Merkel habe ich hier nur exemplarisch herausgegriffen. Die Rolle des Opportunismus lässt sich bei der Meinungsbildung zu vielen großen (und kleinen) Fragen der Zeit illustrieren. Opportunismus soll auch keineswegs generell abqualifiziert werden, oft stellt er ein notwendiges Bindemittel dar, um überhaupt zu Entscheidungen zu kommen. Wo allerdings Opportunismus die Moral ganz oder teilweise ersetzt, kann es für die Demokratie auch gefährlich werden.
Zum Opportunismus gehört auch die bereitwillige Unterordnung der meisten Menschen unter die jeweils vorherrschende Mehrheitsmeinung. Im Jahr 1835 schrieb Alexis de Tocqueville über seine Eindrücke in Amerika: »Ich kenne kein Land, in dem im Allgemeinen weniger geistige Unabhängigkeit und weniger wahre Freiheit herrscht als in Amerika. … Die Mehrheit umspannt in Amerika das Denken mit einem erschreckenden Ring. Innerhalb dieser Grenzen ist der Schriftsteller frei, aber wehe ihm, wenn er ihn durchbricht. Zwar hat er kein Ketzergericht zu fürchten, aber er ist allen möglichen Verdrießlichkeiten und täglichen Verfolgungen ausgesetzt. … Man verweigert ihm alles, selbst den Ruhm. … seine Tadler reden laut und die Gleichgesinnten, aber nicht Gleichtapferen schweigen und entfernen sich. Er gibt nach, versinkt wieder in Schweigen, als empfände er Gewissensbisse, weil er die Wahrheit gesagt hat.« 31
Ersetzen wir den Begriff der »Mehrheit« durch die »Mehrheit der jeweils dominierenden Meinungsmacher«, dann haben wir eine gute Beschreibung dessen, was wir heute täglich erleben.
Ausgehend von meinen Erfahrungen nach der Veröffentlichung von Deutschland schafft sich ab , habe ich dem Stand der Meinungsfreiheit in Deutschland ein ganzes Buch gewidmet, das 2014 unter dem Titel Der neue Tugendterror erschien. Ich beobachtete die Verweigerung nicht nur von Dialog, sondern auch von der für einen Dialog notwendigen Lektüre. Es durfte eben nicht wahr sein, dass Intelligenz erblich, Kultur prägend und Herkunft wichtig ist. Das widersprach – und widerspricht – dem innersten Kern politisch korrekten Denkens. Dieser besteht darin, dass alle sozialen Ungleichheiten immer nur Ergebnis von Machtverhältnissen und Ungerechtigkeiten sein können, und dass Leistungs- und Mentalitätsunterschiede zwischen Menschen niemals biologisch begründet sein können. Das gehört heute auch im weitesten Sinn zum Kernbestand eines jeden verfestigten woken Denkens. Wokes Denken ist verinnerlichte Selbstzensur, deren Resultate man auch anderen aufzwingen will, und wenn sie sich nicht fügen, werden sie nach Möglichkeit sozial geächtet.
An dieser Stelle muss man zwischen den Inhalten konformistischen Denkens und den sozialen Zwängen zu gesellschaftlicher Konformität unterscheiden. Die Inhalte können sich stark wandeln. Sie waren im Nationalsozialismus anders als in der DDR und in den Fünfzigerjahren anders als heute. Aber der innere Zwang zu gesellschaftlicher Konformität, der uns so bereitwillig auf entsprechende Signale antworten lässt, ist als anthropologische Grundkonstante mehr oder weniger in allen Menschen angelegt, soweit sie sich innerlich auf eine wie immer geartete Peergroup beziehen. Diesem Zwang entkommen die meisten nicht. Sie merken ihn nicht, weil sie sich freiwillig unterwerfen, und in modernen Gesellschaften gibt es ja auch stets die Möglichkeit, einfach die Bezugsgruppe zu wechseln.
