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Ich griff nach Annas Hand. Gemeinsam hasteten wir die halbrunde Treppe des Baumann’s hinunter.
Auf der Straße vor dem beliebten Café sah es reichlich chaotisch aus.
Da auf Juist als autofreier Insel lediglich Feuerwehr, Sanitäter und der Inselarzt motorisiert sind, hatte es keine Blechschäden gegeben. Abgesehen von ein paar herumliegenden Fahrrädern, deren Schutzbleche verbogen waren, weil ihre Besitzer sie auf der Flucht vor dem heranrasenden Flugzeug in Panik einfach fallen gelassen hatten. Aber auch ohne Autoschäden war das Chaos vorm Café und dem gegenüberliegenden Kurpark enorm. Nach wie vor standen in der schräg gegenüberliegenden Wilhelmstraße und der parallel verlaufenden Carl-Stegmann-Straße einige Fuhrwerke ineinander verkeilt.
Der Pferdewagen, dessen Ladung direkt vorm Café Baumann’s über Bord gegangen war, hatte das meiste Pech gehabt, da nicht nur eine Palette mit Frischmilch von der Ladefläche gestürzt und die Hälfte der Milchpackungen zerplatzt war, sodass sich auf der Straße eine weiße Seenlandschaft aus Frischmilch gebildet hatte, sondern sich eben auch sämtliche geladenen Obst- und Gemüsekisten quer über die Fahrbahn verteilt hatten. Auch der Versuch des anderen Kutschers, sein Fuhrwerk zu stoppen, den ich von der Dachterrasse aus beobachtet hatte, war leider nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Von seiner rasanten Fahrt zeugte eine Spur umgestürzter Bierkisten und zerbrochener Flaschen. Beide Kutscher saßen nun einträchtig nebeneinander auf dem Rand des Bürgersteigs und qualmten in aller Seelenruhe eine Zigarette, während sie mit friesischer Gelassenheit ihren Pferden zusahen, die genüsslich an den durcheinandergekullerten Tomaten und Salatköpfen knabberten. Im Grunde war das auch das Beste, was die Männer in dieser Situation machen konnten. Was zerdeppert werden konnte, war zerdeppert und lag im Straßendreck. Die Pferde mussten sich eh beruhigen und zusammenkehren konnte man später auch noch. Da sprach wirklich nichts dagegen, erst einmal eine zu rauchen.
Ohnehin lag an diesem aufregenden Morgen ein Hauch von Kneipenstimmung über der Bahnhofstraße. Während sie üblicherweise um diese Zeit von beschaulicher Ruhe geprägt ist, war sie jetzt – abgesehen von den schweigend rauchenden Kutschern – bevölkert von aufgeregten Urlaubern, die sich immer noch nicht beruhigen konnten und lautstark durcheinanderredeten. Zumindest diejenigen, die nicht schockiert und sprachlos neben ihren Fahrrädern standen oder regungslos versuchten, das Chaos zu verarbeiten, das so laut wie unvermittelt in Form eines hornissengelben Wahnsinnsfliegers über den Juister Ortskern hereingebrochen war.
Ich selber hatte auch Probleme damit, das Geschehene einzuordnen, da mir die Hintergründe der waghalsigen Flugmanöver nicht bekannt waren. Die gab es aber mit absoluter Sicherheit, und ich war wild entschlossen, sie zu erfahren!
»Das ist unglaublich.« Annas Finger krallten sich in meine Handfläche, als wir durch die Glastür des Café Baumann’s hinaus auf die Bahnhofstraße traten.
»So ein Chaos hat’s hier noch nie gegeben«, stimmte ich ihr zu. »Zum Glück ist niemand verletzt worden.«
Ich trat in eine Tomate.
»Komm«, bat ich Anna, während ich versuchte, meinen Schuh an der Bordsteinkante sauber zu wischen. »Lass uns nach dem Flieger suchen.«
Wir überquerten die Fahrbahn und wichen Bier- und Milchpfützen aus. Unsere Leihfahrräder warteten gänzlich unbeeindruckt vom Geschehen der letzten Minuten schräg gegenüber am Fahrradständer hinter dem Imbisspavillon auf uns. Wir lösten die Fahrradschlösser und schoben die Räder vorsichtig auf dem Bürgersteig, bis der Untergrund frei von Scherben war. Mit kräftigen Tritten in die Pedale radelten wir zügig die Bahnhofstraße Richtung Hafen entlang.
Auf dem Boden der Dachterrasse des Café Baumann’s liegend hatte ich durch das Glas der Brüstung beobachten können, dass die gelbe Maschine in ihrem Tiefflug über die Deichkante fast den Leuchtturm gerammt hätte. Danach war sie aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich hatte weder einen Aufprall gehört noch eine Explosion oder eine Rauchsäule wahrgenommen.
Entweder hatte der Pilot das Flugzeug über das Watt hinaus auf See geflogen, oder er war entlang der Küstenlinie Richtung Westspitze davon, wo sich das Billriff befindet. Natürlich konnte der Pilot auch eine weitere Kurve gemacht haben und jeden Moment erneut von Westen her angebraust kommen. Mein Bauchgefühl sagte mir jedoch, dass der zweite Anflug auch wirklich der letzte gewesen war.
Dies bestätigte sich, als wir durch das Deichtor Richtung Hafen radelten. Das gelbe Flugzeug, das auf der Deichwiese wie ein überdimensionales Spielzeug wirkte, war nicht zu übersehen.
