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Das Leihfahrrad lag auf der Wiese und wartete geduldig auf mich. Während ich das Fahrradschloss öffnete, warf ich einen letzten Blick auf das Flugzeug, dessen gelbe Tragflächen das Sonnenlicht so stark reflektierten, dass ich die Augen zusammenkneifen musste.
Mensch Manfred , dachte ich kopfschüttelnd. Da kommt einiges auf dich zu. Diese Notlandung wird eine teure Zeche für dich.
Manfreds ausweichende Antwort auf meine eigentlich rhetorische Frage, ob er versichert sei, machte mir Sorgen. Unvorstellbar, dass ein Pilot ohne entsprechende Versicherung mit seiner Maschine herumkurvt und wie in Manfreds Fall zudem noch Sicherheitstrainings durchführt.
Wieso war er meiner Frage ausgewichen? Und was hatte es mit seiner Behauptung auf sich, dass das Problem mit dem Treibstoff, das zur Notlandung geführt hatte, auf Sabotage zurückzuführen sei?
Wer wollte Manfred umbringen?
Und wollte ihn überhaupt jemand umbringen? , ging es mir durch den Kopf. Und falls ja, zahlte dann überhaupt die Versicherung?
»Du brauchst wirklich einen Anwalt«, murmelte ich verdrossen. »Und der werde natürlich mal wieder ich sein.«
Während ich das Fahrrad gedankenverloren über die Wiese Richtung Deichtor schob, gingen mir Manfreds Worte durch den Kopf: »Leute wie Rita und du, die Flugangst haben, die einfach Angst davor haben, die Kontrolle abzugeben, aus dem aktiven in den passiven Part zu wechseln, und dabei das ›Abgeben‹ nicht verkraften.«
In dem Punkt hatte er recht.
Wie vorher ließ der Gedanke, in einem Flugzeug hoch oben über den Wolken die Verantwortung für mein Leben an einen mir vollkommen unbekannten Menschen abzugeben, meinen Puls schneller schlagen. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn, und um meinen Brustkorb schien sich ein Ring zu legen, der sich immer enger zog und mich am Atmen hinderte.
Herrgott! , dachte ich mit aufsteigender Panik. Was ist denn nur mit mir los?
Dass ich Flugangst hatte und allem misstraute, was fliegt und keine Federn hat, war ja kein Geheimnis. Aber dass ich so heftig allein auf die Vorstellung reagierte, in einem Flugzeug zu sitzen, war neu für mich. Schließlich war ich in der Vergangenheit doch geflogen!
Ich hatte natürlich immer etwas Schiss dabei gehabt, mich jedoch damit beruhigt, dass alles in Ordnung ist, solange die Stewardessen Tomatensaft ausschenken. Mir war die Klischeehaftigkeit durchaus klar, aber jedem, der öfter fliegt, ist sicher schon einmal aufgefallen, dass Tomatensaft bei den Passagieren unglaublich gefragt ist. Ich selber mache da keine Ausnahme. Wenn ich wirklich mal fliegen musste, war Tomatensaft für mich kurioserweise immer das Getränk der Wahl.
Ich liebe Klischees! Sie geben Sicherheit.
Und genau diese Sicherheit hatte ich gerade nicht – wohl daher überkam mich die Panikattacke ironischerweise nicht in einem Flugzeug hoch über den Wolken, sondern während ich ein Fahrrad über eine Blumenwiese am Juister Deich schob.
Ich blieb stehen und versuchte, ruhig und konzentriert zu atmen.
Bum, bum, bum, dröhnte mein Herzschlag. In meinen Ohren begann es zu rauschen. Einen Moment lang blieb ich mit geschlossenen Augen stehen. Meine Finger krallten sich um den Lenker.
Munter plaudernd spazierte eine holländische Familie dicht an mir vorbei.
Blinzelnd und langsam wie in Zeitlupe öffnete ich meine Augen.
Eine rundliche Frau war stehen geblieben und warf mir einen besorgten Blick zu. »Alles goed met je?«, fragte sie freundlich.
Ich lächelte ihr verkrampft zu. »Alles gut. Danke.«
Die Frau musterte mich aufmerksam, bis ihre kleine Tochter ihre Aufmerksamkeit forderte, indem sie nach ihrer Hand griff und die Mutter mit sich zog. Ein paar Meter weiter blieb die Frau nochmals kurz stehen und warf mir einen Blick über die Schulter zu, wie um sich zu überzeugen, dass ich nicht ohnmächtig ins Gras gesunken war.
