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Mit kritischem Blick beäugte ich die Bikerin, die sich, nur mit ihren Motorradstiefeln bekleidet, auf dem Sitz einer schweren Harley-Davidson rekelte und mir auffordernd zuzublinzeln schien.
»Kess«, schmunzelte ich amüsiert und legte den roten Skizzenstift zur Seite.
Mir gefiel der Entwurf sehr gut, den ich im Trash-Polka-Style für ein Bikertattoo gezeichnet hatte. Den roten Hintergrund hatte ich wie einen ausgefransten Pinselstrich aufs Papier geworfen, der die Bikerin mit ihrer schweren Maschine effektvoll in Szene setzte. Ich mochte diese Stilrichtung, den Mix aus Skizze und geometrischen Elementen, der mit dem Kontrast von roten Farbelementen und klassischen Black-&-Grey-Motiven spielte.
»Fertig!«, verkündete ich zufrieden und zog eine letzte schwungvolle Linie mit dem Grafitstift über das Zeichenpapier meines Skizzenbuchs.
»Das sieht aber gefährlich aus«, ließ sich Anna vernehmen.
»Gefährlich, wieso? Das ist ein klassisches Motiv«, protestierte ich, denn es war mir egal, ob das Motiv einer mehr oder weniger bekleideten Frau, die sich auf oder unter einem
Motorrad rekelte, zu sexistisch sein könnte. Leben und leben lassen, lautete meine Devise.
Seit es Tattoos gab, gab es auch erotische Motive. Mich hatten die schummrigen Hafenkneipen schon immer fasziniert, in denen die Matrosen nach langen Monaten auf See ihre Heuer für Frauen und Rum auf den Kopf hauten und sich oftmals volltrunken im Hinterzimmer deftige Seemannsmotive unter die Haut stechen ließen, über die sie sich am nächsten Morgen wunderten. Als pubertierender Jugendlicher hatte ich mir immer ein Hula tanzendes Hawaiimädchen tätowieren lassen wollen. Glücklicherweise wurde mir das Taschengeld bis zum Ende meiner Pubertät gestrichen, sonst sähe meine Brust wie die eines tätowierten Kleinganoven der ersten Tattoogeneration aus.
»Vielleicht ist der Hintergrund eine Nuance zu rot? Oder denkst du, das ist zu viel nackte Haut?« Nachdenklich klopfte ich mit dem Bleistift gegen meine Oberlippe.
»Das sieht gar nicht gut aus …«, kommentierte Anna meine Überlegungen.
»Ich finde, du übertreibst«, widersprach ich vehement und hielt den Skizzenblock gegen das Sonnenlicht, welches die Dachterrasse des Café Baumann’s flutete, wo wir uns gerade ein morgendliches Glas Sekt gönnten, obwohl es erst kurz nach neun Uhr und damit beste Frühstückszeit war. Aber da wir heute Morgen bereits mit den ersten Sonnenstrahlen aufgestanden waren und den Sonnenaufgang bei einem wundervollen Spaziergang am menschenleeren Strand genossen hatten, passte ein Glas Sekt wunderbar zum Frühstück. Außerdem hat Sekt zum Frühstück etwas herrlich Dekadentes und Urlaub ist schließlich Urlaub!
Ich wunderte mich zwar über Annas Einwand, denn eigentlich war sie so gar nicht prüde und hatte selber nichts dagegen,
bei passender Gelegenheit nackte Haut zu zeigen. Aber vielleicht hatte sie ja recht.
»Na ja, gut«, räumte ich ein. »Ich gebe zu, die Zeichnung ist möglicherweise etwas … sagen wir mal … freizügig. Vielleicht könnte ich die Oberweite wirklich etwas mehr bedecken.«
Probeweise zog ich mit dem Bleistift ein paar züchtige Striche auf das Papier meines Skizzenbuchs, das zwischen unseren halb vollen Sektgläsern auf dem Tisch vor uns lag. Und da ich schon mal dabei war, spendierte ich der Fünfzigerjahre-Zapfsäule, vor der das schwere Motorrad aufgebockt stand, noch eine herzförmige Neonreklame mit der Aufschrift »Highway Nr. 1«, der legendären California State Route.