Der Pilot hatte den Motor des kleinen Flugzeugs ausgeschaltet. Der Propeller glänzte friedlich im Sonnenlicht. Bis auf das Kreischen der über dem Hafen kreisenden Möwen und die aufgeregten Stimmen von Kindern, die ihre Eltern auf das notgelandete Flugzeug aufmerksam machten, war die gewohnte morgendliche Stille wieder eingekehrt.
Dem Piloten war es gelungen, die Maschine heil zu Boden zu bringen, ohne einen der Urlauber zu köpfen oder alle Fensterscheiben des Fährterminals zu zertrümmern.
»Das ist ja noch mal gut gegangen«, stellte ich erleichtert mit Blick auf das Flugzeug fest, das friedlich auf dem letzten Streifen Wiese vorm Watt parkte.
Es hätte nicht viel gefehlt und die Maschine wäre ins Watt gestürzt.
Die Chancen, dass jemand einen solchen Absturz überlebt hätte, schätzte ich als ziemlich gering ein. Im Moment herrschte Niedrigwasser, und selbst wenn der Schlick für Wattwanderer weich und glitschig war, hätte ein Absturz auch aus niedriger Höhe das Sportflugzeug wegen seiner hohen Geschwindigkeit in einen Trümmerhaufen verwandelt.
Der Pilot aber hatte es geschafft, die Propellermaschine unversehrt herunterzubringen. Und er hatte den einzig richtigen Landeplatz gewählt: die breite Wiese, die parallel zur Deichstraße An’t Diekskant verlief und als Vordeich diente. Er hatte nur diese eine Chance gehabt und die hatte er genutzt.
»Stimmt«, erwiderte Anna, die mit ihrem Rad dicht neben mir fuhr. »Ich hatte eigentlich mit einem großen Blechhaufen gerechnet.«
Wir waren nicht die Einzigen, die sich den Kamikazeflieger aus der Nähe ansehen wollten. Doch nachdem wir einen Trupp Urlauber überholt hatten, die sich ebenfalls auf dem Weg zum Flugzeug befanden, erreichten wir den notgelandeten Flieger als Erste.
Ich stieg ab und ließ das Rad achtlos ins Gras fallen. Anna folgte meinem Beispiel mit dem ihrigen. Wortlos näherten wir uns zwei Gestalten, deren Köpfe hinter der hochgeklappten Motorabdeckung verschwanden.
»Moin!«, sagte ich unfreundlich. »Können wir helfen?«
Der Mann, der den Kopf unter die Motorhaube gesteckt hatte, machte keine Anstalten, meinen Gruß zu erwidern, geschweige denn sich umzudrehen. Die Frau hingegen, die ebenfalls in den Motorraum lugte, fuhr erschrocken herum. Sie machte einen verstörten Eindruck, was nach einer Notlandung wie dieser nur allzu verständlich war.
»Hallo«, erwiderte sie hastig und beeilte sich, ohne dass ich sie darum gebeten hatte, mir zu erklären, was es mit der Notlandung auf sich hatte.
Vielleicht hielt sie mich ja für den Inselsheriff.
»Der Motor … er bekam nicht genug Schub … es war irgendwas mit den Tanks …« Hilflos brach die Frau ab und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht genau.«
»Sind Sie die Pilotin?« Argwöhnisch musterte ich die schlanke Frau, die sich nervös eine kinnlange blonde Haarsträhne hinters Ohr klemmte.
In ihrer Aufmachung – kurze, enge Shorts, eng anliegendes Trägershirt und nackte Füße, die in hellblauen Mokassins steckten – wirkte die Frau nicht gerade wie eine Pilotin, sondern eher wie eine Urlauberin, die einen Inselrundflug gebucht hatte.
»Ja …«, nickte sie fahrig. »Irgendwie ja … äh … die Co-Pilotin eher …«
»Irgendwie ja?« Ungläubig starrte ich die stammelnde Frau an, die einen völlig überforderten Eindruck machte. »Sie wollen sagen … Sie wissen nicht genau, ob Sie die Maschine geflogen sind?«
Ich konnte es nicht glauben. Alleine schon die Vorstellung, dass es dieses nervöse Etwas gewesen sein sollte, das wie ein Kamikazeflieger über die Insel gedonnert war, trieb mir noch nachträglich den kalten Angstschweiß auf die Stirn.
»Mm«, machte die Frau und nickte zaghaft, während sie von einem Bein aufs andere trat. »Doch, doch. Das war ich. Ich bin geflogen, aber …«
»Halt den Mund, Rita!«, dröhnte es dumpf aus dem Motorraum der flügellahmen Propellermaschine.
»Wir haben Ihren … äh … Landeanflug gesehen«, sagte ich mit betont ruhiger Stimme. »Können wir Ihnen helfen?«
Die Bemerkung aus dem Motorraum überhörte ich. Wenn der Typ etwas zu sagen hatte, sollte er gefälligst mit dem Kopf aus der Versenkung auftauchen.
Die Frau sah mich irritiert an. Unsicher ging ihr Blick zwischen Anna und mir hin und her. Offenbar hatte sie mit einer Beschimpfungstirade und nicht mit einem Hilfsangebot gerechnet. Nervös knetete sie ihre Hände ineinander.
»Nee, danke. Obwohl … ich weiß auch nicht …«, begann sie, wurde aber im selben Moment erneut unterbrochen.
»Landeanflug?«, dröhnte es aus dem Innern unter der Motorabdeckung. Der grauhaarige Schädel eines Mannes, der mir irgendwie bekannt vorkam, tauchte aus dem Motorraum auf. »Was fürn Witzbold. Nix war mit Landeanflug. Ein Scheiß war das!«
»So sehen wir das auch«, entgegnete Anna. »Die Nummer war ziemlich beschissen!«
Der Mann wischte sich mit ölverschmierten Fingern durchs Gesicht, während er in die Sonne blinzelte.