Deshalb hat jede Gesellschaft, in der es einen kommunikativen Binnenaustausch gibt, und jede soziale Bezugsgruppe innerhalb der Gesellschaft einen sozialen Mechanismus, der eine Gleichschaltung von Einstellungen und Meinungen belohnt und jene Individuen durch Entzug von Zuneigung und Anerkennung bestraft, die sich zu weit vom jeweils gültigen Meinungs-Mainstream entfernen. Dieser Mechanismus gilt universell, er kann allerdings unterschiedliche Inhalte haben: Das katholische Mädchen auf dem Land, das in den Fünfzigerjahren ein uneheliches Kind bekam, wurde genauso von Ausgrenzung bedroht wie in der Gegenwart eine moderne junge Frau, die in einem links-grünen Umfeld nicht gendert und außerdem bekennt, dass sie gegen Abtreibung ist. Den Menschen können wir nicht ändern und die in uns genetisch angelegte Neigung zur sozialen Konformität auch nicht. Wir können sie nur in uns selbst bekämpfen und unsere Unabhängigkeit vor Urteil der Allgemeinheit individuell trainieren,
Nachdem ich die Mechanik zur sozialen Konformität einmal durchschaut hatte, habe ich weitgehend aufgehört, mich öffentlich zu beklagen, wenn wieder einmal meine Integrität infrage gestellt wurde. Das passiert nach wie vor reichlich. Der Versuch, Analysen und Einschätzungen wie die meinen öffentlich zu beschweigen, wird aber – und das ist die Ironie – gerade durch die anhaltenden Diffamierungsversuche der berufsmäßig Empörten immer wieder unterlaufen. Es hilft nur eines: Mutig zu den eigenen Einschätzungen zu stehen, sie privat und öffentlich jederzeit zu äußern und einen eigenen Beitrag dazu zu leisten, dass sich die Wetterfahne der öffentlichen Meinung in die richtige Richtung dreht. Dann – irgendwann – kann der soziale Opportunismus auch zu den eigenen Gunsten wirken.
Machtversessenheit
Macht ist immer bedroht. Eine Position, nach der nicht auch jemand anders trachtet, ist im Allgemeinen hinsichtlich des Prestiges, des Einkommen oder der Macht wenig wert. Ein erfolgreicher Eigentümer-Unternehmer hat in einem Rechtsstaat nur die Konkurrenz und sein eigenes Missgeschick beziehungsweise Ungeschick zu befürchten. Aber ansonsten gilt, dass in jeder gesellschaftlichen Hierarchie, in der Politik, den Unternehmen, den Medien immer auch um die Macht gerungen wird. Wer seine Position nicht hinreichend absichert und vorausschauend ausbaut, kann sie auch schnell verlieren oder mangels Machtmittel nicht das erreichen, was er sich vorgenommen hat.
Der Vorteil funktionierender demokratischer Regierungsformen besteht darin, dass es verbindliche Regeln gibt, wie man an die Macht kommt, Regeln dazu, was man mit der Macht anfangen darf, und auch dazu, wie die Macht gewaltfrei auf jemand anderen übergeht. Für diejenigen, die die Macht besitzen oder in ihren Besitz gelangen wollen, ist es allerdings immer verlockend, die Regeln zu ihren Gunsten zu ändern, sie entsprechend zu interpretieren beziehungsweise sie zu umgehen oder gar zu brechen. Dieses Ringen um die Macht ist oft ein bisschen schmuddelig und schnell auch gesetzeswidrig. Demokratie kann deshalb gefährdet sein, wenn sie nicht von einem starken Rechtsstaat begleitet wird.