»Andererseits wird das ein Tattoo für einen Biker und kein Lesezeichen für einen Klosterschüler.« Ich grinste. »Siggi freut sich schon wie verrückt auf seinen Pensionärstrip in die USA. Also, ich denke, ich lass es so. Es ist genau richtig.«
Demonstrativ klopfte ich mit dem Bleistift auf mein abgewetztes Moleskine-Notizbuch mit dem grünen Einband und hob den Kopf. Ich war mir sicher, dass der Tattooentwurf meinem alten Freund und Kollegen aus meiner aktiven Zeit als Anwalt gefallen würde.
Schon vor Jahren hatte mir der Gerichtspräsident nach einem spektakulären Strafprozess, den wir beide bestritten hatten, in der Gerichtskantine von seinem Traum erzählt, den er sich mit dem Ende seines juristischen Berufslebens erfüllen würde: die Amtsrobe gegen seine abgewetzte Motorradjacke zu tauschen, um auf einen dreimonatigen Trip mit seiner Harley-Davidson »Road King« zu gehen – cruisen auf dem Highway 1, von San Francisco bis Los Angeles, auf einer der schönsten Küstenstraßen der Welt.
Den ganz persönlichen Schlusspunkt seiner Juristenlaufbahn wollte Siggi für sich mit einem Tattoo setzen, das seinen Männertraum symbolisierte.
»Meine Harley, der Highway und etwas fürs Herz«, hatte er geschwärmt. »Ich wollte nie ein Tattoo, aber wenn ich die Robe gegen meine Kutte tausche, muss das sein.«
Da Siggi von meiner damals schon vorhandenen Passion fürs Zeichnen wusste, musste ich ihm versprechen, ihm genau ein solches Tattoo zu entwerfen. Ein Wunsch, den ich dem alten Freund nur allzu gern erfüllte. Und dass ihm die Bikerin gefallen würde, dessen war ich mir sicher.
Ich suchte den Blick Annas, die allerdings überhaupt nicht gehört zu haben schien, was ich gesagt hatte. Sie sah über meine rechte Schulter hinweg in den ostfriesenblauen Himmel, der sich wie auf einer der Kitschpostkarten über uns spannte.
»Du guckst ja gar nicht hin«, stellte ich entrüstet fest, als ich bemerkte, dass Anna mit zusammengekniffenen Augen wie gebannt an meinem rechten Ohr vorbeistarrte. »Erde an Anna!«, sagte ich amüsiert.
»Ich glaube …« Annas Stimme klang konzentriert und tonlos zugleich, als sie ihre Augen noch fester zusammenkniff, um besser sehen zu können – und um sie einen Sekundenbruchteil später voller Panik aufzureißen. »Nee, das kann doch nicht …«
»Was ist denn plötzlich los?« Beunruhigt wandte ich mich um und riss ebenfalls ungläubig die Augen auf, als ich das auf uns zurasende Flugzeug sah.
Die kleine Propellermaschine, die auf uns zuschoss, hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit einer wild gewordenen Hornisse, wozu nicht nur die signalgelbe Lackierung der Maschine beitrug, sondern auch der laut röhrende Motor, der im hohen Drehzahlbereich zu laufen schien. Zuerst hatte ich das Motorengeräusch überhaupt nicht gehört – jetzt dröhnte es derart in meinen Ohren, dass ich mein eigenes Wort nicht verstand, als ich »Runter!« brüllte und mit beiden Händen Anna an den Schultern packte, um sie zu Boden zu ziehen.
Ich verspürte weder Angst noch Panik – dafür dauerte es zu lange, bis mein Verstand kapierte, was hier gerade geschah. Ich handelte rein instinktiv.
Im selben Moment, als die hornissengelbe Propellermaschine scheinbar nur eine Armlänge hoch über unseren Köpfen hinwegdonnerte, umschlang ich mit beiden Armen Annas Hüften und riss sie mit mir. Schwer schlugen wir auf dem Betonboden der Dachterrasse auf; ich presste Anna an mich, um sie vor dem herumfliegenden Mobiliar zu schützen.
Das ohrenbetäubende Motorengeräusch des Flugzeugs dröhnte so laut in meinen Ohren, dass ich Annas Aufschrei mehr spürte als hörte, während ich sie in Deckung zog.
»Uuh!«, stöhnte ich gequält auf, als sich das metallene Bein des Tisches, an dem wir noch vor einer Sekunde entspannt gesessen hatten, schmerzhaft zwischen meine Rippen quetschte.
Bevor ich mich von dem Tischgestell befreien konnte, schlugen meine Zähne mit einem hässlich knirschenden Geräusch aufeinander, als Anna mir ihre Schulter unters Kinn rammte.