»Manfred!«, rief ich verblüfft. »Na, das ist ja eine Überraschung.«
Manfreds graue Augen blinzelten mich überrascht aus seinem jetzt ebenfalls ölverschmierten Gesicht an.
»Na«, grinste ich. »Fällt der Groschen?«
Es dauerte einen Moment, bis er mich erkannte.
»Jan …?«, erinnerte er sich stirnrunzelnd. »Äh …«
»… de Fries«, half ich ihm auf die Sprünge. »Jan de Fries.«
»Na klar. Ich erinnere mich, Jan.« Ein kurzes Lächeln des Erkennens huschte über sein Gesicht.
Obwohl Manfred Bendix in diesem Moment lächelte, hatte sein Gesicht, wie ich es kannte, viel von seiner Herzlichkeit eingebüßt. Die vielen Falten rund um die Augen des Mittvierzigers wirkten heute nicht wie fröhliche Lachfalten, sondern schienen tief und dauerhaft in Manfreds Gesicht eingekerbt zu sein.
»Alles klar, Jan. Was macht deine Flugangst?« Manfred lachte dröhnend und spielte damit auf unseren gemeinsamen Flug nach Juist vor ein paar Jahren an, als ich im Strandhotel, dem weißen Schloss am Meer, der Spur in einem Mordfall nachging.
»Der ging es gut«, entgegnete ich trocken. »Bis dieses gelbe Ding hier vorhin die halbe Insel in Angst und Schrecken versetzt hat.«
»Der Punkt geht an dich.« Manfred grinste säuerlich. »Der Überflug war auch so nicht geplant.«
»Das wäre ja auch noch schöner«, erwiderte ich.
Manfred kniff verärgert die Augen zusammen, erwiderte aber nichts auf meine Bemerkung, sondern deutete mit dem Daumen auf die blonde Frau neben ihm. »Das ist Rita Albrecht, meine Co-Pilotin. Sie ist geflogen, ich habe die Maschine gelandet.«
»Ich weiß noch nicht, ob mich das jetzt beruhigt«, presste ich mit schmalen Lippen hervor.
An meine Flugangst hatte ich bislang noch gar nicht gedacht. Dafür war zuvor alles zu schnell gegangen. Aber jetzt, wo Manfred Bendix mich an meine Abneigung erinnert hatte, die ich gegen alles hegte, was Flügel hat und kein Vogel ist, wurde mir schlagartig flau im Magen.
»Lief wohl heute nicht so gut mit dem Fliegen«, meldete sich Anna zu Wort und streckte ihr Becken vor, sodass der unfreiwillig angebrachte Schlitz in ihrem Kleid sichtbar wurde. »Ihr Landemanöver hat mir mein neues Kleid ruiniert.«
Manfreds Blick wanderte an Anna hinunter und blieb an dem schmalen Streifen Haut ihres Oberschenkels hängen, den der zerrissene Stoff freigab. Versonnen sagte er: »Dann mach ich mir ’n Schlitz ins Kleid und find ihn wunderbar.«
Anna holte tief Luft und setzte zu einer Erwiderung an.
Da ich Annas Temperament kannte, legte ich vorsichtshalber meinen Arm um ihre Taille und zog sie eng an mich.
»Das ist Anna«, stellte ich sie vor. »Und der Tiefflieger des heutigen Tages ist Manfred Bendix. Wir kennen uns, ich bin schon mit ihm geflogen.«
»Angenehm«, sagte Manfred und streckte Anna seine Hand entgegen.
Anna sah ihn einen Moment lang an, wie wenn sie überlegen müsste, ob sie die dargebotene Hand annehmen oder ihm eine knallen sollte. Dann spürte ich, wie sich ihr Körper entspannte. Offenbar kam Manfred um eine Backpfeife herum. Mit sichtlich gemischten Gefühlen streckte sie dem Piloten ebenfalls die Hand entgegen.
»Bendix.« Manfred ergriff Annas Rechte, die fast komplett in seiner Pranke verschwand, und schüttelte sie fast zaghaft. »Und das ist Rita, meine heutige Flugschülerin.«
Bendix deutete mit dem Kinn auf die blonde Frau neben sich, die wie ein Häufchen Elend in seinem anderen Arm hing, während er noch immer Annas Hand umklammert hielt. Seine Augen hingen wie gebannt an ihr, was ich zwar gut verstehen konnte, was mir aber doch einen leichten Stich versetzte. Zumal Bendix keinerlei Anstalten machte, die Hand meiner Freundin wieder freizugeben.
»Nun darfst du sie auch wieder loslassen«, scherzte ich und hielt ihm stattdessen meine Hand unter die Nase.
»Oh«, machte er und folgte fast schon unwillig meiner Aufforderung. »Sorry.«
Bendix deutete eine Verbeugung an, die hier auf dem Rasen leicht deplatziert wirkte. Dann schüttelten er und ich uns die Hände, als befänden wir uns auf einer Dinnerparty und nicht neben einem notgelandeten Flugzeug, das vor wenigen Augenblicken noch die halbe Insel in helle Aufregung versetzt hatte.
Eine absurde Situation, insbesondere da der blaue Himmel über uns und die angenehm frische Brise, die durch den Hafen wehte, eher für Urlaubsgefühle sorgten, als dass irgendeine Form von Stehparty-Small-Talk angebracht gewesen wäre.
Weder die Panik der Urlauber und Einheimischen, die vor Manfreds Kamikazeflug erschrocken geflohen waren, noch unser förmlicher Umgang miteinander passten in die morgendliche Urlaubsidylle. Die aber auch prompt von einem wütend schnaubenden Neuankömmling unterbrochen wurde.