Ich hob kurz die Hand und winkte ihr beruhigend zu.
Offenbar nahm mich die Geschichte mehr mit, als mir bewusst war. Wenn mir schon Passanten besorgte Blicke zuwarfen, sah ich bestimmt schlecht aus. Aber wenn ich ehrlich war, ging es mir auch wirklich nicht gut.
Langsam schob ich das Fahrrad mit einer Hand weiter und griff mir mit der anderen Hand an die Brust. Ich spürte, wie mir Schweißperlen auf die Stirn traten.
Am Rand des Kinderspielplatzes, der an der Kreuzung Bahnhofstraße und der An’t Diekskant lag, ließ ich mein Fahrrad dann genauso achtlos fallen wie der Dorfsheriff zuvor.
Engegefühl in der Brust. Herzrasen. Atemnot. Schweißausbrüche , fuhr es mir durch den Kopf, während ich mich neben dem Fahrrad nun doch ins Gras fallen ließ und die Augen schloss. Typische Herzinfarktsymptome.
Mit der rechten Hand tastete ich nach meiner Hosentasche, in der ich mein Handy aufbewahrte. Mit leicht zitternden Fingern zog ich das Gerät heraus. Das Gewicht des Handys in der Hand und die Möglichkeit, Hilfe rufen zu können, beruhigten mich. Wobei mir natürlich klar war, dass im Falle des Falles auch der schnellste Inseldoktor seine Zeit brauchen würde, bis er bei mir eintreffen würde. Aber das war im Moment egal, denn ich konnte mich ohnehin nicht dazu durchringen, ihn zu rufen. Vielleicht war es wirklich die Aufregung gewesen und ich brauchte nur einen Moment Ruhe.
Ich blieb liegen und konzentrierte mich darauf, gleichmäßig zu atmen. Nach und nach entspannte sich meine Atmung. Auch das Herzrasen ließ nach.
Langsam öffnete ich die Augen.
Über mir lachte der strahlend blaue Friesenhimmel. Nur ein paar Zirruswolken spannen ihre zarten weißen Fäden im Blau. Ich liebte diese schmalen Wolkenbänder mit ihren durch Höhenwinde zerfransten Rändern, die mir immer ein wohltuendes Gefühl von Ruhe und Frieden gaben.
Auch diesmal schienen sie ihre wohltuende Wirkung auf mich auszuüben. Heute nicht , dachte ich plötzlich erstaunlich ruhig. Der Tag ist viel zu schön, um mit einem dämlichen Herzinfarkt hinterm Juister Deich zu sterben.
Während sich mein Puls beruhigt hatte, war mir klar geworden, dass es weder ein nahender Herzinfarkt noch die Aufregung um Manfreds Tiefflüge gewesen waren, die mein Herz zum Rasen und mich außer Atem gebracht hatten; da hatte ich schon Schlimmeres erlebt. Es waren Manfreds Worte, die mir buchstäblich den Atem geraubt hatten: … nicht abgeben können … nicht verkraften können.
Ich hatte mich vor einigen Jahren sehr intensiv mit dem Thema »Kontrolle abgeben « beschäftigt, denn genau das war mein Problem gewesen.
Meine Unfähigkeit, Verantwortung und Arbeit an andere abzugeben und dabei gleichzeitig als Einzelkämpfer exzessiv dem eigenen Anspruch von Leistung und Perfektion hinterherzujagen, hatte mich seinerzeit in Ostfriesland stranden lassen.
Mein Burn-out erwischte mich ohne Vorankündigung hinterm Steuer auf dem Berliner Ring, als ein Lkw seine gesamte Ladung Altpapier quer über alle Fahrbahnen verteilte und ich stundenlang untätig bei strömendem Regen im Stau stehen musste.
Wie aus heiterem Himmel schnürte sich mir die Kehle zu und mein Herz begann zu rasen. Voller Panik sprang ich aus dem Wagen in die unwirtliche Nässe und musste die schmerzliche und leidvolle Erfahrung machen, wie es sich anfühlt, wenn einem die Kontrolle komplett entgleitet, als ich neben meinem Auto zusammenbrach.