Das Tischbein vergaß ich schlagartig.
Vor meinen Augen flammten leuchtende Blitze auf, die von einem Reigen wild tanzender schwarzer Punkte abgelöst wurden.
»Nicht so fest!«, keuchte Anna atemlos und strampelte heftig mit den Beinen. »Ich bekomme keine Luft mehr. Du erdrückst mich ja!«
»Sorry«, schnaufte ich benommen und löste meine Umarmung.
»Hast du dir was getan?«, stieß sie schwer atmend hervor, als sie sich frei gezappelt hatte.
Prüfend griff ich nach meinem Kinn und überzeugte mich, dass mein Unterkiefer sich noch am gewohnten Platz befand.
»Denke, nicht«, antwortete ich. »Abgesehen davon, dass ich von dem Motor fast taub bin, du mich um ein Haar k. o.
geschlagen hättest und ich mit den Rippen gegen dieses blöde Tischbein geknallt bin, geht’s mir blendend.«
»Um deine Blessuren kümmere ich mich später gern.« Anna gab mir einen Kuss und reckte neugierig den Hals, um über meine Schulter zu spähen. »Was war das denn gerade für ein Tiefflieger?«
Diese Frage schienen sich auch die anderen Gäste zu stellen. Das einsetzende Stimmengewirr wurde vom Stöhnen und Fluchen der Cafébesucher begleitet, in das sich das Klirren zerbrochenen Geschirrs und kaputter Gläser mischte.
»Der hat sie ja wohl nicht alle!«, rief ein Mann mit einer leicht blutenden Schnittverletzung im Gesicht, die wahrscheinlich von einer Glasscherbe stammte.
Schwankend kam ich auf die Beine und hielt mir den Kopf.
»So früh am Morgen schon besoffen?«, schimpfte eine weißhaarige Dame, die sich mit beiden Händen am Geländer der Terrasse hochzog.
Da sich mein Kinn nach Annas Bodycheck noch immer taub wie nach einem Zahnarztbesuch anfühlte, warf ich ihr nur einen stummen Blick zu, anstatt ihr zu antworten.
Offenbar verstand die rüstige Seniorin, die schneller wieder auf ihren Beinen stand als ich, meinen Blick falsch, denn sie schüttelte resolut den Kopf: »Nicht Sie. Der Pilot!«
»Dann bin ich ja beruhigt«, nuschelte ich und schob mit dem Fuß die Teile eines zu Bruch gegangenen Porzellantellers zur Seite.
»Guck dir das mal an!«, rief Anna, die sich über die gläserne Brüstung der Dachterrasse lehnte. »Das sieht ja aus wie nach einem Fliegerangriff.«
»So ist der Idiot ja auch geflogen«, stellte die resolute Lady fest und reckte ebenfalls den Hals, um auf die unter uns liegende Bahnhofstraße zu schauen.
»Das sieht ja wirklich wild aus«, stellte ich fest, als ich mich neben Anna schob und ebenfalls nach unten sah.
Ein Pferdefuhrwerk hatte seine gesamte Ladung Lebensmittel verloren. Der Inhalt diverser Obst- und Gemüsekartons lag kreuz und quer über die Fahrbahn verstreut, was wiederum die Pferde eines entgegenkommenden Getränkefuhrwerks zu einer schnelleren Gangart veranlasste, als dem Kutscher lieb war. Die beiden Braunen hatten offenbar schon von Weitem die aufgeplatzten Gemüsekartons erspäht.
»Ho! Bleibt stehen!«, forderte der Kutscher mit lauter Stimme die beiden Holsteiner auf, was die zwei Kutschpferde aber nicht im Geringsten beeindruckte.
Im Gegenteil. Als das Gefährt vor lauter Schaukelei die erste Bierkiste verlor, die scheppernd auf die Fahrbahn krachte, schien das Klirren der zerbrechenden Flaschen die Pferde noch zusätzlich anzuspornen. Der Kutscher hatte Mühe, auf seinem Kutschbock nicht den Halt zu verlieren. Das Doppelgespann hielt erst an, als die beiden Holsteiner die saftigen Salatköpfe erreicht hatten, die im Rinnstein lagen. Fluchend kletterte der Kutscher von seinem Sitz und stemmte die Hände in die Hüften, um das Chaos ungläubig zu betrachten.