»Was war das denn für eine Nummer?«, ertönte die tiefe Stimme eines vierschrötigen Mannes mit knallrotem Sonnenbrandgesicht, der sich an mir vorbeischob und drohend vor Manfred aufbaute.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Manfred zu Anna, völlig unbeeindruckt von dem Touristen, auf dessen Stirn und Nase die Haut abblätterte wie alte Farbe von einem rostigen Schiffsbug. »Das mit Ihrem Kleid tut mir leid, aber ich fürchte, das ist für heute mein kleinstes Problem.«
»Stimmt«, bestätigte ich und klopfte, während ich weitersprach, dem Mann, der sich zwischen Manfred und mich geschoben hatte, auf die Schulter. »Auf der Bahnhofstraße sieht’s ziemlich wild aus. Aber ich glaube, es gibt keine Verletzten. Und damit das auch so bleibt, sollten wir alle von hier verschwinden.«
Der Mann mit dem sonnenverbrannten Gesicht drehte sich ungehalten zu mir um und wischte mit seiner Pranke meine Hand von seiner Schulter. »Was willst DU denn?«
»Explosionsgefahr!«, sagte ich knapp.
»Hä?«
»Bumm!«, machte ich mit dumpfer Stimme und riss die Augen demonstrativ weit auf. »Gleich geht das Ding hier hoch! Es ist etwas mit den Tanks. Wir sollten schnellstens abhauen!«
»Hä … wie jetzt?« Mit verständnislosem Blick glotzte mich mein Gegenüber an.
Der Hellste schien der stämmige Mann mit dem mächtigen Brustkorb und dem krebsroten Gesicht nicht gerade zu sein.
»Bumm!«, wiederholte ich und zeichnete mit beiden Armen einen großen Kreis in die Luft.
Man konnte förmlich mit ansehen, wie meine Botschaft in sein Bewusstsein rieselte. Es dauerte seine Zeit, dann aber riss mein Gegenüber entsetzt die Augen auf und wirbelte panisch herum. Ohne ein weiteres Wort hetzte er im Laufschritt davon.
Seine Frau, die sich währenddessen mit in die Hüften gestemmten Händen neben ihm aufgebaut hatte, vergaß er allerdings vor lauter Schreck, als er davonhastete.
»Wo willst du hin?«, kreischte sie ihm laut hinterher, als er, ohne sich umzublicken, das Weite suchte.
»Hier explodiert gleich alles! Das Benzin läuft aus!«, brüllte der Vierschrötige über die Schulter hinweg seiner besseren Hälfte zu. »Mach, dass du wegkommst!«
Das ließ sich die Frau kein zweites Mal sagen. Sie kreischte kurz und schrill auf und spurtete ihrem Göttergatten hinterher. Um schneller laufen zu können, raffte sie ihr Strandkleid hoch und ermöglichte uns Einblicke, auf die ich lieber verzichtet hätte.
»Danke, Jan.« Manfred sah dem davonstürmenden Paar feixend hinterher, auf seinem Gesicht erschienen nun endlich die Lachfalten, die ihn so sympathisch machten.
»Was ist denn eigentlich los?«, wollte ich wissen. »Du bist doch nicht freiwillig hier auf dem Rasen gelandet.«
Ebenso schnell, wie sein Lachen aufgeleuchtet war, verschwand es auch wieder. Manfreds Gesichtsausdruck verfinsterte sich, als sei eine schwarze Gewitterwolke aus dem Nichts aufgetaucht.
»Alles okay mit dir?« Aufmerksam musterte ich ihn.
»Nichts ist okay«, erwiderte er kurz angebunden.
»Was war denn los?«, hakte ich nach.
»Tja, wenn ich das mal wüsste.« Manfreds Stirn legte sich in sorgenvolle Falten, während er sich mit der Hand übers Gesicht fuhr. »Keine Ahnung. Die Maschine reagierte plötzlich nur noch wie betäubt auf den Schub.«
»Wie betäubt?«
»Ich kann’s nicht besser beschreiben.« Manfred schüttelte ratlos den Kopf. »Der Schub wurde immer schwächer. Die Maschine flog sich wie ’ne bleierne Ente, so als ob sie …« Abrupt brach er ab.
Sein Blick wurde starr, als wäre ihm gerade ein Licht aufgegangen. Seine Lippen pressten sich zu einem schmalen Strich zusammen.
»Und dann natürlich genau in dem Moment, als ich das Steuer in der Hand hatte«, meldete sich die blonde Frau zu Wort, noch bevor ich nachhaken konnte, was Manfred meinte.
»Oh«, sagte Anna neben mir. »Das war sicher ein Riesenschreck für Sie.«
»Das können Sie wohl glauben! Manni hat sofort wieder übernommen, aber nicht auszudenken …« Manfreds Co-Pilotin schlug sich im Nachhinein vor Schreck die Hand vor den Mund. Ihre Gesichtsfarbe wechselte wie bei einem Chamäleon in Sekundenbruchteilen die Farbe, nur dass die jetzige nicht so schillernd wie die der exotischen Leguane war, sondern kreidebleich, mit einem Hauch ins Gräuliche.
Regungslos verharrte sie in der Bewegung, die Hand noch immer vor den Mund geschlagen, bis sie, ohne einen weiteren Laut von sich zu geben, in Zeitlupe ins Gras sank.
Wir griffen alle drei gleichzeitig nach der Frau, die Manfred als Rita Albrecht vorgestellt hatte, und konnten gerade noch verhindern, dass sie mit dem Kopf auf den Boden schlug.