Es hatte lange gedauert, bis ich neu gelernt hatte, die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen, Dinge um mich herum bewusst wahrzunehmen, zu entspannen und einfach mal nichts zu tun. Ich lernte zu genießen: mit einer Kanne Kaffee, ein paar Brötchen und der dicken Sonntagsausgabe der Zeitung den ganzen Tag im Bett zu faulenzen und am Abend mit einer Flasche Rotwein und ein paar selbst gedrehten Zigaretten unter Freunden stundenlang über Gott und die Welt zu quatschen, zu lachen und mit den Damen vom Nachbartisch zu flirten.
Mittlerweile konnte ich Kontrolle abgeben.
Trotzdem hätte ich schweißnasse Hände und Herzrasen bekommen, wenn ich in ein Flugzeug eingestiegen wäre – es gefiel mir nicht, mich in eine Maschine zu setzen und mein Leben einem gesichtslosen und mir unbekannten Menschen anzuvertrauen. Ich hätte mir gewünscht, dass der Pilot sich nicht nur über Bordlautsprecher vorstellte und die Passagiere mit Flugdaten versorgte, sondern persönlich vor den Menschen erschien, die ihm ihr Leben anvertrauten. Bei der Chefstewardess und ihrer Crew ging das ja auch.
Und ja, es machte mir Angst, keine Ahnung davon zu haben, ob der Pilot in der vergangenen Nacht gut oder schlecht geschlafen hatte, er guten, schlechten oder gar keinen Sex gehabt hatte oder ob er gerade von seiner Frau verlassen worden war.
Ich gehörte nun mal zu der Sorte Passagiere, die jede Bewegung der Stewardessen beobachten und die Routine an Bord als große Beruhigung empfinden. Solange die Stewardess lächelt, bin ich beruhigt. Womit wir wieder beim Tomatensaft wären, denn solange der ausgeschenkt wird, kann sogar ich den Blick aus dem Fenster auf die unter uns liegenden Wolken wagen.
Nachdem ich mein Leben neu ausgerichtet und gelernt hatte, auch einfach mal die Kontrolle abzugeben, hatte ich die beängstigenden Symptome vergessen – bis heute.
Manfreds Erklärung, wieso Rita Albrecht und ich gute Kandidaten für ein Pinch-Hitter-Sicherheitstraining seien, hatte mich getriggert und mit einem Schlag meine mir wohlbekannten Burn-out-Symptome von null auf hundert hochgefahren.
Ich hatte verstanden.
Die Warnung war deutlich gewesen. Ich würde Manfred helfen – aber nicht um jeden Preis!
Ich atmete noch ein paarmal tief durch, bevor ich mich auf die Seite drehte und mich auf den Ellbogen aufstützte. Mein Blick ging zum Hafen. Noch immer liefen Schaulustige neugierig umher. Sobald sie den gelben Flieger erspähten, machten sie sich auf den Weg zum Landeplatz. Dorfsheriff Hecht würde alle Hände voll zu tun haben, die Schaulustigen vom Flugzeug fernzuhalten. Es war ihm zu wünschen, dass die Experten vom Luftfahrtbundesamt nicht lange auf sich warten lassen würden.
Nachdenklich betrachtete ich den gelben Flieger.
Vielleicht war die Idee mit dem Pinch-Hitter-Sicherheitstraining gar nicht mal so abwegig.
Ich kann’s aber auch sein lassen! Vehement schüttelte ich den Kopf, während ich noch immer den Blick auf Bendix’ Flugzeug gerichtet hatte, das gerade von einer Schar Neuankömmlinge umlagert wurde, die Dorfsheriff Hecht mühsam auf Abstand hielt.
Bislang hatte ich ganz gut mit meiner Flugangst leben können. Zumindest, wenn ich mich am Boden befand. Und wenn Anna unbedingt eine Flugreise mit mir machen wollte, würde ich einfach zwei Schlaftabletten nehmen und den Flug samt Tomatensaft verpennen.
Ich erhob mich vom Boden und streckte meine Glieder. Dann stellte ich das Fahrrad auf und schwang mich auf den Sattel.
Gemächlich radelte ich den kleinen Weg zwischen Spielplatz und Nationalpark-Haus Juist entlang. Anna wartete sicher schon.