Glücklicherweise hatte das Kurorchester noch nicht mit dem Morgenkonzert begonnen. Es wäre sonst mit Sicherheit ein größerer Tumult entstanden, da die Sitzplätze bei den Kurkonzerten meist vollständig belegt waren. Nicht auszudenken, was hätte passieren können, wenn das Flugzeug während des Kurkonzerts über uns hinweggedonnert wäre und die Menschen in Panik geraten wären. Im Vergleich dazu war das jetzige Durcheinander ein Klacks.
Gerade als ich meinen Arm um Annas Hüfte legte, schrien mehrere der Gäste angsterfüllt auf.
Erschrocken zuckten wir zusammen.
»Da kommt das Ding schon wieder!«, rief ein Mann aufgeregt.
Unsere Köpfe ruckten in die Richtung des schräg gegenüberliegenden Hotels Atlantic Juist, wohin der Mann mit ausgestrecktem Arm wies.
Über dem Dach des Viersternehotels tauchte erneut die hornissengelbe Propellermaschine mit dröhnendem Motor auf und näherte sich mit beängstigender Geschwindigkeit.
»Die kommt direkt auf uns zu!«, rief eine andere Männerstimme ungläubig.
Der Mann hatte recht.
Offenbar hatte die Maschine irgendwo hinter der Deichkante gewendet und raste nun ein weiteres Mal quer über die Insel auf uns zu!
Bestimmt hatte der Pilot nicht das Café Baumann’s ins Visier genommen, aber da es sich bei Juist nur um eine kleine Insel mit gerade mal siebzehn Kilometern Länge und an der schmalsten Stelle ein paar Hundert Metern Breite handelte, hat ein Flugzeug Töwerland – wie die Insel gern genannt wird – in kürzester Zeit überflogen.
»Was macht denn dieser Idiot?«, rief die weißhaarige ältere Dame mit der Stimme einer Pausenaufsicht und stieß mir aufgeregt ihren knochigen Ellbogen zwischen die Rippen, exakt auf die Stelle, wo ich schmerzhafte Bekanntschaft mit dem Tischbein gemacht hatte. »Weiß der nicht, wo die Bremse ist?«
Das laute Dröhnen des auf uns zurasenden Flugzeugs ließ mich meine Rippen vergessen, denn auch mir stellte sich die Frage, was das hier überhaupt sollte. Dieses neue Flugmanöver konnte jeden Moment in einer Katastrophe enden.
Oder wollte der Pilot genau das – eine Katastrophe heraufbeschwören?
Während das Flugzeug seitlich versetzt dem Verlauf der Wilhelmstraße folgte und wiederum genau auf uns zuschoss,
machte es zwei kleine Hüpfer in der Luft, sicherlich ebenso wenig aus Freude, wie sich die Maschine plötzlich auf die rechte Seite legte und die Drehzahl ihres Motors lautstark erhöhte. Die Windschutzscheibe des hochtourig laufenden Flugzeugs reflektierte das Sonnenlicht, es blitzte kurz auf und stach mir in die Augen.
Es war deutlich zu erkennen, dass der Pilot erhebliche Probleme hatte, die einmotorige Maschine in der Luft zu halten.
»Runter! Runter!«, brüllte ich mit dröhnender Stimme, denn nur um Hilfe zu rufen hätte nichts gebracht.
Alle Cafégäste, die sich gerade mühsam aufgerappelt hatten, warfen sich wieder mehr oder weniger elegant flach auf den Boden. Egal wie. Hauptsache, Kopf runter! Erneut waren das Scheppern und Klirren zerbrechender Tassen, Teller und Gläser zu hören, ebenso wie die angsterfüllten Schreie der Gäste, die wie wir zu Füßen der Stühle und Tische Schutz vor dem hornissengelben Kamikazeflieger suchten.
Bevor Anna reagieren konnte, hatte ich sie wie vorher mit mir gerissen. Sie gab einen erstickten Aufschrei von sich, als sie zu Boden stürzte und ich sie wieder schützend fest an mich zog.
Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, dass die weißhaarige Seniorin, die gerade noch lautstark den Piloten beschimpft hatte, mich aus dem Stand unschlüssig betrachtete.
»Sie auch!«, blaffte ich im Befehlston, um den mich jeder Feldwebel beneidet hätte und der keinen Widerspruch duldete.