Häufig ist das, was Recht ist, auch Gegenstand politischer Interpretation. In den USA hat es sich als sehr wichtig erwiesen, wie sich bei aller formalen Unabhängigkeit des einzelnen Richters die politischen Mehrheitsverhältnisse im Obersten Gerichtshof gestalten. In der EU gibt es in Bezug auf die Mitgliedsländer Polen und Ungarn kontroverse Debatten darüber, ob die Unabhängigkeit der dortigen Rechtsprechung gesichert ist, und in Israel wurde seit Frühjahr 2023 das gesamte Staatswesen gelähmt durch die Versuche der Regierung, die Kompetenzen des Obersten Gerichtshofs zu beschneiden. In Russland und in der Türkei – zwei Länder, die formal den Anspruch erheben, eine Demokratie zu sein – ist die Justiz über weite Strecken zum Büttel des autoritären Herrschers geworden, sodass politische Gegner nahezu umstandslos hinter Gitter wandern und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt werden, wenn es dem Herrscher so gefällt. Auch der nackte Mord kann hier in einem flexibel angewandten Instrumentarium durchaus eine Rolle spielen.
Eine andere Form von Machtversessenheit, die formal zulässig ist, keine Gesetze bricht, aber doch die Demokratie schwächt, ist eine Prinzipienlosigkeit, die (fast) das ganze politische Geschehen dem Machterhalt unterordnet. Ein Politiker wird dies natürlich nie zugeben, sondern stets Sachgründe oder sein Gewissen vorschieben. So geschah es, als die Bundeskanzlerin Angela Merkel im März 2011 nach der Tsunamiwelle im japanischen Fukushima plötzlich ihre Gegnerschaft zur Kernkraft entdeckte. Der dadurch eingeleitete vorgezogene deutsche Ausstieg aus der Kernenergie belastet jetzt auf Jahrzehnte hinaus den Erfolg der deutschen Klimawende und macht Deutschland zu einem europäischen Schlusslicht bei der Reduktion von CO2 -Emissionen. Der grüne Energieminister Robert Habeck trug diese Politik auch 2023, als im April die letzten drei deutsche Kernkraftwerke vom Netz gingen, weiter mit, weil er um die Glaubwürdigkeit der grünen Politik und die Unterstützung seiner Basis besorgt war. Beides ist ihm offenbar wichtiger als schnelle Erfolge bei der Reduktion von CO2 -Emissionen.
Ideologie
Bestimmte Formen politischer Verbohrtheit gleiten schnell ins Ideologische ab. Dann wird Sachpolitik missbraucht, um bestimmte ideologische Ziele zu erreichen, die nicht nur mit der Sache wenig oder gar nichts zu tun haben, sondern ihr tatsächlich erheblich schaden.
Ein Beispiel dafür sind die Versuche der untergegangenen sozialistischen Volkswirtschaften, gesamtwirtschaftliche Ziele mit einer sozialistischen Kommandowirtschaft zu erzwingen, die Innovation hemmte, Wohlstand behinderte, die Umwelt zerstörte und insgesamt den Rückstand gegenüber den westlichen Marktwirtschaften ins Unermessliche ansteigen ließen. Auch bei der aktuellen grünen Energiewende in Deutschland scheint immer wieder der Versuch zu einer neuen Form von Kommandowirtschaft auf, der sich aber die spröde Wirklichkeit nicht ohne Weiteres fügen will. Gegenwärtig ist es ungewiss, ob der riskante Kurs einer ideologisch getriebenen Klimawende nicht die deutsche industrielle Basis nachhaltig beschädigt, Wirtschaftswachstum und Wohlstand kostet und am Ende doch die Klimaziele verfehlt.
Ideologie sieht man aber auch in der Bildungspolitik, der Familienpolitik oder der Asylpolitik am Werk – dazu mehr bei den einzelnen Politikbereichen.
Korruption
Die Leistungsfähigkeit eines jeden Staatswesens – unabhängig davon, ob es sich um eine Demokratie handelt oder nicht – hängt auch davon ab, dass seine bevollmächtigen Vertreter – Richter, Polizisten, Soldaten, Beamte ebenso wie Verwaltungsangestellte – ihre Aufgaben loyal zur Führung, pflichtbewusst, gesetzestreu und unbestechlich wahrnehmen.