Anna setzte sich kurzerhand auf den Rasen und bettete Ritas Kopf in ihren Schoß, während ich mich schnell hinkniete und mir ihre Beine auf die Schultern legte, um ihren Kreislauf zu stabilisieren.
Mittlerweile hatten sich immer mehr Urlauber und auch ein paar Insulaner, die ich vom Sehen kannte, am Flugzeug versammelt. Sie bildeten einen großen Kreis um uns, um zu beobachten, was hier vor sich ging.
»Ist zufällig ein Arzt anwesend?«, rief ich laut.
Niemand rührte sich. Offenbar funktioniert so etwas nur in Krimis.
»Ist jemand Arzt von Ihnen?«, wiederholte ich meine Frage mit drängender Stimme.
Noch immer rührte sich niemand. Der Kreis der Schaulustigen war zwar dichter geworden, aber niemand machte Anstalten zu helfen.
»Dort kommt der Notarzt«, sagte Manfred unvermittelt und zeigte Richtung Hafen.
Da rings um uns Leute standen und ich am Boden kniete, konnte ich nichts weiter tun, als Rita Albrechts Beine hochzuhalten und durch den Wald mehr oder weniger behaarter Waden hindurch, die teilweise in weißen Tennissocken und meist den unvermeidlichen Badeschlappen steckten, Ausschau nach dem von Manfred angekündigten Arzt zu halten.
Dann sah auch ich den gelben Rettungswagen auftauchen.
Die Schaulustigen machten keine Anstalten, den Notarztwagen durchzulassen, daher ließ dieser unvermittelt das Martinshorn aufheulen.
Ich zuckte zusammen, weil ich das Gefühl hatte, dass mir gleich das Trommelfell platzen würde. Auch die Leute ringsum fuhren vor Schreck zusammen. Erwachsene wie Kinder, die unmittelbar vor dem Rettungswagen herumstanden, hielten sich die Ohren zu. Einige der kleineren Kinder fingen vor Schreck an zu weinen oder zu kreischen. Fast widerwillig bildeten die Schaulustigen eine Gasse, durch die der gelbe Wagen mit dem orangefarbenen Streifen nun auf uns zufuhr und wenige Meter vor uns stehen blieb.
Die Sirene erstarb.
Zwei Sanitäter und ein Notarzt sprangen aus dem Auto und eilten auf uns zu. Einer der Sanitäter nahm mir die Beine der bewusstlosen Frau ab und mit knackenden Kniegelenken erhob ich mich mühsam. Ich half Anna beim Aufstehen und nahm sie in den Arm, dann gingen wir ein wenig zur Seite, um dem Rettungsdienst nicht im Weg zu stehen.
Manfred beantwortete dem Arzt ein paar Fragen und gesellte sich dann zu uns.
»Schock«, sagte Manfred bekümmert. »Sie hat einen Schock.«
»Mach dir keine Sorgen«, erwiderte ich. »Sie ist jetzt in guten Händen und bestimmt schnell wieder auf den Beinen.«
»Ausgerechnet bei Rita muss mir so ein Scheiß passieren.« Bedrückt schüttelte Manfred den Kopf. »Wenn es kommt, dann aber auch gleich dicke.«
»Wieso sagst du ›ausgerechnet bei Rita‹?«, fragte ich.
»Weil …« Manfred lachte bitter auf. »Weil Rita mindestens so großen Schiss vor Flugzeugen hat wie du.«
»Und da ist sie deine Co-Pilotin?« Ungläubig sah ich Manfred an. »Warum bleibt sie denn nicht am Boden, wenn sie solche Angst vorm Fliegen hat, und wieso – fliegt sie überhaupt? Das ist doch ziemlich krass.«
»Wahrscheinlich, weil sie sich ihren Ängsten stellen will«, sagte Anna und stupste mich vielsagend mit dem Ellbogen seitlich in den Brustkorb, was mich zusammenzucken ließ, da sich meine malträtierten Rippen schmerzhaft in Erinnerung brachten. »Angst erkannt, Angst gebannt.«
»Stimmt genau«, nickte Manfred. »Das ist überhaupt nicht krass oder in irgendeiner Weise ungewöhnlich. Rita macht bei mir ein Pinch-Hitter -Sicherheitstraining.«
»Was ist das, ein Pinch-Hitter-Training?«, wollte ich wissen und ignorierte Annas Wink mit dem Zaunpfahl.
Schon seit geraumer Zeit wollte Anna mich zu einer Flugreise auf die Balearen bewegen. Ich hatte mich immer herausgeredet, dass wir doch hier bei uns an der Nordsee auf den Inseln die schönsten Strände der Welt hatten – direkt vor der Haustür. Genau aus diesem Grund machten wir uns gerade ein paar schöne Ferientage auf Juist.
»Wozu also in einen Flieger steigen, wenn das Gute direkt vor der Nase liegt?«, lautete bislang meine Ausrede, denn wir mussten nur mit der Fähre von Norddeich rüberfahren, um einen der wunderbarsten Strände, die man sich nur vorstellen konnte, genießen zu können. Natürlich konnte man mit einem der Inselflieger der Frisia-FLN deutlich schneller – nämlich in knapp zehn Minuten – nach Juist rüberfliegen. Ich aber bevorzugte die Fähre. Doch obwohl Anna von dem Strand auf Juist begeistert war, befürchtete ich, auf lange Sicht ihren Wunsch nach einem Urlaub unter südlicher Sonne nicht negieren zu können.