Eine höfliche Konversation sieht ganz gewiss anders aus, aber besser ein harsches Wort, als gänzlich unerwartet kopflos oder mit eingeschlagenem Schädel auf der Terrasse des Café Baumann’s zu enden.
Ich erhob mich halb vom Boden und streckte der alten Lady die Hand entgegen, die sie automatisch ergriff. Kaum hatte ich meine Finger um ihre Hand geschlossen, wehte der Luftdruck des über uns hinwegbrausenden Flugzeugs die Frau
von den Füßen. Glücklicherweise hielt ich ihre Hand wie ein Schraubstock umklammert, sonst wäre die alte Dame mit Sicherheit wie ein Blatt Herbstlaub von einem vorbeifahrenden Auto von der Dachterrasse geblasen worden. So fiel sie nur auf mich und ich war ja gut gepolstert.
Als der Kamikazeflieger über uns hinweggedonnert war, hob ich den Kopf, um zu sehen, wohin er flog. Wer einmal zurückkehrt, tut es vielleicht auch ein zweites Mal.
Das Heck des gelben Metallvogels wackelte beim offensichtlichen Versuch des Piloten, an Höhe zu gewinnen. Einen Moment dachte ich, die Maschine würde in den Leuchtturm Memmertfeuer krachen, der Schiffen den Weg in den Juister Hafen weist, aber kurz vor dem Turm kippte die Maschine über die linke Tragfläche ab und verschwand aus meinem Blickfeld.
Es war totenstill.
Zumindest so lange, bis die auf dem Boden liegenden Gäste begriffen, dass für den Moment keine akute Gefahr mehr bestand.
Dennoch dauerte es noch ein paar Sekunden, bis Leben in uns kam.
Mit einem deftigen, undamenhaften Fluch rollte sich Anna halb unter mir hervor und versuchte sich hochzustemmen.
»Bleib unten!«, befahl ich knapp, wobei es mir in diesem Moment vollkommen egal war, ob sich eine Frauenbeauftragte in Hörweite aufhielt oder nicht. Und falls doch, lag sie wahrscheinlich ebenso wie alle anderen Gäste des Cafés inmitten unappetitlich zermatschter Kuchen und Rühreiresten flach auf dem Boden. »Der kann jeden Moment wiederkommen.«
»Na, ich hoffe nicht«, schnaufte sie, ließ sich aber vorsichtshalber doch wieder zurücksinken.
Neben mir zersplitterte eine Teekanne mit Dresmer-Dekor in tausend blau-weiße Scherben; ein panisch um sich blickender junger Mann hatte bei dem Versuch, die Dachterrasse auf
dem schnellsten Wege zu verlassen, das vermutlich letzte noch auf einem Tisch stehende Stövchen mit Ostfriesentee heruntergestoßen. Ohne nach links und rechts zu schauen, geschweige denn Anstalten zu machen, irgendeinem der noch am Boden liegenden Menschen zu helfen, stürmte er durch die Terrassentür davon.
Noch während sich meine Nebennierenrinde in höchster Alarmbereitschaft befand und meine Blutbahn mit Adrenalin flutete, rammte die weißhaarige Dame ihren spitzen Ellbogen in meine Rippen, um sich ebenfalls aufzurichten, was ich mit einem derben Schmerzensfluch quittierte.
Anstatt sich zu entschuldigen, sah mich die Lady missbilligend an, als ich mit verzerrtem Gesicht einen weiteren unschönen Kommentar zwischen den Zähnen zerdrückte.
»Junger Mann«, schalt mich die weißhaarige Dame, »Sie sollten sich das Fluchen abgewöhnen.«
»Und Sie sollten Ihre Ellbogen etwas vorsichtiger einsetzen«, empfahl ich und warf ihr einen bösen Blick zu.
Ich holte zweimal kurz Luft und verlagerte mein Gewicht auf meine Unterarme, um mich abzustützen. Dann wälzte ich mich von Anna herunter, die wild mit den Augen rollte.
»O mein Gott! Endlich!«, keuchte sie. »Hast du zugenommen?«
»Komm«, sagte ich und ergriff ihre Hand. »Ich helfe dir hoch.«
Mühsam kamen wir auf die Beine.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich besorgt.
»Ich fühl mich platt wie eine Flunder«, stöhnte sie und strich sich übers Kleid.
»Nö«, entgegnete ich und gab ihr einen Kuss. »Ich kann dir versichern, an dir ist noch alles dran.«
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass im Moment keine weitere Gefahr von dem Flugzeug drohte, wandte ich mich den übrigen Gästen der Dachterrasse zu.