Die Armee des Zaren geriet im Ersten Weltkrieg auch deshalb sehr schnell ins Hintertreffen, weil korrupte Offiziere sich an jenen Mitteln bereichert hatten, die für die Ausrüstung und Versorgung ihrer Soldaten gedacht waren. Und gut 100 Jahre später spielten bei dem überraschenden Misserfolg der russischen Armee zu Beginn des Überfalls auf die Ukraine offenbar auch korruptionsbedingte Ausrüstungs- und Versorgungsmängel eine bedeutende Rolle.
Die Verbreitung oder Abwesenheit von Korruption hat viel zu tun mit jenem Verhaltenskodex, der gerne mit »Sekundärtugenden« umschrieben wird. Bezogen auf das legendäre Pflichtbewusstsein von Bundeskanzler Helmut Schmidt, hatte der junge aufmüpfige Oskar Lafontaine Anfang der Achtzigerjahre im Zusammenhang mit der Debatte um die Nachrüstung geätzt, mit Sekundärtugenden könne man auch ein Konzentrationslager führen. Das war sowohl witzig als auch grob irreführend. Ein abstraktes Pflichtbewusstsein gegenüber einer Aufgabe, dem damit verbundenen Rollenbild und den konkreten Anforderungen, die diese Rolle mit sich bringt, ist für die Leistungsfähigkeit einer jeden Organisation von entscheidender Bedeutung und steht auch allen Amtsträgern in einer Demokratie gut an. Das beginnt bei der Amtsausübung in einem Finanzamt oder Einwohnermeldeamt und reicht über den Polizisten auf der Straße bis hin zum Amtsverständnis der höchsten staatlichen Würdenträger.
Darum ist es richtig, gegen korrupte Beamte auf einer Baubehörde oder bestechliche Zollbeamte, die bei einer Rauschgiftlieferung wegschauen, strikt vorzugehen. Es gibt daneben aber auch eine moralische Korruption politischer Amtsträger, die von Opportunismus und Machtversessenheit nicht immer klar zu trennen ist und auch nicht unbedingt mit dem Gesetz in Konflikt kommt.
Diese Art von Korruption ist mit dem politischen Machtgewinn und Machterhalt auch in einer Demokratie eng verbunden – und zwar nicht nur in Wahlkampfzeiten. Die Aussicht auf Machtgewinn, Machterhalt und Machtausbau spricht nicht immer die besten menschlichen Instinkte an – selbst nicht bei demokratischen Politikern. Damit muss jede Demokratie leben, und das macht die wirksame Kontrolle der Macht selbst in funktionierenden Demokratien unabdingbar.
Zu den Risiken korruptionsähnlicher Verhältnisse zählt generell der Einfluss privaten Geldes auf die Politik. Deshalb müssen in Deutschland Parteispenden ab einer gewissen Größenordnung offengelegt werden, und darum können Parteien in Deutschland in Abhängigkeit von ihrem Wahlerfolg auch öffentliche Gelder beanspruchen. In den USA ist es praktisch unmöglich, ohne ein großes eigenes Vermögen oder reiche Spender einen Wahlkampf um ein Gouverneursamt, einen Senatorenposten oder gar um die Präsidentschaft zu führen. In diesem Sinn herrschen in den USA zumindest teilweise, was den Einfluss des Geldes auf die Politik angeht, oligarchische Verhältnisse.