»Ein Pinch-Hitter-Sicherheitstraining machen Leute, die sich fürs Fliegen interessieren«, fiel Manfred mir, ohne es zu wissen, in den Rücken. »Oder Leute wie Rita und du, die Flugangst haben, die einfach Angst davor haben, die Kontrolle abzugeben –aus dem aktiven in den vermeintlich passiven Part zu wechseln –, und dabei das ›Abgeben‹ nicht verkraften.«
»Hm«, brummte ich nur.
»Vielleicht wäre das ja auch etwas für dich«, schlug Manfred genau das vor, was ich bereits insgeheim befürchtet hatte, als er nur das Wort »Sicherheitstraining« aussprach, und handelte sich einen bösen Blick von mir ein. So weit kommt’s noch – ich fliegen? , dachte ich grimmig.
»Sieh an, die Obrigkeit«, wechselte ich das Thema, da ich in diesem Moment glücklicherweise einen Mann mit weißem Uniformhemd und einer auf halbmast hängenden Krawatte auftauchen sah, sodass ich Manfreds Vorschlag ebenso wie Annas begeistertes Nicken elegant ignorieren konnte.
»Moin«, grüßte der Uniformierte mit einem kurzen Blick in die Runde, während er sein Rad durch den Kreis der Schaulustigen schob. »Bente Hecht ist der Name. Ich bin der hier zuständige Inselpolizist.«
»Moin, Bente«, grüßte Manfred zurück, der den Polizisten offenbar persönlich kannte.
Anna und ich erwiderten den Gruß des Beamten mit einem verhaltenen »Moin«, zu sehr saß uns noch der Schreck über das morgendliche Chaos in den Gliedern.
Der Mann war etwa in meinem Alter und hatte ein hochrotes Gesicht, als sei er mit seinem Rad einmal quer über die Insel gehetzt. Ein silberner Stern auf seinen dunkelblauen Schulterklappen wies ihn als Polizeikommissar aus. Mit einem weißen Taschentuch fuhr er sich einmal über die Stirn und ließ es dann in seiner Hosentasche verschwinden.
Ich wusste, dass der »Dorfsheriff«, wie der Inselpolizist hier auf Juist scherzhaft, aber respektvoll genannt wurde, seinen Beruf ausübte, wie es bei den Kollegen auf dem Festland nicht der Fall war: Vierundzwanzig Stunden Rufbereitschaft rund um die Uhr und bei allen polizeilichen Aktionen auf sich alleine gestellt zu sein, war schon etwas anderes, als Dienst auf dem Festland zu verrichten. Das wusste niemand besser als die Insulaner, weshalb sein Spitzname nie spöttisch, sondern immer respektvoll gemeint war.
Die Vormittagssonne knallte vom Himmel, was den Inselpolizisten seine Krawatte hatte lockern lassen, die ihm der Fahrtwind über seine linke Schulter geweht hatte.
»Moin, Manfred. Schneller ging’s nicht«, begrüßte der hemdsärmelige Polizist Bendix und tippte sich kurz an die Stirn, wo sich seine Dienstmütze theoretisch befunden hätte, wenn er sie nicht wie heute am vorderen Gepäckträger seines Dienstfahrrads mit einem Gummiband festgezurrt spazieren fuhr. »Ich war gerade oben bei dir am Flugplatz wegen eines Einbruchs.«
»Einbruch?« Manfred sah Dorfsheriff Hecht überrascht an. »Was denn für ein Einbruch? Ich weiß von nix!«
»Na, is klar. Wie auch«, entgegnete der und zeigte mit dem ausgestreckten Daumen in den blauen Friesenhimmel über uns. »Du warst ja da oben – zumindest eine Zeit lang.«
Für einen Moment dachte ich, dass Manfred die Fassung verlieren würde. Sein Gesicht lief hochrot an, und er begann mit den Kiefern zu mahlen, als würde er einen Streifen Kaugummi zu Tode kauen wollen.
Stattdessen aber ignorierte er die ironische Bemerkung Hechts und schnappte nur kurz nach Luft, bevor er fragte: »Was war denn am Flugplatz los?«
»Jemand hat in der vergangenen Nacht ein Fenster aufgehebelt und ein paar Spinde im Flugzeughangar geknackt«, antwortete der Polizist und strich sich nachlässig mit der flachen Hand seine Krawatte glatt, die er sich von der Schulter gefischt hatte.
»Meinst du damit die Sportschränke?«, wollte Manfred wissen.
»Gleich sage ich dir mehr«, wehrte Hecht ab. »Ich muss mich erst einmal um die verletzte Person kümmern.«
Ohne sich die Mühe zu machen, das Dienstfahrrad aufzubocken, ließ er seinen Drahtesel los, der scheppernd auf die Wiese fiel, und stiefelte Richtung Rettungswagen davon.
»Das ist Rita!«, rief Manfred dem Polizisten nach.
»Deine Rita?«, rief dieser über die Schulter zurück.
Statt einer Antwort sah ich an Manfreds Hals eine deutlich erkennbare Röte aufsteigen, die bis in Wangen und Stirn kroch. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Manfred, der jedes Jahr zum Eistauchen nach Russland fuhr und viele Jahre als Berufspilot und später als Buschpilot in Alaska unterwegs gewesen war, so schnell rot werden konnte.
Wenn ein alter Haudegen wie Manfred die Farbe wechselte wie ein Teenager, konnte das eigentlich nur an einer Frau liegen. Und diese Frau schien offenbar Rita zu sein, die gerade von den Sanitätern auf eine Trage geschnallt wurde.
Nachdenklich musterte ich Bendix. Seit wir uns vor ein paar Jahren auf unserem Flug von Juist nach Norddeich das letzte Mal gesehen hatten, musste einiges in seinem Leben passiert sein.