Eine Urlauberin lag lang gestreckt zwischen zwei Tischen, den Kopf im Schoß ihrer Begleiterin. Mit ein paar Schritten überquerte ich die Terrasse und beugte mich zu den beiden hinunter.
»Danke«, wehrte die blonde junge Frau mein Hilfsangebot ab, während sie der am Boden Liegenden fürsorglich über die Stirn strich. »Lieb von Ihnen. Aber meiner Mutter geht’s gut. Es ist nur der Kreislauf. Die Aufregung.«
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte ich und sah mich nach einem Gefäß mit etwas Trinkbarem um, das nicht zerdeppert am Boden lag.
»Wir gehen gleich runter«, entgegnete die jüngere Frau. »Meine Mutter muss nur einen Moment zu Atem kommen, dann trinken wir unten im Café etwas.«
Wir wechselten noch ein paar Worte, und da ich beruhigt war, dass die junge Frau ohne Hilfe klarkam, wandte ich mich einem korpulenten Mann meines Alters zu, der am Boden hockte und sich mit wehleidiger Miene gegen den gläsernen Windschutz der Balustrade lehnte.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich hab Ischias«, grunzte der Mann in unverkennbarem Ruhrpottdialekt und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
»Dat kennen wir schon«, nickte seine ebenfalls mehr als rundliche Begleiterin gelassen. »Dat is genau wie bei dem da aus dem Fernsehen … dem Dingsda … dem Komiker.«
»Davon gibt’s im Fernsehen viele«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen.
»Ich bin vom Stuhl gefallen, als dieser Vollidiot …«, stöhnte der Mann. »Dem Knallkopp sollte man …«
»Reg dich nich uf!«, mahnte seine Begleiterin. »Jetzt jibbet deine Schmerztablette und dann is jut.«
»Ich reg mich nich uf!«, fuhr der Korpulente auf. »Aber wer so fliegt wie dieser Bruchpilot, dem sollten se den Lappen abnehmen.«
»Gute Besserung«, wünschte ich trocken und wandte mich von dem Paar ab.
Die beiden kamen alleine klar.
Schnell warf ich einen Blick in die Runde. Alle übrigen Gäste standen wieder auf den Beinen und schienen, abgesehen von dem Schrecken und diversen kleineren Blessuren, die Havarie des Tieffliegers überstanden zu haben.
Ich wandte mich zu Anna um, die mit der weißhaarigen älteren Dame redete.
Anna lächelte amüsiert, als die Seniorin sich auf Zehenspitzen stellte und ihr leise etwas zuraunte. Beide Frauen kicherten leise und grinsten sich verschwörerisch an. Die resolute alte Dame sah mich über Annas Schulter hinweg an und blinzelte mir ebenso kess zu wie die Bikerin auf meinem Zeichenblock.
Die Skizze!
, schoss es mir durch den Kopf.
Hoffentlich war die ganze Arbeit nicht umsonst!
Während meine Augen das Durcheinander am Boden absuchten, trat ich auf die beiden Frauen zu und legte meinen Arm um Anna.
»Dein Notizbuch«, sagte Anna und hielt mein kleines grünes Moleskine-Buch hoch. »Nichts passiert. Der kessen Lady geht’s gut.«
»Danke«, sagte ich erleichtert und griff nach meinem Zeichenbuch.
Während ich die schmale Kladde in die Seitentasche meiner Shorts schob, blickte ich aufmerksam über die Brüstung und ließ meinen Blick über den unter uns liegenden Kurpark wandern. Die Bänke im Park und rund um den Schiffchenteich
waren verlassen, auf dem Wasser des Beckens trieben ein paar herrenlose Modellboote.
Urlauber standen in kleinen Gruppen zusammen und redeten aufgeregt miteinander. Eine Frau hatte das Gesicht an der Schulter ihres Begleiters vergraben und schien zu weinen. Kinder zerrten an den Händen ihrer Eltern, weil das Durcheinander so aufregend war und sie wahrscheinlich viel lieber durch die Milchpfützen auf der Wilhelmstraße gerannt wären.
Ich warf einen Blick nach oben und suchte mit zusammengekniffenen Augen den Himmel ab. Wir mussten noch immer auf der Hut sein. Das wild gewordene Kleinflugzeug konnte auch zum dritten Mal auftauchen.