In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion entstand seit Anfang der Neunzigerjahre bei der Privatisierung eine kleine Klasse von legendär reichen Männern, die großen Einfluss auf die Politik nahmen und für die der Sammelbegriff »Oligarchen« üblich wurde. In Russland und Weißrussland wurde diese neue Oligarchenklasse unter den sich herausbildenden Diktaturen von Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko weitgehend politisch entmachtet. In der Ukraine, Georgien und Moldawien versucht man, deren Einfluss gesetzlich einzuschränken. Dies ist ein Balanceakt, weil man es ja Menschen ab einer bestimmten Reichtumsschwelle nicht generell verbieten kann, mithilfe ihres Geldes auf die Politik Einfluss zu nehmen. 32
Mit den vier Risikofaktoren Opportunismus, Machtversessenheit, Ideologie und Korruption sind die inneren Gefährdungen für eine funktionierende Demokratie natürlich nicht abschließend beschrieben. Diese und weitere Risikofaktoren wirken unterschiedlich, aber fortwährend in jeder real existierenden Demokratie. Der Grad ihrer Gefahr für die Funktionsweise des Systems hängt von der Verankerung des demokratischen Bewusstseins in den breiten Schichten der Bevölkerung, von der Qualität des Rechtsrahmens und der Stabilität der Institutionen ab.
Schutz vor privater und staatlicher Gewalt im Inneren des Staatswesens und Verteidigungsbereitschaft gegen äußere Feinde sind für die Sicherheit und Lebensqualität der meisten Bürger weitaus wichtiger als die konkrete Staats- und Regierungsform. Dieser Schutz wird idealerweise durch eine wirksame Demokratie geleistet. Aber auch die Ruhe und Ordnung einer effektiven Diktatur ist für viele Bürger dann vorzugswürdig, wenn die Alternativen in Bürgerkrieg, Bandenherrschaft und dem gewaltsamen Eindringen fremder Mächte bestünden.
Im Inneren erfordert dies, dass der Staat das Gewaltmonopol hat und dieses im Rahmen von Recht und Gesetz auch wirksam durchsetzt. Im Äußeren bedeutet dies den Einsatz für eine wirksame internationale Friedensordnung, aber auch die Vorhaltung eines ausreichend starken Militärs, das der Abschreckung und notfalls auch der Verteidigung dient. Bündnisbeziehungen und der Einsatz diplomatischer Mittel treten hinzu.
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 hatte es in Europa für eine Reihe von Jahren so ausgesehen, als spielten Fragen militärischer Sicherheit keine Rolle mehr. Das war immer schon eine riskante und irrtümliche Einschätzung. Spätestens seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat dazu in der gesamten westlichen Welt ein breites Umdenken eingesetzt. Die Rolle der NATO wurde reaktiviert. Deutschland bemüht sich, die Bundeswehr wieder in einen Zustand zu versetzen, der sie bei einem Landkrieg in Europa verteidigungsfähig macht. Nach einigem Zögern wurden die Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine so gesteigert, dass diese die Chance auf eine erfolgreiche Selbstverteidigung hat. So steigen die moralischen, finanziellen und militärischen Kosten für Russland. Das kann in einen für Jahrzehnte eingefrorenen Konflikt wie zwischen Nord- und Südkorea münden, es kann aber auch mit dem Sturz des gegenwärtigen Machthabers in Russland enden. Leider ist auch eine militärische Niederlage der Ukraine gegenwärtig (Frühling 2024) nicht ausgeschlossen.
In jedem Fall ist deutlich geworden, dass ein naiver Pazifismus, wie er die deutsche Politik seit den Neunzigerjahren weitgehend parteiübergreifend erfasst hatte, unhistorisch ist und sehr gefährlich werden kann. Der Angriff Russlands auf die Ukraine bedeutete eine tatsächliche Zeitenwende. Wie weit sie sich auch mental durchsetzt und dauerhaft wirkt, bleibt abzuwarten. Wiederholt hat Bundeskanzler Scholz seit Frühling 2022 gezögert, die Ukraine mit bestimmten schweren Waffen wie Kampfpanzern oder Kampfflugzeugen auszustatten, und im März 2024 die Lieferung des Marschflugkörpers Taurus endgültig verweigert. Unterstützt wurde er dabei von großen Teilen der SPD, der AfD, der Linken und des neu gegründeten Bündnisses Sahra Wagenknecht. Exemplarisch war im März 2024 die illusionäre und opportunistische Forderung des Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, den Krieg in der Ukraine »einzufrieren«. Für die deutsche Innen- und Außenpolitikpolitik zeichnet sich das Risiko einer neuen illusionsgeprägten »Friedensfront« ab, der sich international auch Papst Franziskus mit seiner Kapitulationsaufforderung an die Ukraine zugesellt hat.