Manfred hatte die Hände zu Fäusten geballt. Mit versteinertem Gesicht sah er zum Rettungswagen hinüber, wo der Inselpolizist gerade mit den Sanitätern redete. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet, und es war ihm anzusehen, wie angestrengt es hinter seiner Stirn arbeitete. Eine Ader an seinem Hals war dick hervorgetreten, und ich konnte erkennen, dass Manfreds Puls heftig hämmerte.
Mit einem Ruck riss Manfred seinen Blick von dem Notarztwagen los und drehte sich wie ein Schlafwandler zu mir um.
»Du bist doch Anwalt?«, fragte er unvermittelt.
»Ja. Bin ich«, antwortete ich misstrauisch, denn eine solche Frage kam erfahrungsgemäß nie ohne Grund, weshalb ich vorsichtshalber hinzufügte: »Allerdings außer Dienst.«
»Kannst du mir … helfen?« Manfred sah mich eindringlich an, meinen Nachsatz ignorierte er.
»›Außer Dienst‹ heißt, dass ich zwar Anwalt bin, aber nicht mehr praktiziere«, spulte ich, ohne auf seine Frage einzugehen, meine Standarderklärung ab, wie immer, wenn mich mal wieder jemand in etwas Juristisches hineinziehen wollte. »Ich bin gewissermaßen Privatier und stiller Teilhaber an meiner alten Kanzlei in Berlin.«
»Ja, ich weiß.« Manfred nickte. »Du beschäftigst dich mit Totenköpfen, Schlangen, Ankern und so … so’n Bikerzeug. Ich meine, für Lederleute und so.«
»Tattoos«, stellte ich klar. »Ich entwerfe Vorlagen und Muster für Tattoos. Und ja, es sind auch Totenköpfe dabei, die ich zeichne. Falls du dir mal etwas Gutes tun möchtest und planst, dir eine Tätowierung zu gönnen, frag mich einfach. Ich zeichne gern etwas für dich, was zu dir passt.«
»Tätowieren?« Manfred verzog das Gesicht. »Nee, danke! Ich hab’s nicht so mit Nadeln.«
»Ich wollte dir damit sagen, dass ich dir gern ein Tattoo zeichne, aber dir nicht als Anwalt zur Verfügung stehen werde«, stellte ich klar.
»’tschuldige«, presste Manfred zwischen den Zähnen hervor, während er die Sanitäter nicht aus den Augen ließ. »Ich wollte dich nicht nerven. Es ist nur … ich bin mir jetzt sicher – man wollte mich umbringen!«
»Wieso bist du dir sicher?« Die Frage rutschte mir aus alter Gewohnheit heraus, obwohl ich Manfred gerade klargemacht hatte, dass ich nichts weiter für ihn tun würde, als ihm ein Tattoo zu zeichnen, was er nicht haben wollte.
»Weil – das war ein Mordversuch!«
»Mord!«, hallte es in meinen Ohren.
Annas Hand schob sich in meine. Auch wenn sie bislang geschwiegen hatte, verstanden wir uns ohne Worte. Ich erwiderte ihren Händedruck.
Anna wusste, dass ich nichts mehr von Mord hören wollte. Nicht jetzt und nicht in Zukunft! Mein ganzes Berufsleben lang hatte ich mich mit Mord und Totschlag in all ihren brutalen und perversen Variationen beschäftigen müssen. Auch nachdem ich meinen Job als Strafverteidiger an den Nagel gehängt hatte, wodurch ich nur noch als stiller Teilhaber an meiner ehemaligen Kanzlei beteiligt war, hatte ich mich immer wieder in die Aufklärung von Mordfällen hineinziehen lassen: entweder weil ein alter Freund mich um Hilfe für einen Schützling bat oder weil ich selber zufällig in einen Mordfall hineingeschlittert war.
Dabei hatte ich die Nase gründlich voll!
Ich wollte nichts mehr mit Tod, Schmerz, Schuld und Sühne zu tun haben. Und schon gar nicht mit Mordabsichten, die Flugzeuge zum Absturz brachten. Fast.
»Das war kein technischer Ausfall«, bekräftigte Manfred seine Worte, die ich nicht hören wollte. »Das war ein Mordversuch!«
»Und das fällt dir jetzt ein?«, erwiderte ich mit spröder Stimme.
Manfred erwiderte nichts, sondern starrte stur geradeaus.
Eine Weile sagte niemand etwas. Nur Manfreds schwere Atemzüge waren zu hören.
»Das war kein technisches Versagen«, wiederholte er mit tonloser Stimme seine Behauptung.
»Wie kommst du darauf?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.
»Der Flug der Cessna stand heute so nicht auf dem Programm«, erklärte er, ohne mich anzusehen.
»Ich denke, sie hat dieses Sicherheitstraining bei dir gemacht?«
»Ja, macht sie ja auch.« Manfred nickte. »Rita will lernen, mit ihrer Flugangst umzugehen. Aber eigentlich wäre ich mit Rita in einer anderen Maschine geflogen, die hatte aber heute Morgen Probleme mit der Zündung. Mit dem Vogel hier sollte eigentlich Ritas Mann Philipp fliegen; wir haben getauscht, damit Rita ihr Training nicht verpasst. Gott sei Dank, dass ich geflogen bin.«
»Wieso Gott sei Dank?«, hakte ich direkt nach.