Noch aber war am Himmel, auch über dem Hafenbereich, alles friedlich. Nur ein paar Möwen kreisten dort, für gewöhnlich immer auf der Lauer, um einem der ahnungslosen Touristen das Fischbrötchen oder die Eiswaffel im Sturzflug aus der Hand zu schnappen. Im Augenblick jedoch fanden die Vögel die auf der Straße verstreuten Leckerbissen viel interessanter und setzten in Scharen zum Landeanflug an.
»Hermsdorf. Freifrau zu Hermsdorf. Ich wollte mich bei Ihnen bedanken«, machte die etwa Achtzigjährige auf sich aufmerksam und vollführte – ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen – einen Knicks. »Ohne Ihre Hand hätte mich das Teufelsding bis nach Norddeich rübergeweht.«
»Sehr erfreut, de Fries«, brummte ich und suchte weiter nach Anzeichen, ob sich das Flugzeug erneut im Anflug befand. Dem war aber nicht so. Von dem Flugzeug war weder etwas zu hören noch zu sehen.
»Tut mir leid, wenn ich etwas schroff war«, wandte ich mich an Anna.
»Schon gut, Jan«, antwortete Anna. »Du hast mich beschützen wollen und …«, ihre Arme umschlangen meinen Hals, »dafür danke ich dir, mein Held.«
Annas weiche Lippen drückten sich auf meinen Mund, und ich spürte, wie sich ihre Zungenspitze zwischen meine Lippen schob. So gern ich Annas Kuss erwidert hätte, fühlte ich mich gehemmt. Schließlich stand neben mir eine achtzigjährige Freifrau und sah uns interessiert zu.
»Entschuldige, später. Versprochen«, nuschelte ich verlegen und löste mich vorsichtig aus Annas Umarmung. »Wird alles nachgeholt.«
»Das wäre Ihrer Frau auch sehr zu wünschen«, konnte sich Freifrau zu Hermsdorf nicht verkneifen zu sagen und sah Anna süffisant an, deren Kleid bei unserem Sturz bis zu den Hüften zerrissen war und einen Blick auf ihren türkisfarbenen Slip freigab.
Kommentarlos griff ich nach Annas Kleid und zog die beiden Stoffteile über ihre wohlgeformten Beine, während ich der blaublütigen alten Dame einen tadelnden Blick zuwarf, was diese aber nicht daran hinderte, einen weiteren Kommentar abzugeben, der zumindest schmeichelhaft war. »Ein echter Gentleman, Ihr Mann.«
»Das ist nicht mein Mann«, erwiderte Anna kurz angebunden, und ich glaubte, Bedauern in ihrer Stimme zu hören. »Wir sind nicht verheiratet.«
»So wie er Sie ansieht, würde ich aber nicht darauf wetten, dass das noch lange so bleibt, Kindchen.« Freifrau zu Hermsdorf lächelte verschmitzt und sah wiederum mich vielsagend an.
Ich hatte weder Zeit noch Lust, unsere Konversation fortzuführen, geschweige denn, mir inmitten des Chaos auf der Dachterrasse des Baumann’s eine Diskussion über Heiratspläne unter die Weste jubeln zu lassen. Da konnte die Lady noch so
blaublütig sein. Ich ignorierte ihre Anspielung und nickte ihr freundlich, aber förmlich zu, bevor ich mich Anna zuwandte.
»Na, dann will ich auch nicht länger stören«, säuselte sie zuckersüß und warf uns noch einen süffisanten Blick zum Abschied zu, bevor sie mit schnellen Schritten Richtung Terrassentür trippelte.
»Wir haben großes Glück gehabt. Ich bin froh, dass es dir gut geht.« Etwas unbeholfen strich ich Anna über den Rücken, während ich der alten Dame nachsah.
»Ja«, nickte Anna an meiner Schulter und presste sich eng an mich. »Gott sei Dank, dass uns nichts passiert ist«, flüsterte sie mir ins Ohr.
Wortlos erwiderte ich ihre Umarmung und war sehr erleichtert, dass wir diese Tieffliegeraktion, abgesehen von ein paar Blessuren, die durch unser Bodenturnen entstanden waren, schadlos überstanden hatten.
»Ich schau mal, ob ich hier noch helfen kann, dann will ich mal nach der Maschine sehen.«
»Das machen wir zusammen«, antwortete Anna und gab mir einen schnellen Kuss, bevor sie ihre Arme von meinem Nacken löste.