Insbesondere die SPD scheint nach wie vor anfällig für den pazifistischen Grundirrtum, dass der eigene Friedenswille und eine Bereitschaft, auch dem zur Gewalt Willigen um nahezu jeden Preis entgegenzukommen, den Frieden sichern können. Im Vorfeld der 2024 und 2025 anstehenden Wahlen ist sie offenbar vor der Versuchung nicht gefeit, nach Wählern zu fischen, indem sie die Angst vor einem großen Krieg schürt, und die Ukraine bei Waffenlieferungen kurzhält.
Eine stabile Friedenssicherung funktioniert aber im heutigen Europa – leider ist das so – nicht anders als im Kalten Krieg: Abwehrkraft und Abwehrwille der NATO müssen so stark und glaubwürdig sein, dass auch ein aggressives Russland, das sich nach dem Imperium des Zarenreichs zurücksehnt, in Europa keine reale Expansionschance hat.
Bis hierhin habe ich das normative Gerüst einer aus meiner Sicht gelungenen Gesellschaft knapp abgehandelt: Herrschaft des Gesetzes, Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Demokratie, Friedenssicherung.
Als nächsten Punkt führe ich eine Norm an, die ein Stück weit utopisch ist: Selbstbeschränkung ist ein Ideal, das vom persönlichen Charakter kaum zu trennen ist und als Anforderung an ihn immer wieder an die Grenzen intrinsischer Moral stößt. Deshalb unterstützen funktionierende gesellschaftliche Systeme die subjektive Selbstbeschränkung durch institutionelle Faktoren: Amtszeitbegrenzungen, Zuständigkeits- und Mitwirkungsregeln, Compliance-Maßstäbe, Berichtspflichten, Kontrollvorgaben.
Überall dort, wo es persönliche Macht über Menschen oder Sachen gibt, lädt diese auch zum Missbrauch ein – und dies umso mehr, je übermächtiger eine Autorität ist und je weniger sie kontrolliert wird. Das wurde deutlich beim Missbrauchsthema in der katholischen und evangelischen Kirche, aber auch bei der sogenannten MeToo-Debatte. Gerne wünscht man sich die Ritterlichkeit traditioneller amerikanischer Kinohelden wie James Stewart oder John Wayne als allgemeinen Maßstab für menschliches Verhalten in Positionen der Macht. Aber so ist die Welt nicht, und so war sie nie. Wo die Gelegenheit Diebe macht, geht es wohl eher so zu, wie es Benjamin von Stuckrad-Barre 2023 in seinem Schlüsselroman über einen fiktiven Medienkonzern beschrieb. 33
Der Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard hatte sich seit der Währungsreform große Meriten erworben und galt als Vater des westdeutschen Wirtschaftswunders. Als Bundeskanzler agierte er von 1963 bis 1966 glücklos. Aber er hatte sichere Instinkte. Seine Maßhalteappelle angesichts einer sich überhitzenden Volkswirtschaft wurden 1965 bundesweit verlacht und waren doch in der Sache berechtigt. Wenig später bewirkte dann die erste westdeutsche Nachkriegsrezession jene Disziplinierung bei Staatsausgaben, Löhnen und Preisen, die seine Appelle nicht erreicht hatten.
Die Einhaltung des rechten Maßes ist das Salz in der Suppe einer jeden funktionierenden Gesellschaft sowie eines jeden funktionierenden Staatswesens.