»Weil ich der bessere Pilot bin«, antwortete Manfred unverblümt und ohne arrogant zu wirken; eher wie ein Leistungssportler, der seine Fähigkeiten genau kennt. »Philipp hätte die Maschine niemals heil runterbekommen.«
»Wieso?«, wollte ich wissen. »Und wem gehört die Maschine eigentlich?«
»Weil es extrem schwierig ist, ohne Treibstoff zu fliegen«, entgegnete er mit schiefem Grinsen. »Und was die Maschine anbelangt, ja, die Cessna gehört mir, einer meiner Vögel.«
»Ohne Treibstoff?«, platzte Anna heraus, während mir alleine bei der Vorstellung von einem Flugzeug, dem der Treibstoff ausgegangen ist, der Atem stockte.
»Gewissermaßen«, antwortete Manfred.
»Was heißt das denn jetzt schon wieder – gewissermaßen?«, fuhr ich Manfred gereizt an. »Entweder sind die Tanks leer oder sie sind es nicht!«
»Ganz so schwarz-weiß ist das nicht«, sagte Manfred. »Es kann ausreichend Sprit in den Tanks sein und dennoch …«
»Die Benzinleitung?«, unterbrach ich ihn. »So in etwa, wie wenn man die Bremsleitung am Auto sabotiert, damit bei einer Belastung die Leitung platzt?«
»Dachte ich zuerst auch«, nickte Manfred und wandte sich zu mir um. »Deshalb habe ich auch zuerst im Motorraum nachgesehen, bis ihr aufgetaucht seid.«
»Und?«, wollte ich wissen. »Hast du etwas gefunden?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich habe eine andere Vermutung. Viel raffinierter und sicherer.« Ein harter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. »Das muss ich noch überprüfen. Wenn ich recht habe, dann war ein Profi am Werk. Und ich habe auch schon einen Verdacht.«
»Du brauchst keinen Anwalt, das ist Sache der Kripo«, stellte ich klar.
»Wenn das mal so einfach wäre, Jan«, erwiderte Manfred mit bitterer Stimme. »Aber das ist es nicht. Deshalb brauche ich ja auch dich.«
In diesem Moment ertönte das typische Rotorengeräusch eines Hubschraubers.
Wir hoben unsere Köpfe und schauten in die Richtung, aus der das Geräusch zu hören war.
Unter dröhnendem Rotorengeknatter tauchte Christoph 26, der gelbe ADAC-Rettungshubschrauber, am Himmel auf und schwebte langsam seitlich des Hafenbeckens ein, um sanft in dem vom Dorfsheriff frei gehaltenen Areal hinter dem Reedereigebäude Norden-Frisia zu landen. Sanft setzten die Kufen des Helikopters auf die Wiese auf.
Der Pilot des Rettungshubschraubers ließ den Motor im Leerlauf, die Rotorblätter drehten sich noch immer, als sich die Seitentür öffnete.
Notarzt und Rettungssanitäter setzten sich mit eingezogenen Köpfen samt der Trage in Bewegung. Der Notarzt lief nebenher und hielt eine Infusionsflasche hoch, von der ein durchsichtiger Plastikschlauch zum Arm von Manfreds Co-Pilotin führte.
Wortlos setzte Manfred sich ebenfalls Richtung Rettungshubschrauber in Bewegung. Mit großen Schritten lief er quer über die Wiese und erreichte den Hubschrauber, während Pilot und Rettungskräfte die Trage mit Rita Albrecht routiniert ins Innere des Helikopters verluden.
Anna und ich beobachteten, wie Manfred kurz mit dem Arzt sprach und seinen Kopf ins Innere des Hubschraubers schob, wahrscheinlich, um sich von seiner Co-Pilotin zu verabschieden.
Sekunden später tauchte Manfred wieder auf und schloss sich den Rettungskräften an, die zurück zu ihrem Wagen eilten.
Der Pilot des Rettungshubschraubers erhöhte die Drehzahl des Motors. Die Rotoren begannen sich zu drehen und wehten einer Männergruppe unter den Schaulustigen, die offenbar einen Junggesellenabschied feierte, die albernen Pappzylinder vom Kopf. Laut fluchend und bereits gewaltig gangunsicher taumelten die Enthuteten ihren bunten Kopfbedeckungen hinterher, die quer über die Deichwiese hüpften.
Mit lautem Dröhnen erhob sich Christoph 26 und drehte Richtung Hafenbecken ab, um Kurs aufs Festland zu nehmen.
»Wirst du ihm helfen?« Anna schob ihre schmale Hand in meine.
Ich seufzte leicht.
»Wenn Manfred mit seiner Vermutung recht hat, braucht er keinen Anwalt, sondern die Polizei«, wiederholte ich, was ich Manfred vor ein paar Minuten schon gesagt hatte. »Seine Maschine wird ohnehin vom Luftfahrtbundesamt untersucht. Das Flugzeug ist ja bereits sichergestellt worden. Die Fachleute werden die Ursache für seine Notlandung herausfinden, und wenn es stimmt, was er vermutet, ist das sowieso Sache der Polizei. Außerdem haben wir Urlaub.«
Schweigend beobachteten wir, wie der gelbe Rettungshubschrauber am strahlend blauen Himmel immer kleiner wurde und schließlich ganz verschwand.
»Fachleute hin, Urlaub her«, sagte Anna, als es am Himmel außer ein paar Möwen nichts mehr zu sehen gab. »Ich denke, du wirst ihm helfen. Allein schon, weil er dich um Hilfe gebeten hat. Du kannst nicht aus deiner Haut heraus.«
»Manfred braucht mich nicht«, widersprach ich und schüttelte den Kopf. »Ich könnte ihm ohnehin nicht helfen. Es gibt keinen Grund, mich in die Untersuchungen einzumischen.«
Ich sollte mich gehörig täuschen.