Bestand und Entwicklung einer demokratischen freiheitlichen Gesellschaft sind zu jeder Zeit bedroht und keineswegs selbstverständlich. Das zeigt sich in den wachsenden gesellschaftlichen Gegensätzen, die sich in vielen Gesellschaften mit eigentlich gefestigter Demokratie gegenwärtig entwickeln. Insbesondere die ungelösten Fragen rund um Migration und Asyl haben dazu geführt, dass westliche Gesellschaften derzeit eher nach rechts rücken und das Gewicht rechter Parteien bei den Wahlergebnissen zunimmt. Hier prallen kosmopolitische und nationalstaatlich geprägte kommunitaristische Einstellungen aufeinander. Als die AfD im Juni 2023 in Deutschland erstmals in Meinungsumfragen mit der SPD gleichzog, kommentierte Jasper von Altenbockum ahnungsvoll in der FAZ : »Geht es so weiter, ist der Klimawandel bei Weitem nicht die größte Herausforderung, die den Deutschen bevorsteht.« 34
Umgekehrt zeigt sich, dass autoritär oder gar diktatorisch geführte Gesellschaften – sei es als postkommunistische Diktatur wie in China, als religiöse Diktatur wie im Iran, oder als neofaschistische Diktatur wie in Russland – keineswegs unbedingt scheitern müssen. Wenn und soweit sie wirtschaftliche Probleme bewältigen und soziale Spannungen unter Kontrolle halten, können sie grundsätzlich zeitlich unbegrenzt weiterexistieren.
Zwischenresümee
In Kapitel 1 habe ich deutlich gemacht, dass die Zukunft jederzeit grundsätzlich offen ist. Die Ereignisse und Entwicklungen der Vergangenheit beschneiden den Möglichkeitsraum künftiger Entwicklungen, aber dieser enthält gleichwohl stets eine nahezu unbegrenzte Zahl künftiger Entwicklungen. Ein in die Zukunft gerichteter Determinismus für einen bestimmten Entwicklungspfad geht deshalb grundsätzlich fehl. Das ist auch mein geschichtsphilosophischer Ausgangspunkt.
In Kapitel 2 habe ich den normativen Rahmen umrissen, in dem ich mich selber sehe, wenn ich gesellschaftliche Entwicklungen in Vergangenheit und Zukunft betrachte.
Auch dort, wo ich für die Zukunft alternative Entwicklungspfade skizziere, fließen immer wieder Wertungen ein. Ich werde deutlich machen, wenn ich bestimmte Entwicklungspfade für vorzugswürdig halte und warum ich das so sehe. Die Zukunft findet allerdings auch dann statt, wenn die Entwicklung zu ihr an bestimmten Weggablungen eine aus meiner Sicht unerwünschte Richtung nimmt.
Die sozialen, politischen und ökonomischen Zustände in den Staaten und Gesellschaften auf dieser Erde bewegen sich in einem breiten Spektrum, das von Singapur – einem sehr wohlhabenden Stadtstaat mit einer gebildeten Leistungsgesellschaft – bis zu Haiti – einem »Failed State« auf einer karibischen Insel mit einem kata strophalen Bildungssystem – reicht. Wer auf Haiti jung und gesund ist, keinen Hunger leidet und jemanden hat, den er liebt, kann trotz der eigentlich unerträglichen Zustände auch dort glücklich sein. Umgekehrt kann man in einer Hochhauswohnung in Singapur einsam, krank und unglücklich sein. Der Zustand einer Gesellschaft ist eben nicht alles. Überall in der Welt ist auf der individuellen Ebene Glück und Unglück, Erfolg und Misslingen möglich – wenn auch mit unterschiedlichen statistischen Wahrscheinlichkeiten.
Im Folgenden stelle ich das jeweils besprochene Thema in einen Gesamtzusammenhang und zeige die Konsequenzen alternativer Entwicklungspfade auf. Ich beginne mit der Demografie.